Illustrator Aubrey Beardsley

Skandalöse Visionen fürs viktorianische England

05:23 Minuten
Aubrey Beardsley: Geburtstag von Madame Sagalle.
Typisch für Beardsleys Frivolität: "Der Geburtstag von Frau Zikade" (1892). © imago images / Artokoloro
Von Friedbert Meurer · 02.03.2020
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Dämonen, androgyne Sagengestalten - als der visionäre Illustrator Aubrey Beardsley mit 25 starb, hinterließ er viele Bilder, die das viktorianische England stark herausforderten. Die Tate Britain ergründet Beardsleys Stil jetzt in einer Ausstellung.
Das Provokante an Aubrey Beardsley begann schon mit seinem Aussehen. Beardsley (1872-1898) war ein Dandy, er liebte elegante Kleider und putzte sich heraus. Mit 22 Jahren zeichnete er sich selbst mit Ponyfrisur, die damals von Frauen, aber nicht von Männern getragen wurde. Sein Jackett hat feminin wirkende Puffärmel. Die Selbstinszenierung hatte er gemein mit Oscar Wilde, für dessen Schauspiel "Salomé" er die Illustrationen zeichnete.
Porträt von Aubrey Beardsley.
Porträtfoto von Aubrey Beardsley.© Getty Images / Royal Photographic Society

Das Ineinanderüberfließen der Geschlechter

Wilde war homosexuell und Beardsley androgyn. Ausgerechnet in der als prüde verschrienen viktorianischen Gesellschaft dachten Künstler über Dinge nach wie das Ineinanderüberfließen der Geschlechter, erklärt Alice Insley, die Kuratorin der Tate Britain, wo bis 25. Mai eine Ausstellung über Beardsley und seine Einflüsse zu sehen ist.
Titelblatt von Oscar Wildes "Salomé", illustriert von Aubrey Beardsley
Titelblatt von Oscar Wildes "Salomé", illustriert von Aubrey Beardsley© imago / Migny/ Kharbine-Tapabor
"Beardsley war seiner Zeit darin voraus, wie er gleichgeschlechtlichen Sex und den Übergang zwischen den Geschlechtern darstellte. Damit spielte er. Da er selbst sein ganzes Leben sehr krank war, liegt es nahe, dass er sein Interesse an der Sexualität in seinen Zeichnungen auslebte, mehr als vielleicht in seinem wirklichen Leben."

Er wusste, er würde früh sterben

Beardsley war zeitlebens tuberkulosekrank und wusste, dass er früh sterben würde – er wurde nur 25. Unermüdlich arbeitete er an seinen Tinte-Zeichnungen für Magazine wie "The Yellow Book", "Das gelbe Buch". Mit einem akribischen Stil, den vielen Details und feinen Linien wurde Beardsley schon mit 20 berühmt und berüchtigt.
Illustration von Aubrey Beardsley.
Salomé mit dem Kopf Johannes' des Täufers© imago images / UIG
Mit seinen erotischen Zeichnungen trug er maßgeblich zum Erfolg von Oscar Wildes Schauspiel "Salomé" bei, er stellte Wilde sogar fast in den Schatten. Salomé hält den abgeschlagenen, blutigen Kopf Johannes des Täufers vor sich. Noch der tote Kopf bereitet ihr Lust. Beardsley zeichnet die Szene fast wie einen Geschlechtsakt.
Aber die viktorianische Gesellschaft schlug zurück: In den 90er-Jahren des 19. Jahrhunderts kippte die Stimmung. Avantgarde-Künstler wie Beardsley und Wilde hatten dem an seine Grenzen geratenen Empire den Spiegel vorgehalten. Dekadenz statt Triumph anzusehen, das wurde dem Establishment unerträglich.
"Nach dem Fall von Oscar Wilde hatte Beardsley große Probleme, noch Aufträge zu erhalten. Die Buchhändler wurden unruhig und trauten sich nicht mehr, seine Werke zu zeigen. Er bekam finanzielle Probleme. Es war nicht einfach."
Man verband Aubrey Beardsley jetzt zu sehr mit Oscar Wilde, der wegen seiner Homosexualität 1895 zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Aber der Ruhm von Beardsley wie Wilde überdauerte, meint Kuratorin Alice Insley. Freunde waren sie übrigens nicht.
Manchen Zeitgenossen gingen Aubrey Beardsleys explizite Zeichnungen zu weit
Manchen Zeitgenossen gingen Aubrey Beardsleys explizite Zeichnungen zu weit© imago / Sammlung Kharbine Tapabor
"Sie waren zu ehrgeizig und hatten eine überbordende Persönlichkeit. Sie wollten schockieren und damit berühmt werden. Sie hatten aber den gleichen Bekanntenkreis, und die Öffentlichkeit verband beide sehr miteinander. Wildes Untergang hatte für Beardsley eine große Bedeutung."

Es wimmelt vor Obszönitäten

Noch heute üben seine Zeichnungen eine Faszination aus – auch durch ihre immensen Details. Selbst aus den kleinsten Falten eines Vorhangs können jederzeit phantastische Gesichter hervorlugen. Den Zensoren entging dadurch so manche Frechheit. Aber fast unglaublich, was alles akzeptiert wurde, obwohl es nicht zu übersehen war: überdimensional aufgerichtete Penisse, masturbierende Frauen und Engel, eine Frau wird lustvoll ausgepeitscht. Es wimmelt vor Obszönitäten.
In den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts entdeckte ihn die psychedelische Kunstbewegung für sich. Die Beatles bildeten ihn auf ihrem "Sergeant-Pepper"-Cover ab und ließ seinen Stil auf der Plattenhülle von "Revolver" einfließen, um ihre Erfahrungen mit LSD anzudeuten.
Eine Briefmarke der Royal Mail zeigt das Cover des Beatles-Albums "Revolver".
Das Cover des Beatles-Albums "Revolver" ist sichtlich an Beardsleys Stil angelehnt.© picture alliance / dpa / Royal Mail

"Wenn ich nicht grotesk sein darf, bin ich nichts"

Man ertappt sich bei dem Gedanken, dass die #MeToo-Bewegung Aubrey Beardsley im Jahr 2020 seine ungebremsten erotischen Fantasien zum Vorwurf machen könnte. "Wenn ich nicht grotesk sein darf, bin ich nichts" – das war aber Beardsleys Überlebensmotto. Leider wurden hier auf der Insel schon Gemälde aus #MeToo-Gründen entfernt, wenn auch nur temporär. Und die National Gallery hatte einige Gemälde Paul Gauguins lieber nicht in ihre Ausstellung aufgenommen.
Glücklicherweise kommt der gute Beardsley ungeschoren davon.
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