Ideologie statt Klarheit

Von Michael Miersch |
Hamburg hat sich zur gentechnikfreien Zone erklärt. Die Bürgerschaft folgte damit einem gemeinsamen Antrag der Grünen und der CDU.
Natürlich werden weiterhin auch in Hamburg die Kranken mit gentechnisch hergestellten Medikamenten behandelt, werden die Diabetiker sich gentechnisch erzeugtes Insulin spritzen. Werden auch in den Hamburger Supermärkten etwa 60 Prozent der Lebensmittel gentechnisch erzeugte Komponenten enthalten.

Die Hamburger Kaufleute und alle anderen bezahlen weiterhin mit Euroscheinen aus gentechnisch veränderter Baumwolle. Die Frauen benutzen Tampons aus solcher Baumwolle und die meisten Hamburger tragen wohl auch Unterwäsche, die kaum gentechnikfrei sein kann, weil die Hälfte der weltweit erzeugten Baumwolle nun mal von gentechnisch verbesserten Sorten stammt – und niemand sich die Mühe macht, die Ernte extra für Hamburg zu sortieren.

Der Beschluss der Hamburger Bürgerschaft ist eine rein symbolische Geste ohne Folgen. Grüne und Konservative versuchen damit, aus diffusen Ängsten in der Bevölkerung politisches Kapital zu schlagen. Opportunismus statt Aufklärung.

Wesentlich handfester ist da ein Vorstoß von Matthias Horst, dem Chef der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie. Der plädiert dafür, dass die Lebensmittelhersteller alle Produkte kennzeichnen, die Gentechnik enthalten. Das ist nämlich im Moment nicht der Fall. Es muss nur deklariert werden, wenn ein Lebensmittel ganz direkt aus einer Gentechnik-Pflanze besteht, in der Regel sind es Soja, Raps oder Mais.

Gekennzeichnet wird nicht, wenn die Tiere, von denen Milch, Eier oder Fleisch stammen, mit Gentechnik-Futter ernährt wurden. Das wurden sie aber in der Regel. Die deutschen Mastbetriebe sind abhängig vom Sojafutter aus Brasilien und USA, das größtenteils aus Gentechik-Sorten besteht. Ebenso fällt es nicht unter die Kennzeichnungspflicht, wenn Vitamine, Zusatzstoffe wie Zitronensäure oder Prozessstoffe wie Enzyme und Aminosäuren gentechnisch erzeugt werden. Würde das alles berücksichtigt, müsste die Mehrheit der Lebensmittel den Gentechnik-Stempel tragen.

Und genau deshalb sind viele Gentechnik-Gegner gegen eine ehrliche Kennzeichnung und ziehen die jetzige Lösung vor, die nur einen Bruchteil der Lebensmittel erfasst. So kommen die Deutschen nicht in Versuchung, solche Speisen eventuell gut zu finden. Gentechnik bleibt ein Gespenst.

Bisher unterstützen auch die Hersteller diesen Kurs, weil sie Angst haben, dass verunsicherte Verbraucher ihre Produkte ablehnen. So verfestigte sich über Jahre die Illusion, Deutschland sei eine gentechnikfreie Insel, während der Rest der Welt die Vorteile dieser Technologie immer stärker nutzt. Besonders die Schwellenländer Indien, China und Brasilien haben sich von der europäischen Forschung – die einmal führend war – unabhängig gemacht und entwickeln neue Pflanzensorten, die den speziellen Bedürfnissen ihrer Landwirte angepasst sind.

Die meisten Landwirte auf der Welt interessiert es nicht im Geringsten, ob Hamburg sich zur gentechnikfreien Zone erklärt, ob Ilse Aigner eine optimierte Maissorte verbietet oder ob deutsche Universitäten wie Gießen oder Nürtingen aus Angst vor Anschlägen die Forschung aufgeben. Sie bauen einfach die Pflanzen an, deren Vorteile sie überzeugen. Zum Beispiel in Niedersachsen entwickelte Zuckerrüben, die in Amerika ein Riesenerfolg sind, aber hierzulande nicht auf den Acker dürfen.

Eine Kennzeichnung unter Einbeziehung aller Komponenten wäre ehrlich und transparent. Und sie würde den deutschen Verbrauchern zeigen, wo Gentechnik überall genutzt wird. Dies würde allerdings das deutsche Wolkenkuckucksheim mit der Realität konfrontieren. Es ist absurd, dass man sich Gentechnik-Medikamente ins Blut spritzen lässt, aber gleichzeitig glaubt, Gentechnik-Popcorn sei des Teufels. Medizin-Gentechnik wird akzeptiert, die Agrar-Gentechnik dämonisiert. Wie sagte einmal ein kluger Mensch? Das liegt daran, dass die Deutschen öfter krank sind als sie Hunger haben.


Michael Miersch, geboren 1956 in Frankfurt am Main, volontierte bei der „taz“ und war Redakteur der Umweltmagazine „Chancen“ und „natur“. Seit 1993 arbeitet er als freier Publizist. Er verfasst Sachbücher, Drehbücher für Dokumentarfilme und Artikel für Zeitungen und Zeitschriften. Miersch schreibt in jüngster Zeit vornehmlich für „Die Welt“ und arbeitet außerdem für „Die Weltwoche“, den WDR und arte. Gemeinsam mit Dirk Maxeiner schrieb Miersch u. a. die Bücher „Das Mephisto-Prinzip“ (2001) und „Die Zukunft und ihre Feinde“ (2002), die in den deutschsprachigen Medien heftig diskutiert wurden. Weitere Veröffentlichungen: „Öko-Optimismus“ (Wissenschaftsbuch des Jahres 1996), „Lexikon der Öko-Irrtümer“ (1998) und „Life Counts – Eine globale Bilanz des Lebens“ (Wissenschaftsbuch des Jahres 2000). Mierschs Bücher und Artikel wurden in viele Sprachen übersetzt und erhielten Auszeichnungen in den USA und Deutschland.