ifo-Präsident Clemens Fuest

"Die Botschaft, die soziale Schere geht auseinander, ist schlicht falsch"

Clemens Fuest, Präsident des Ifo-Instituts, kommt am 31.01.2017 als Gast zu einer Kabinettssitzung in die Staatskanzlei in München.
Clemens Fuest, Präsident des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung © picture alliance / dpa / Matthias Balk
Clemens Fuest im Gespräch mit Gerhard Schröder · 23.12.2017
Ifo-Chef Clemens Fuest beklagt "eine völlig verzerrte Wahrnehmung" der sozialen Verhältnisse in Deutschland. Bei einem Blick auf die Ursachen prekärer Verhältnisse und deren Einfluss auf Folge-Generationen räumt Fuest allerdings ein: "Da brauchen wir Veränderungen."
Die deutsche Wirtschaft läuft auf Hochtouren, die Beschäftigung wächst, und ein Ende des Aufschwungs ist nicht in Sicht. Aber nicht alle profitieren gleichermaßen von der guten Entwicklung. Jeder fünfte Beschäftigte arbeitet im Niedriglohnsektor, 15 Prozent der Menschen in Deutschland sind armutsgefährdet. Der Wohlstand in Deutschland sei so ungleich verteilt wie vor 100 Jahren, hat der französische Starökonom Thomas Piketty berechnet.
Ifo-Präsident Clemens Fuest aber widerspricht. Er hält diesen Vergleich für "groben Unfug", räumt aber ein: "Armut vererbt sich. Die Schulen, die wir heute haben, sind nicht gut darin, Kinder aus bildungsfernen Milieus erfolgreich werden zu lassen. Da brauchen wir Veränderungen".

Clemens Fuest, 1968 in Münster geboren, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Seine Forschwungsschwerpunkte sind Finanz- und Steuerpolitik sowie Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Seit 2016 leitet der das ifo-Institut für Wirtschaftsforschung in München.


Das Gespräch im Wortlaut:
Deutschlandfunk Kultur: Herzlich willkommen. Die deutsche Konjunktur brummt. Das hat Clemens Fuest vor wenigen Tagen gesagt. Er ist der Präsident des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. Die Münchener Wirtschaftsforscher haben die Wachstumsprognosen für das kommende Jahr kräftig angehoben – von 2,0 auf 2,6 Prozent.
Rosige Aussichten eigentlich, wäre da nicht die Frage: Wer eigentlich profitiert vom Aufschwung? Der Wohlstand in Deutschland ist so ungleich verteilt wie vor einhundert Jahren. Das hat ein Forscherteam um den französischen Star-Ökonomen Thomas Piketty ermittelt.
Wird die Kluft zwischen Arm und Reich also immer größer? Und wie gefährlich ist das eigentlich und was kann man dagegen tun? Darüber wollen wir reden mit dem Wirtschaftsforscher Clemens Fuest. Guten Tag, Herr Fuest.
Clemens Fuest: Schönen guten Tag, Herr Schröder.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Fuest, die deutsche Wirtschaft also wächst schon seit acht Jahren. Und alle fragen sich, wann eigentlich geht der Aufschwung auch mal zu Ende. – Ist ein Ende in Sicht?
Clemens Fuest: Derzeit ist kein Ende in Sicht. Aus Erfahrung wissen wir, dass dieser Aufschwung nicht ewig dauern wird. Er ist schon recht lang, wenn wir ihn mit früheren Aufschwüngen vergleichen. Trotzdem haben wir derzeit den Eindruck, dass der Aufschwung sich eher noch verstärkt, also Wachstumsraten jenseits der zwei Prozent sind doch die Ausnahme für Deutschland – vor allem, wenn wir uns die letzten 15 Jahre etwa anschauen. Wir haben keine konkreten Anzeichen, dass der Aufschwung aufhört, sondern wir rechnen eigentlich damit, dass er sich 2018 nochmal intensiviert.
Natürlich weiß man nie, ob es nicht Überraschungen geben kann, mit denen heute niemand rechnet, zum Beispiel eine Konjunkturabkühlung in China oder ein Konflikt in Nordkorea. Wenn so etwas passiert, dann sind solche Prognosen natürlich hinfällig. Prognosen sind ja nicht mehr als Szenarien. Propheten sind Ökonomen nicht. Die Zukunft können wir also auch nicht voraussehen.

Richtig ist, wenn Löhne kräftig steigen

Deutschlandfunk Kultur: Sie haben es gesagt, die Konjunktur ist eigentlich – so kennen wir das aus der Vergangenheit, auch aus der wirtschaftstheoretischen Lehre – ein Auf und Ab von Rezession und Aufschwung. Sind diese Grundregeln derzeit außer Kraft gesetzt?
Clemens Fuest: Das könnte man meinen, wenn man den langen Aufschwung sieht, aber ähnlich hat man schon mal gedacht vor 2008. Also, so etwa zwischen 2000 und 2008 sprach man vor allem in Großbritannien und den USA von der Great Moderation, das heißt, eben einer erstaunlichen Konstanz in der Wirtschaftsentwicklung. Manche haben damals schon gesagt, die Konjunkturschwankungen wären ein Thema der Vergangenheit. Die sind dann böse überrascht worden von der Krise 2008.
Man muss also damit rechnen, dass es auch in Zukunft auf und ab geht.
Deutschlandfunk Kultur: Was macht denn die deutsche Wirtschaft so stark? Ist das die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen oder doch eher die Anschubhilfe der Europäischen Zentralbank, die die Zinsen so niedrig hält?
Clemens Fuest: Es sind verschiedene Faktoren. In der letzten Jahren war der Aufschwung in Deutschland sehr stark getrieben durch die Binnennachfrage. Wir haben eine sehr positive Beschäftigungsentwicklung. Derzeit steigt die Zahl der Beschäftigten in Deutschland jedes Jahr um etwa 500.000. Das stützt natürlich den Konsum. Das stützt die Konjunktur. Wir haben eine sehr starke Bauwirtschaft. Die hat natürlich zu tun mit der EZB-Politik, die für Deutschland allein viel zu expansiv ist. Sie ist ja auch nicht nur für Deutschland gemacht, sondern eben für die Eurozone. Aber für Deutschland ist sie sehr expansiv. Die Zinsen sind nahe bei Null. Baukredite sind billig. Das treibt bei uns die Bautätigkeit und natürlich auch die Immobilienpreise.
Hinzu gekommen ist jetzt ein starker Export. Die Eurozone erholt sich. Die Weltwirtschaft erholt sich. Das nützt dann den deutschen exportierenden Firmen. Deshalb hat dieser Aufschwung jetzt zwei Standbeine, eben die Binnenkonjunktur und die Exporte. Das erklärt auch, warum er so stark ist.
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben die Binnenkonjunktur angesprochen. – Drücken Sie da der IG Metall jetzt heimlich auch die Daumen in der laufenden Tarifverhandlungsrunde, wo sie sechs Prozent mehr Lohn fordert?
Clemens Fuest: Tarifverhandlungen haben ja damit zu tun, wie Gewinne zwischen Unternehmen und den Beschäftigten verteilt werden. Das müssen die Tarifparteien unter sich ausmachen.
Ich denke, als Ökonom kann man sagen, dass es richtig ist, wenn Löhne dort kräftig steigen, wo Arbeitskräfte knapp sind. Und wir haben ja gerade im Bereich etwa der gut ausgebildeten Arbeitnehmer im IT-Bereich, aber auch bei Facharbeitern hier und da doch eine Knappheit von Arbeitskräften. Da ist es völlig richtig, dass die Löhne steigen.
Dort, wo wir keine Knappheit haben, sollten die Löhne weniger steigen. Denn wir wollen ja auch die Arbeitslosigkeit abbauen. Insofern geht es eigentlich weder darum, besonders hohe noch besonders niedrige Lohnabschlüsse zu erzielen, sondern es geht darum, die Lohnentwicklung so zu gestalten, dass die positive Beschäftigungsentwicklung eben weitergeht.

Viele wollen Teilzeit arbeiten

Deutschlandfunk Kultur: Aber da ist ein kräftiger Schluck aus der Lohn-Pulle zumindest in den Industriebranchen derzeit möglich?
Clemens Fuest: Wir rechnen, dass es auf jeden Fall zu erheblichen Lohnsteigerungen kommt. Die liegen in diesem Jahr wohl im Durchschnitt so zwischen 2,5 und 3,0 und werden im nächsten Jahr voraussichtlich höher liegen.
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben das kräftige Wachstum der Beschäftigung angesprochen. In den vergangenen 15 Jahren oder 12, 13 Jahren haben wir fast eine Halbierung der Arbeitslosigkeit erlebt, etwas, was damals schier unmöglich schien.
Jetzt sagen Kritiker, na ja, der Zuwachs ist vor allem bei Teilzeitjobs, bei Mini-Jobs, bei geringfügiger Beschäftigung. In der Summe ist das Arbeitsvolumen kaum gestiegen. – Haben diese Kritiker Recht?
Clemens Fuest: Nein. Das ist klar falsch. Auch in der Summe ist das Arbeitsvolumen selbstverständlich gestiegen. Wir haben auch eine sehr, sehr große Zahl an voll sozialversicherungspflichtigen Vollzeitarbeitsstellen bekommen.
Es ist richtig, dass auch die Teilzeitarbeit zugenommen hat, aber das wollen wir ja. Das wollen nicht nur die Unternehmen. Das wollen auch die Arbeitnehmer. Es gibt viele Menschen, die sagen, ich möchte eben nicht Vollzeit arbeiten, sondern Teilzeit. Gerade die IG Metall versucht ja derzeit, einen Anspruch auf Teilzeit durchzusetzen, also Verkürzung der Arbeitszeit auf 28 Stunden. Das zeigt ja, dass offenbar auch von Arbeitnehmerseite Teilzeit positiv angesehen wird.

Kluge Tarifverträge - mehr Flexibilität für alle Beteiligten

Deutschlandfunk Kultur: Unterstützen Sie das? Ist das der richtige Weg?
Clemens Fuest: Selbstverständlich ist das der richtige Weg. Der kann allerdings nicht so gehen, dass das Ganze gesetzlich befohlen wird. Also, man kann schlecht, das möchte ja die IG Metall, den Unternehmen befehlen, ihr müsst die Arbeitnehmer auf Teilzeit gehen lassen, wenn sie es denn gerade wünschen, ihnen aber jederzeit dann auch wieder eine Vollzeitstelle geben, wenn sie es wünschen. Es muss da eine Einigkeit geben zwischen den Unternehmen und den Beschäftigten. Und die gibt’s ja auch oft. Viele Unternehmen reden mit den Beschäftigten, möchten ja auch beispielsweise Familie und Beruf vereinbar machen. Sonst ist es ja sehr schwer, Fachkräfte zu gewinnen. Unternehmen wollen attraktiv sein.
Was aus meiner Sicht nicht geht, ist, dass man einseitig sagt, die Beschäftigten sagen, ach, dieses Jahr möchte ich gern auf halbtags gehen, nächstes Jahr möchte ich wieder Vollzeit arbeiten. – Und die Unternehmen müssen das dann einfach hinnehmen. So geht’s nicht.
Ich denke, wir haben da Riesenfortschritte in Deutschland erzielt. Auch die Tarifpartner haben das eben ermöglicht und haben aus meiner Sicht sehr kluge Tarifverträge gemacht, die dann einfach mehr Flexibilität für alle Beteiligten ermöglichen.
Deutschlandfunk Kultur: Der Aufschwung steht auf einem soliden Fundament. So habe ich Sie verstanden. Trotz dieser sehr guten Aussichten ist ja doch erstaunlich, dass die Unternehmen insgesamt nur relativ wenig investieren – in neue Fabriken, in neue Anlagen. Wie ist das zu erklären?
Clemens Fuest: Die Unternehmen investieren schon derzeit, weil sie an Kapazitätsgrenzen stoßen. Allerdings muss man sehen, dass viele Unternehmen überlegen: Wo sind eigentlich die Märkte der Zukunft? Und die Märkte der Zukunft sind vor allem in Asien. Die sind in Lateinamerika, dort, wo die Bevölkerung wächst, und nicht in Deutschland. Denn wir haben hier ja trotz der Zuwanderung eher eine alternde und schrumpfende Bevölkerung. Dann ist klar, dass man eben hier doch etwas verhaltener investiert und sich etwas stärker im Ausland engagiert. Die deutschen Unternehmen investieren sehr stark, aber sie investieren eben stark im Ausland.
Hinzu kommt, dass wir in bestimmten Branchen Rahmenbedingungen haben, die einfach nicht stimmen. Wir haben sehr, sehr hohe Energiepreise in Deutschland durch eine völlig verfehlte Energiewende. Deshalb wandern Unternehmen zum Beispiel in die USA ab. Wir haben im Energiesektor hohe Unsicherheit. Deshalb möchte da niemand investieren. Derzeit möchte niemand Kraftwerke in Deutschland bauen, weil man einfach nicht weiß, ob die Politik vielleicht demnächst eine ähnlich erratische Wende nimmt, wie es beim Atomausstieg der Fall war, diese Unberechenbarkeit verursacht. Das sind Teile des Unterinvestitionsproblems, das wir in Deutschland haben.
Deutschlandfunk Kultur: Wenn aber hierzulande die nötige Modernisierung ausbleibt, heißt das, wir müssen uns hier auf magerere Zeiten schon bald einstellen?
Clemens Fuest: So negativ würde ich es nicht sehen. Es wird ja durchaus investiert. Die gesamte Investitionsquote, also öffentliche und private Investitionen zusammen, ist heute ungefähr so hoch wie im Jahr 2001. In den 90er Jahren war sie höher, weil wir Sonderinvestitionsbedarf hatten in Ostdeutschland. Dass das etwas runter gegangen ist, ist völlig normal und richtig. Da gab es einfach einen Aufholprozess.
Es ist also nicht so, dass bei uns die Investitionen wirklich verfallen. Teilweise wird ja so getan. Das ist weit überzogen. Aber in bestimmten Bereichen muss schon mehr investiert werden. Das müssen wir auch beachten, etwa an bestimmten Stellen unserer Infrastruktur – nicht flächendeckend, aber dort, wo es eben etwa bei den Straßen immer wieder Staus gibt – muss schon investiert werden. Aber wie gesagt, investieren werden die Unternehmen dort, wo sie gute Rahmenbedingungen vorfinden und wo die Märkte der Zukunft sind. Die sind eben nur teilweise in Deutschland.
Deutschlandfunk Kultur: Auch der Staat hat ja derzeit reichlich Geld. Die Steuereinnahmen steigen. Jetzt ist die Frage: Was macht der Staat mit dem Geld?
Marcel Fratzscher, der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, sagt: "Wir leben unter unseren Verhältnissen." – Soll heißen, der Staat investiert zu wenig. Sie haben das angesprochen. Straßen, Brücken, Schienennetze sind marode. Es wird zu wenig investiert in das Breitband zum Beispiel, auch in Schulen und Kitas fehlt es an Personal. – Also, verschlafen wir unsere Zukunft?
Clemens Fuest: Ich denke, das ist differenziert zu sehen. Die Staatsausgaben sind sehr stark gestiegen in den letzten Jahren.

Invest-Projekte müssten vorbereitet werden

Deutschlandfunk Kultur: Auch an den richtigen Stellen?
Clemens Fuest: Ja, mir wäre schon lieb gewesen, wenn man etwas mehr an Investitionen gedacht hätte, da würde ich Herrn Fratzscher auch zustimmen, und etwas weniger an konsumtive Ausgaben. Wir haben eben sehr, sehr viel Geld ausgegeben für Dinge wie die Rente mit 63. Trotzdem ist es so, dass wir auch in der Infrastruktur höhere Ausgaben haben. Das Ganze ist auch nicht ein Mangel an Geld derzeit, Geld ist eigentlich genug da, sondern wir haben Probleme bei der Planung von Infrastrukturvorhaben und auch schlicht und einfach bei der Kapazität. Die Bauwirtschaft ist voll ausgelastet. Wenn man jetzt die staatlichen Investitionen erhöht, treibt man im Grunde die Preise in die Höhe, aber mehr bauen kann man gar nicht.
Klüger wäre es in der aktuellen Lage, Investitionsprojekte vorzubereiten, sehr gezielt, nicht flächendeckend, nicht mit der Gießkanne, sondern da, wo Investitionen wirklich benötigt werden. Die muss man jetzt vorbereiten, damit wir im nächsten Abschwung dann, wenn höhere Staatsausgaben sinnvoll sind, um die Konjunktur zu stabilisieren, diese Investitionsprojekte durchzuführen. Das wäre aus meiner Sicht eine kluge Politik. Jetzt flächendeckend die Staatsausgaben zu erhöhen, auch investiv, wäre völlig falsch. Wir sind ja in einem Boom. Und das Ganze geht auch gar nicht, weil wir gar nicht die Kapazitäten haben.
Deutschlandfunk Kultur: Die Arbeitslosigkeit sinkt seit Jahren. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird trotzdem größer. Wie ist das zu erklären? Ist das ein Widerspruch?
Clemens Fuest: Ja, in Deutschland wird immer wieder behauptet, die Kluft zwischen Arm und Reich würde größer. Wir haben es da leider mit einer selektiven Wahrnehmung zu tun. So einfach ist die Geschichte nicht.
Sie haben am Anfang die Botschaft angesprochen, die kürzlich veröffentlich wurde, die Ungleichheit wäre heute in Deutschland so groß wie 1913.
Deutschlandfunk Kultur: Stimmt das nicht?
Clemens Fuest: Nein, das ist grober Unfug. Ich kann Ihnen auch sagen warum. Das bezieht sich auf den Anteil der reichsten zehn Prozent am Bruttoeinkommen. Das heißt, der Anteil der reichsten zehn Prozent am Bruttoeinkommen war 1913 so hoch wie 2013. Wenn man diese Zahl betrachtet, vergisst man aber, dass wir 1913 quasi keine Einkommensbesteuerung hatten. Es gab damals in Preußen schon eine kleine Einkommenssteuer, aber die Sätze lagen so etwa bei vier Prozent.
Heute haben wir Grenzsteuersätze zwischen 45 und 50 Prozent. Und wir reden ja hier über die Bruttoeinkommen. Das heißt, diese beiden Zahlen zu vergleichen führt die Öffentlichkeit in die Irre.
Es gibt noch eine Zahl, die in diesem Bericht steht. Schauen wir mal auf die Top-Ein-Prozent, die reichsten ein Prozent. Die hatten 2013 einen Anteil von 18 Prozent. Heute liegt dieser Anteil bei 13 Prozent. Das heißt, wenn man diesen Indikator angeschaut hätte, dann hätte man auch sagen können, die Ungleichheit ist heute 38 Prozent niedriger als vor einem Jahrhundert. Ich erwähne das nur, weil das, glaube ich, zeigt, wie manipulativ hier einzelne Daten ausgewählt werden und wie die Öffentlichkeit im Grunde in die Irre geführt wird.
Damit will ich nicht sagen, dass Ungleichheit kein Problem ist. Selbstverständlich ist es ein Problem. Wir haben eine Entwicklung – nicht nur in Deutschland, in der hoch qualifizierte Arbeit zunehmend nachgefragt ist und niedriger qualifizierte Arbeit weniger nachgefragt ist. Das treibt die Einkommen auseinander. Das beschäftigt auch Deutschland.
Trotzdem ist gerade Deutschland ein Land, wenn wir es jetzt international vergleichen, in dem es gelungen ist, diese Trends doch sehr stark zu moderieren.
Im Jahr 2005, also vor mehr als zehn Jahren, war der Anteil der unteren vierzig Prozent in Deutschland am Einkommen, am verfügbaren Einkommen, darum geht es ja, genauso hoch wie heute. Der Anteil der oberen zehn Prozent war ebenfalls genauso hoch wie heute.
Deutschlandfunk Kultur: Ich darf Ihnen vielleicht eine andere Zahl nennen. Danach ist von 1995 bis 2015 das reale Einkommen der unteren vierzig Prozent auf der Einkommensskala gesunken, das der oberen Hälfte stark gestiegen.
Clemens Fuest: Richtig ist, dass zwischen 1995 und 2005 die Ungleichheit zugenommen hat. Bei diesen unteren vierzig Prozent müssen wir außerdem sehen: Die, die 1995 die unteren vierzig Prozent sind, sind ganz andere als die, die es 2015 sind. Wir müssen ja sehen, dass wir allein in den letzten fünf Jahren etwa zwei Millionen Menschen an Netto-Zuwanderung hatten. Das sind Zuwanderer, die sind in der Regel niedrig qualifiziert und haben keine hohen Einkommen. Das erklärt, warum bei den unteren vierzig Prozent, das ist wahr, das Realeinkommen tatsächlich nicht so zugenommen hat.
Aber das war eine Phase vor allem zwischen 1995 und 2005. Und zwischen 2005 und heute hat sich am Anteil der unteren vierzig Prozent nichts getan. Das heißt, die waren genauso beteiligt am Wirtschaftswachstum wie die oberen zehn Prozent. Und selbstverständlich sind auch deren Realeinkommen gestiegen.
Ich will damit nicht sagen, dass Ungleichheit, ein geringes Lohnwachstum in den unteren Bereichen ein Problem wäre. Aber zu behaupten, gerade Deutschland wäre ein Land, in dem die Ungleichheit ein besonderes Problem sei, ist einfach nicht gedeckt von den Zahlen. Die einfache Botschaft, die Schere geht auseinander, ist schlicht falsch, übrigens auch global.
Global geht die Schere zusammen. Das schreibt auch Piketty in seinem Bericht. Der Anteil der unteren fünfzig Prozent am globalen Einkommen hat über die letzten Jahrzehnte zugenommen. Das hat zu tun mit dem Aufstieg Chinas, mit dem Aufstieg von Ländern wie Indien und anderen.

Ungleichheiten hat es immer gegeben und wird es geben

Deutschlandfunk Kultur: Aber Piketty schreibt auch, dass in eigentlich allen relevanten Regionen der Welt seit 1980 die Ungleichheit gewachsen ist – vor allem in den USA, in China, in Indien, in Russland.
Clemens Fuest: Wenn wir jetzt die Ebene der einzelnen Länder nehmen, dann ist das richtig. Gerade in den USA ist dieser Trend sehr stark, in China ebenfalls. Ich sage nur: Das ist ein differenziertes Bild. Die globale Ungleichheit hat abgenommen.
Richtig ist, dass global gesehen die Top-Ein-Prozent diejenigen sind, die den stärksten Einkommenszuwachs hatten. Das ist auch richtig. Aber auch im unteren Einkommensbereich hat es erhebliche Steigerungen gegeben. Also, das Bild ist nicht schwarz-weiß, sondern es ist grau. Nochmal: Ich habe nicht gesagt, es gibt da kein Problem, aber wir haben in Deutschland eine völlig verzerrte Wahrnehmung. Auch die Medien lieben die Nachricht, die Schere geht auseinander, und es kümmert sie nicht, dass dies schlicht falsch ist. Das ist ein echtes Problem.
Deutschlandfunk Kultur: Woran liegt es denn, dass die Wahrnehmung so ist, dass es ungleicher zugeht hier in dem Land, gefüttert natürlich auch von Fakten, etwa das jeder Fünfte im Niedriglohnsektor arbeitet, dass mehr als 15 Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet sind, dass – wenn man vierzig Jahre mit Mindestlohn arbeitet – man im Alter auf Sozialhilfeniveau liegt? Das sind ja auch Fakten, die das stützen. Ist das alles Einbildung?
Clemens Fuest: Das ist nicht Einbildung. Es gibt Ungleichheiten in unserer Gesellschaft. Die hat es immer gegeben und die wird es auch in Zukunft geben. Es gibt auch Trends, Bereiche, in denen sich das verschärft.
Ich habe es gerade gesagt: Wenn wir Löhne von niedrig qualifizierter und hoch qualifizierter Arbeit uns anschauen, weil die Nachfrage nach hoch qualifizierter zunimmt, läuft das auseinander.
Nochmal: Die Botschaft ist aber nicht nur negativ. Wir haben Bereiche, in denen die Schere zusammenläuft, so dass aus meiner Sicht der größte Erfolg ist, wenn wir die Welt betrachten wie ein Land und uns fragen, wie entwickelt sich global die Ungleichheit, dann ist völlig klar, seit drei Jahrzehnten geht sie zurück. Das ist doch ein Riesenerfolg.
Deutschland hat die niedrigste Ungleichheit der verfügbaren Einkommen unter den G7-Staaten. Das sind ja vergleichbare Länder – Frankreich, Italien usw. Wir können uns natürlich auch mit Schweden vergleichen und stellen fest: In Schweden ist die Einkommensungleich niedriger als in Deutschland. Und dann müssen wir uns fragen: Ist das eigentlich ein sinnvoller Vergleich? Darüber kann man diskutieren.
Mir geht’s nur darum: Diese einseitige Botschaft ist eben von den Fakten schlicht nicht gedeckt. Sie wird natürlich auch aus politischen Interessen immer wieder in den Vordergrund gespielt, aber sie stimmt einfach nicht.
Deutschlandfunk Kultur: Wir haben bislang auf die Einkommen geschaut. Wie sieht das aus, wenn wir auf die Vermögen schauen? Da zeigt ein Blick in den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, die unteren fünfzig Prozent besitzen weniger als fünf Prozent des Vermögens, die oberen zehn Prozent mehr als ein Drittel. – Ist das gerecht?
Clemens Fuest: Die Vermögensungleichheit in Deutschland ist relativ hoch. Sie ändert sich aber nicht. Was in diesen Statistiken nicht berücksichtigt wird, und das ist ja wichtig, ist, dass das Vermögen der meisten Menschen darin besteht, dass sie Rentenansprüche erwerben. Dafür braucht man ja auch vor allem Vermögen, für die Alterssicherung.
Wenn wir uns die Renten anschauen in Deutschland, dann muss man sagen, dass dort die Armutsgefährdung niedriger ist als in allen anderen Bevölkerungsgruppen. Das muss für die Zukunft nicht so bleiben, weil wir ja wissen, durch den demografischen Wandel werden die Renten langsamer steigen. Insofern ist die Frage, wie ist eigentlich die Vermögensverteilung, wer hat für die Zukunft vorgesorgt, wichtig.
Deutschlandfunk Kultur: Und da sehen wir die, die wenig Geld haben, sorgen wenig vor. Das heißt, dort wird das Problem der Altersarmut gravierender.
Clemens Fuest: Das hängt davon ab, wie die Politik sich darauf einstellt. Vorsorge ist sehr wichtig. Und wir müssen uns in der Tat fragen: Ist die Art von Förderung der Vorsorge, die wir betrieben haben, optimal? Aus meiner Sicht müsste man stärker verpflichten zur Vorsorge. Und man muss eigentlich diejenigen weniger bei der Vorsorge fördern, die ohnehin genug Rente haben. Also, dass man sich da stärker auf die niedrigen Einkommen konzentrieren würde, würde ich für sehr sinnvoll halten.
Deutschlandfunk Kultur: Soziologen sagen uns, dass sich Armut verfestigt. Armut wird vererbt. Wer in Armut aufwächst, hat geringere Chancen in Schule und Beruf, wird später weniger im Job verdienen und wird dann im Alter auch eine geringe Rente bekommen. Er wird kein Vermögen aufgebaut haben. – Ist diese Analyse zutreffend, dass die Ungleichheiten sich verfestigen?
Clemens Fuest: Es ist mit Sicherheit zutreffend, dass Armut sich vererbt. Das Elternhaus spielt eine Riesenrolle für die Einkommensentwicklung, für die Berufschancen über den Lebenszyklus. Das steht völlig außer Frage.
Und wenn wir uns die Entwicklung in Deutschland anschauen, dann ist es so, dass in den 50er und 60er Jahren, auch in den 70er Jahren noch, ganz massiv in die Ausweitung des Bildungssystems investiert wurde. Es kommen also viel mehr Menschen heute an die Universität oder werden zum Abitur geführt. Das ist auch gut so. Es gibt aber immer einen Teil der Bevölkerung, der das nicht erreicht. Die Anzahl derjenigen, die gut und sehr gut ausgebildet werden in Deutschland, hat zugenommen. Deutschland ist auch ein Land, das durch die duale Berufsausbildung auch Menschen gute Chancen bietet, die jetzt nicht zur Universität gehen oder vielleicht ein Abitur haben. Man kann ganz hervorragend, wenn man eine Lehre macht, auch sich beruflich entwickeln. Insofern ist Deutschland ein Land, das viel mehr Chancen bietet als andere Länder.
Gleichzeitig ist Deutschland übrigens ein Land, in dem das Schulsystem doch zulässt, dass das Elternhaus einen erheblichen Einfluss hat. Das ist aus meiner Sicht ein Bereich, in dem wir auch Reformen brauchen.

Den Grundschulen müssten wir mehr Autonomie zubilligen

Deutschlandfunk Kultur: Welche?
Clemens Fuest: Die Schulen, die wir heute haben, sind nicht gut darin, Kinder aus bildungsfernen Milieus doch durch die Schule zu führen und sie erfolgreich werden zu lassen. Da brauchen wir Veränderungen.
Das ist allerdings nicht allein damit getan, dass man jetzt mehr Geld in die Hand nimmt. Ich denke, wir müssen uns wirklich fragen: Wie verwenden wir eigentlich unser Geld im Bildungssystem? Ich meine, mehr Geld zu verlangen ist immer leicht. Aus meiner Sicht ist es zum Beispiel ein großer Fehler, dass wir keine Studiengebühren erheben, aber Kindergartengebühren erheben. Ich finde, Kindergartengebühren richtig. Die sind ja einkommensabhängig. Aber ich denke, wir sollten auch Studiengebühren erheben und mehr Geld in den Kindergärten und in den Grundschulen investieren.
Im Grunde findet die soziale Segregation statt im Kindergarten und in der Grundschule. Grundlagen, die dort nicht gelegt werden, sind später kaum noch aufzuholen. Wir müssen uns also Gedanken darüber machen, wie funktionieren unsere Grundschulen. Und ich denke, wir müssen da in die Richtung gehen, den Grundschulen mehr Autonomie zuzubilligen, aber ihnen auch klare Ziele zu setzen. Also, derzeit wird da sehr stark hinein regiert.
Deutschlandfunk Kultur: Armut wird vererbt, haben Sie gesagt. Wohlstand wird vererbt. Jedes Jahr werden Milliardenbeträge an die nächste Generation weitergegeben. – Was spricht eigentlich dagegen, diese Vermögen stärker zu besteuern und dadurch einen sozialen Ausgleich herzustellen?
Clemens Fuest: Da gibt es unterschiedliche Wege. Man könnte eine Vermögenssteuer einführen, eine Netto-Vermögenssteuer. Da muss also jedermann erklären, was er für Vermögen hat. Und dann wird eine Steuer darauf erhoben. Solche Steuern sind in fast allen Ländern auf der Welt abgeschafft worden. Das hat damit zu tun, dass es Substanzsteuern sind. Das heißt, man muss sie zahlen, egal, ob man jetzt Einkommen hat oder nicht aus dem Vermögen. – Und es gibt Ausweichreaktionen.
Das führt zu einer Kapitalflucht. Die Leute investieren woanders. Da kann man progressiv zugreifen. Vermögenssteuern sind selbstschädigend, weil das Vermögen eben wegläuft.
Wir müssen ja sehen, die großen Vermögen in Deutschland sind im Wesentlichen Betriebsvermögen. Wenn man die stärker besteuert, dann wandern die Betriebe ab. Das kann nicht unser Interesse sein.
Deutschlandfunk Kultur: Das Problem ist: Die, die abhängig beschäftigt sind, die können nicht einfach ins Ausland gehen. Die können ihre Einkünfte nicht vor dem Fiskus verstecken. Wohlhabende sind da, wie jetzt die jüngste Veröffentlichung der Paradise Papers zeigt, sehr fantasievoll. – Lässt der Staat da einfach zu viele Schlupflöcher? Oder wie ist das zu erklären?
Clemens Fuest: Man muss unterscheiden zwischen illegaler Steuerhinterziehung – also, es gibt Menschen, die haben ein Konto, ich sage mal, in der Schweiz, und erklären das hier nicht beim Fiskus. Das ist illegale Steuerhinterziehung. Das wird bestraft. Und dann gibt’s legale Steuervermeidung. Bei den Paradise Papers ging es um legale Steuervermeidung in erster Linie. Das ist überhaupt nicht in Ordnung. Nicht alles, was legal ist, ist auch erwünscht.
Aber man muss sich die Frage stellen: Warum schaffen viele Staaten Steuerschlupflöcher?
Das hat einfach damit zu tun, dass es viele Staaten gibt, die ein Interesse daran haben, Steuerschlupflöcher zu kreieren. Denn damit fördern sie den heimischen Bankensektor. Und damit ziehen sie Unternehmen in ihr eigenes Land.
Wir haben es also bei dieser internationalen Steuervermeidung sehr stark zu tun mit einer Auseinandersetzung unter Staaten.
Die Antwort darauf lautet eigentlich, dass die Staaten sich zusammensetzen müssen und mal besprechen müssen, ob man nicht auch kooperativ handeln kann und man vielleicht die gröbsten Steuerschlupflöcher abschaffen kann. Zum Beispiel die EU könnte da einiges tun. Das passiert aber nicht. Und das passiert deshalb nicht, weil einzelne Länder davon eben sehr gut leben.
Deutschlandfunk Kultur: Was empfehlen Sie denn jetzt? Noch haben wir keine neue Bundesregierung. Es wird Sondierungsgespräche geben für die kommenden vier Jahre. Gibt es da aus Ihrer Sicht die Notwendigkeit etwas zu tun, damit die soziale Balance hergestellt wird? Oder sagen Sie, das ist alles prima, das können wir so laufen lassen?
Clemens Fuest: Die Frage, ob man jetzt in den mittleren oder den unteren Einkommensbereichen Bürger entlastet, ist wirklich eine politische Frage. Da kann man jetzt schlecht als Wissenschaftler sich hinstellen und sagen, die soziale Balance stimmt oder sie stimmt nicht. Das ist eine Frage der politischen Bewertung.
Ich würde zwei Dinge empfehlen, und zwar erstens, die Wettbewerbsfähigkeit stärken in Deutschland und Arbeitsplätze schützen, zweitens mittlere bis niedrige Einkommen steuerlich entlasten.
Warum mittlere bis niedrige Einkommen steuerlich entlasten? Weniger wegen der sozialen Balance, sondern weil wir in den unteren Einkommensbereichen durch die Kombination aus Sozialversicherungsbeiträgen, Einkommenssteuer und auslaufenden Transfers oder Vergünstigungen, zum Beispiel niedrigere Kindergartengebühren für geringe kommen, durch die Kombination dieser Dinge haben wir eine hohe Belastung von Einkommen in diesen unteren Bereichen, hohe Grenzbelastung. Wenn Sie da hundert Euro mehr verdienen, bleibt Ihnen wenig übrig.
Dort könnten wir den sogenannten Mittelstandsbauch im Einkommenssteuerrecht abflachen, also die Einkommenssteuersätze dort weniger schnell ansteigen lassen. Das würde dort die Arbeitsanreize verbessern. Da hätten wir also einen Effizienzgewinn. Und wir hätten auch eine Entlastung der Mittelschicht, die viele unter verteilungspolitischen Aspekten gut finden.
Das ist aber nicht das Einzige, was wir tun sollten. Wir sollten auch etwas für Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätze in Deutschland tun, und zwar in Form einer Unternehmenssteuerreform, weil die Bedingungen sich um uns herum ändern. Wir sollten aber nicht nur mit dem Steuersatz runter gehen auf zum Beispiel 25 Prozent, sondern wir sollten das Ganze nutzen, um unser Steuersystem auch zu vereinfachen.
Wir haben in Deutschland eine Besonderheit, die Gewerbesteuer. Die gibt’s in der Form sonst auf der Welt nicht. Die wird erst mit viel Aufwand erhoben. Dann wird sie teilweise wieder zurück erstattet. Dieses System ist wirklich Unfug. Wir sollten also diese Reform nutzen, um die Steuerlast zu senken, um das Steuersystem wettbewerbsfähiger zu machen und zu vereinfachen.

Deutsche Regulierung verhindert neue Geschäftsmodelle

Deutschlandfunk Kultur: Schauen wir in die Zukunft. Mit der Digitalisierung steht ein neuer Strukturwandel bevor. Jetzt gibt es viele, die sagen: Da wird sich die Ungleichheit nochmal verschärfen. Die, die digitale Fachkräfte sind, die haben gute Chancen. Die werden hohe Einkommen erzielen können. Die, die weniger qualifiziert sind, die fallen zurück. Das werden die Abgehängten der Zukunft sein. – Was ist da zu tun?
Clemens Fuest: Aus meiner Sicht muss man das Risiko in der Tat ernst nehmen. Vielleicht ist es nicht ganz so negativ. Digitalisierung eröffnet auch Chancen für Leute, die weniger gut ausgebildet sind. Nehmen wir mal das Beispiel Uber. Wenn Sie den Führerschein haben, können Sie für Uber arbeiten und ein paar Stunden am Tag Taxi fahren, auch wenn Sie sonst vielleicht einen ganz anderen Job haben. Das eröffnet Einkommenserzielungschancen für Leute, die keine so hohen Einkommen haben. Viele in den USA nutzen das.
Wir machen in Deutschland den Fehler, solche Geschäftsmodelle zu verbieten oder sehr stark zu regulieren, so dass sie sich nicht entwickeln.
Was ich sagen will, ist: Digitalisierung eröffnet neue Chancen für ganz unterschiedliche Gruppen. Ich würde es also nicht pauschal negativ sehen und würde sagen, da kommen jetzt nur Probleme auf uns zu. Trotzdem muss man das Ganze ernst nehmen. Ich denke auch: Wer künftig nicht so ausgebildet ist, dass er mit digitalen Techniken umgehen kann, hat ein Problem.
Deutschlandfunk Kultur: Das Beispiel Uber zeigt auch, dass hier der Sozialstaat an seine Grenzen stoßen könnte. Bislang sozialversicherungspflichtige Tätigkeiten werden quasi durch freie Tätigkeiten ersetzt. – Ist das eine Gefahr?
Clemens Fuest: Sicherlich ist es eine Herausforderung für unser Sozialsystem, das wir ja bislang ansetzen am Normalarbeitsverhältnis. Und wen die Digitalisierung so funktioniert, dass wir künftig viel mehr Selbständige haben, dann stellt sich die Frage: Wie funktioniert dann eigentlich die soziale Absicherung?
Jetzt muss man sehen, es ist durchaus möglich, Geschäftsmodelle wie Uber auch zu regulieren. Es wäre im Prinzip sogar möglich zu sagen, wir erwarten da Sozialversicherungsbeiträge. Der Vorteil an der Digitalisierung ist ja, dass die Daten im Prinzip zur Verfügung stehen. Also, der Staat kann im Prinzip genau beobachten, wenn er diese Unternehmen zwingt, die Daten herauszugeben, wer ist dann für Uber gefahren. Es ist also nicht ausgeschlossen, da auch Sozialversicherungsbeiträge zu verlangen.
Deutschlandfunk Kultur: Und das wäre wünschenswert?
Clemens Fuest: Ja. Man muss sich genau anschauen, wie man das Ganze umsetzt, aber das ist durchaus möglich. Auf jeden Fall müssen wir uns darauf einstellen, dass die sozialen Sicherungssysteme reagieren müssen auf diese neue Arbeitswelt der Gig Economy, wie man es nennt, also der selbständigen Jobs, die viel flexibler sind als bisherige Arbeitsverhältnisse.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Fuest, ich danke Ihnen vielmals für das Gespräch.
Fuest: Ich danke Ihnen.
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