Ikone der Nächstenliebe oder allzu strenge Sterbehelferin?

Von Ingeborg Rüthers · 28.08.2010
Am 26. August wäre Mutter Teresa 100 Jahre alt geworden. Die Ordensgründerin gilt auch fast 13 Jahre nach ihrem Tod noch vielen Menschen als Vorbild. Sie hat aber auch Kritiker. Schon zu Lebzeiten umgab die zierliche Frau ein Mythos.
"Es war nicht leicht, mit ihr zu sprechen, es war schwer, sie zu besuchen und es war unmöglich, sie zu enträtseln."

So Karl-Heinz Melters, der ehemalige missio-Fotograf, der mehrere Male die Ordensfrau hautnah erlebte. Die Frau, die die Welt als Mutter Teresa kannte, wurde am 26. August 1910 in der mazedonischen Stadt Skopje als das jüngste von drei Kindern geboren. Sie wurde als Agnes Gonxha getauft, was soviel bedeutet wie "Blütenknospe". Bis zu ihrem achten Lebensjahr hatte Agnes eine unbeschwerte Kindheit. Ihr Vater arbeitete als Kaufmann, er war lebhaft und politisch engagiert. Ihre Mutter war zwar streng, aber auch gütig und sehr fromm. Agnes und ihre Geschwister wurden sehr religiös erzogen.

Als der Vater starb, änderte sich für Agnes das Leben schlagartig. Die Familie musste auf einmal um ihre Existenz kämpfen. In dieser Zeit lernte Agnes, das Unglück zu überwinden. Dabei halfen ihr das Gebet, der Glaube und ihr Unternehmergeist. Diese Erfahrung prägte sie für den Rest ihres Lebens. Der Fotograf Karl-Heinz Melters hat Mutter Teresa auf vielen Reisen begleitet.

"Mutter Teresa selbst war mitten im Bürgerkrieg in Äthiopien in Addis Abeba ansässig. Sie sagte: 'Ihr müsst in den Süden gehen, dort sitzen zwei deutsche Schwestern, die müssen befreit werden.' Wir widersprachen und sagten: 'Es ist unmöglich, in dieser Kriegszeit da runter zu fahren in den Süden, das ist lebensgefährlich.' Sie sagte: 'Quatsch, Ihr fahrt da hin, ich bete doch für Euch.' Und wir fuhren los und es wurde ein Horrortrip. Wir kamen aber doch in den Süden und haben die Schwestern in den Wagen gepackt und sind zurück nach Addis Abeba.

Und als wir ankamen, und wir wollten gleich loslegen und erzählen, was wir erlebt hatten. Da legte Mutter Teresa nur den Finger an den Mund und bat uns zu schweigen und sagte: 'Ich weiß, das war sicher schlimm, aber ich hab doch für Euch gebetet.' Das war so typisch, wie unerschütterlich ihr Glaube war."

Schon früh wusste das albanische Mädchen, dass sie ein Leben als Ordensfrau führen wollte. Agnes interessierte sich für den irischen Orden der Schwestern von Loreto. Mit 19 Jahren wurde sie hier Novizin und bekam den Namen Teresa. Zwei Jahre später legte sie die Gelübde der Armut, der Ehelosigkeit und des Gehorsams ab. Zunächst arbeitete sie als Lehrerin und half im Krankenhaus. Dann wurde sie in der St. Mary School in Kalkutta tätig und leitete mehrere Jahre die Schule als Direktorin.

19 Jahre führte Schwester Teresa das abgeschiedene Leben einer Nonne. Ihr Leben war geprägt durch Ruhe, Disziplin, Arbeit und Gebet. Einmal jährlich ging sie in die Berge zum Beten. Am 10. September 1946 hatte sie auf solch einer Reise ein Schlüsselerlebnis: Sie spürte eine göttliche Berufung, sich um die Ärmsten von Kalkutta zu kümmern. Nach zwei Jahren war es dann soweit – ihre Arbeit in den Slums von Kalkutta begann. Die Schar ihrer Helfer wuchs beständig. Oft arbeiteten die 'Missionarinnen der Nächstenliebe' – so nannten sie sich – bis zu 21 Stunden am Tag. Die Leistungen der Schwestern beeindruckten auch die Kirche.

Am 7. Oktober 1950 wurden sie vom Papst als Ordensgemeinschaft anerkannt. Zwei Jahre nach der Errichtung des Mutterhauses kannte fast jeder in Kalkutta die Schwestern in ihren blauweißen Gewändern, den sogenannten Saris. Nicht nur in Indien wurde Mutter Teresa zunehmend bewundert.

Karl-Heinz Melzer: "Es gab kaum eine Person auf der Welt, die von so unterschiedlichen Menschen, wie Lady Di, Gorbatschow, Niki Lauda oder Richard von Weizsäcker und vielen mehr bewundert wurde. Sie war eine Person, die ein Unternehmen, das mit einem großen Konzern vergleichbar ist, nur mit einem Telefon und ohne Faxgerät geleitet hat.

Ihren Mitschwestern hat Mutter Teresa dabei aber äußerste Härte entgegengebracht. Das ist das Wunder, dass der Orden trotz dieser Härte und Strenge eigentlich absolut keine Nachwuchssorgen hat."

Als Mutter Teresa im September 1997 starb, betreuten ihre "Missionarinnen der Nächstenliebe" insgesamt 592 Niederlassungen auf fünf Kontinenten, darunter Sterbehäuser, Schulen, Krankenhäuser. Seit ihrem Tod ist die Ordensgemeinschaft auf 5000 Schwestern angewachsen – und die Berufungen werden nicht weniger.

Auch wenn viele sie verehrten – einige übten harte Kritik an ihr. So wurde sie auch als "Todesengel von Kalkutta" bezeichnet, weil sie ihre Patienten angeblich nicht sachgemäß behandelte. Die Patienten im Sterbehaus hätten teilweise auf primitiven Feldbetten in großer Zahl auf engstem Raum vegetieren müssen und auch die Nahrungsversorgung sei nicht immer im nötigen Umfang gewährleistet gewesen.
Klaus Fleischer: "Wenn man die Kriterien von heute anlegt, würde dieser Vorwurf richtig sein. Natürlich hat man damals nicht das gemacht, was man heute bei einem Schwerstkranken oder Sterbenden macht, indem man ihm Infusionen gibt. Man hat den Menschen Kleidung oder Sauberkeit geboten. Das Wort 'Todesengel von Kalkutta' ist bitter und nicht gerechtfertigt, denn sie war gütig und hat den Menschen noch einmal gezeigt, dass sie beim Sterben nicht völlig allein gelassen werden."

So Professor Klaus Fleischer, ehemaliger Leiter der tropenmedizinischen Abteilung des missionsärztlichen Instituts in Würzburg. Auf seinen Reisen hat er mehrmals Gruppen von Mutter Teresa kennengelernt und erlebt, dass viele junge Frauen sich ihr anschlossen. Von ihnen verlangte sie harte Unterordnung und einfache Lebensweise. Mutter Teresa galt als streng, stur und bisweilen auch cholerisch.

Klaus Fleischer: "So wurde es mir berichtet, hier kann ich auch nicht aus eigener Anschauung berichten. Aber sie war wohl nicht bereit, sich irgendwo weiterzuentwickeln, denn in den relativen langen Jahren wären ja Weiterentwicklungen gerade im Pflegebereich, in der Versorgung der Kranken möglich gewesen. Das hat sie offensichtlich nicht akzeptiert."

Aber Mutter Teresa hatte wohl ein unbeschreibliches Charisma, das alle anderen beeindruckte und einen festen Glauben, den sie an ihre Schwestern vererbt hat. Einen Satz zitiert Karl-Heinz Melters besonders gern:

"Ich bin nur ein Bleistift in Gottes Hand, mehr nicht."
Das Gebet, die Liebe zu den Menschen standen im Mittelpunkt ihres Lebens. Sie blieb stets bei dieser ganz simplen Basiszuwendung. Sie wollte Menschen in ihrem letzten Lebensabschnitt ein Stück Würde verleihen. Mit ihrer Lebenseinstellung hat sie Pionierarbeit geleistet.

In den 70er Jahren strömten Tausende von Menschen in die Stadt Kalkutta. Die Menschen hatten dort keinerlei Wasserversorgung, es gab keinerlei Kanalisation. In den kleinen, aus Wellblech, Brettern oder Pappe gebauten Hütten waren bis zu zwölf Personen zusammengepfercht. Die Kranken, die keine Angehörigen hatten, wurden hinausgedrängt und lagen in Pfützen oder an Gehsteigen.

Klaus Fleischer: "Dort ging Mutter Teresa hin und hat die Menschen aufgeklaubt wie Fallobst und hat sie in ihre barackenartigen Unterkünfte gebracht. Es war damals noch eine große Hemmung von vielen, in der Regel ja hindugläubigen Menschen, in christliche Einrichtungen zu gehen. Sie hat zur Überschreitung dieser Schwelle ganz entscheidend ohne Ansehen von irgendeiner Glaubensrichtung die Brücke geschlagen."

Schließlich wurde Mutter Teresa von den Medien entdeckt. Eine fast lawinenartige Berichterstattung setzte ein. So bekam sie rasch finanzielle Unterstützung. Mutter Teresa wird vielfach vorgeworfen, sie habe die vielen Spenden nicht seriös und sachgerecht abgerechnet.

"Sie haben an den ihnen anvertrauten Kranken nicht mit Infusionen oder Medikamenten gespart, da wurden die Gelder sicher korrekt verwendet. Ihr aus der ungenügenden Managementerfahrung, die sie von ihrer eigenen Herkunft aus Albanien nie lernen konnte, einen Vorwurf der Missverwendung zu machen, das halte ich nicht für gerechtfertigt."

Auch der missio-Fotograf Karl-Heinz Melters ist davon überzeugt, dass Mutter Teresa sich in den Dienst der Sache gestellt und nie für sich Geld und Spenden gesammelt hat, sondern diese ganz unbürokratisch weiter gegeben hat:

"Sie hat ein Leben vorgelebt, das schwer nachvollziehbar ist. Ich habe ihre Bescheidenheit, Großherzigkeit und Einfachheit sehr bewundert."

Auch heute noch ist sie für viele Menschen der "Engel der Armen". Rund 300.000 Gläubige aus aller Welt versammelten sich am 19. Oktober 2003 auf dem Petersplatz. Nur sechs Jahre nach ihrem Tod wurde Mutter Teresa seliggesprochen – der kürzeste Seligsprechungsprozess der Neuzeit. In der Predigt bezeichnete Papst Johannes Paul II sie als "Ikone des guten Samariters" und eine "Botschafterin des Evangeliums".

Mutter Teresa liegt in der Kapelle des Mutterhauses in Kalkutta begraben. Die Grabstätte ist schlicht. Von den Wänden bröckelt der Putz, die Fensterläden wurden schon lange nicht mehr gestrichen. Ein bescheidener letzter Ruheort für die Frau, die viele Inder als "Königin von Indien" verehren.

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Das Hilfswerk missio zeigt in den kommenden Wochen in mehreren Städten, darunter Worms, Halle und Osnabrück, eine Ausstellung mit Fotos von Karl-Heinz Melters und Gebetstexten von Mutter Teresa. Weitere Informationen auf der missio-Homepage.
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