Igor Strawinsky und Robert Craft in Berlin

Musik eines Jahrhunderts

Zuhause in der Welt: Igor Strawinsky (Mitte) 1964 in Berlin, rechts neben ihm der damalige Regierende Bürgermeister Willy Brandt
Zuhause in der Welt: Igor Strawinsky (Mitte) 1964 in Berlin, rechts neben ihm der damalige Regierende Bürgermeister Willy Brandt © imago images / United Archives International
Moderation: Olaf Wilhelmer · 05.04.2021
Igor Strawinsky war einer der bedeutendsten und vielseitigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Doch auch 50 Jahre nach seinem Tod sind Teile seines Werks noch wenig bekannt. Zwei historische Konzerte zeigen die ganze Bandbreite seines Schaffens.
Drei Stunden Strawinsky am Stück: Dass in dieser Sonderausgabe unserer "Konzert"-Sendung keine Monotonie droht, liegt einzig und allein am Komponisten selbst. Seine klassizistisch-nüchterne Haltung führt dazu, dass man den Komponisten hervorragend mit sich selbst konfrontieren kann.
Schließlich musste sich Igor Strawinsky zeitlebens selbst mit der eigenen Historisierung auseinandersetzen. Andernfalls hätte er nach der Uraufführung des "Sacre du printemps" 1913 – gewiss einer der tiefsten Einschnitte in der Geschichte der modernen Musik – das Komponieren aufgeben müssen. Tatsächlich standen ihm noch fünf kreative Jahrzehnte bevor.

Titan im Titania-Palast

In dieser Sendung werden zwei historische Konzertmitschnitte des Radio-Symphonie-Orchesters Berlin zusammengeführt. Das Orchester – heute als Deutsches Symphonie-Orchester Berlin bekannt – wurde 1956 vom Komponisten persönlich dirigiert. In diesem Konzert im Titania-Palast stand der Sinfoniker Strawinsky im Mittelpunkt.
Porträt-Bleistiftzeichnung, die einen jüngeren Mann mit Brillengläsern, markanten Lippen und Oberlippenbart zeigt.
Igor Strawinsky, 1917 gezeichnet von Pablo Picasso. Die beiden Künstler waren fast exakte Zeitgenossen und hatten auch sonst viele Gemeinsamkeiten.© imago images / ZUMA Wire
1969, auf den Tag genau 13 Jahre nach diesem Konzert, überließ Strawinsky seinem Assistenten, wichtigen Ratgeber und Biografen Robert Craft das Feld. Dieser dirigierte das RSO Berlin in der inzwischen eröffneten Berliner Philharmonie mit einem Programm, das Vokal- und Ballettmusik Strawinskys kombinierte und in eine fulminante Rarität mündete. Beide Konzerte fanden im Rahmen der Berliner Festwochen statt.
In seinen späten Jahren, in der Zeit um 1960, war Strawinsky als Dirigent besonders aktiv und bereiste als Interpret in eigener Sache viele Länder. Diese "eigene Sache" bedeutete für ihn allerdings, es möglichst gar nicht zu einer "Interpretation" kommen zu lassen. Dieser Begriff ging ihm eindeutig zu weit – zu interpretieren gebe es in seiner Musik nichts, so sein Credo. Es genüge, die Partituren gründlich zu lesen und genau auszuführen.

Musizieren ohne Zutaten

Im Geiste dieser radikalen Haltung spielte Strawinsky vor allem in den USA und Kanada große Teile seines eigenen Werks zu demonstrativen Zwecken auf Schallplatten ein und hinterließ zudem zahlreiche Konzertmitschnitte. Auch ein Dokument wie dieses belegt seine Intention, die Musik möglichst nüchtern für sich selbst sprechen zu lassen. Strawinsky exemplifizierte dies an Werken der 1940er Jahre, darunter seine das Kriegsende hintersinnig kommentierende Sinfonie in drei Sätzen.
Hätte Robert Craft als Dirigent einen anderen Ansatz verfolgt, wäre er wohl nicht der Vertraute des Meisters gewesen.
Ein Mann und eine Frau sitzen in einer Gondel. Sie trägt einen schwarzen Hut und hält ein Taschentuch gegen ihre Wange.
Ewige Treue: Der Dirigent Robert Craft setzte sich ein Leben lang für das Werk seines Mentors ein. Auf diesem Bild nimmt er mit Strawinskys Witwe Vera an der spektakulären Beisetzung des Komponisten 1971 in Venedig teil.© imago images / ZUMA / Keystone
Auch er nahm gegenüber den Partituren eine gleichsam positivistische Haltung ein, ohne darüber das lebendige Musizieren zu vergessen.

Vertrauter des Komponisten

Crafts bunt bestücktes Berliner Konzert bezeugt das auf brillante Weise. Zunächst werden drei sehr unterschiedliche Spielarten von Strawinskys Klassizismus dargestellt, in denen sich der Komponist mit den "Kollegen" Pergolesi, Gesualdo und Hugo Wolf auseinandersetzt.
Einer kurzen, für den späten Strawinsky typischen Trauermusik für Dylan Thomas folgt das frühe Meisterwerk "Les noces" – jene komplex besetzte, zwischen Oper, Ballett, Kantate und Konzert virtuos pendelnde Feier des Lebens. Craft stellt seiner Aufführung dieser stilisierten russischen Bauernhochzeit zwei Fragmente voran, in denen Strawinsky das Brautpaar mit ungarischen Hackbrettern und mechanischen Klavieren hochleben ließ.
Historische Aufnahmen
Titania-Palast Berlin
Aufzeichnung vom 02.10.1956
Igor Strawinsky
Sinfonie in C
"Scènes de Ballet" für Orchester
"Ode", Elegischer Gesang in drei Teilen für Orchester
Sinfonie in drei Sätzen

Radio-Symphonie-Orchester Berlin
Leitung: Igor Strawinsky

Philharmonie Berlin
Aufzeichnung vom 02.10.1969
Igor Strawinsky
"Pulcinella", Suite für Kammerorchester aus der Musik zum gleichnamigen Ballett
"Monumentum pro Gesualdo di Venosa ad CD annum" für Orchester
Zwei geistliche Lieder aus dem "Spanischen Liederbuch" von Hugo Wolf, bearbeitet für Mezzosopran und Kammerorchester
"In memoriam Dylan Thomas" für Tenor und Ensemble
"Les Noces", russische choreographische Szenen in vier Bildern für Soli, Chor und Ensemble (Aufführungsversion inklusive Fragmenten und Frühfassungen)

Catherine Gayer, Sopran
Kerstin Meyer, Mezzosopran
Helmut Krebs, Tenor
Anton Diakov, Bass
Derek Bell und John Leach, Zimbeln
Lothar Broddack, Horst Göbel, Rolf Kuhnert und Felix Schröder, Klaviere
RIAS Kammerchor Berlin
Radio-Symphonie-Orchester Berlin
Leitung: Robert Craft

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