Identitätsprobleme

"Der Grieche fühlt sich nicht als Europäer"

Moderation: Matthias Hanselmann · 03.01.2014
Ein Grieche, der nach München reist, sagt: "Ich fahre nach Europa." Klarer könnten seine Mitbürger ihre Distanz zur europäischen Idee nicht ausdrücken, meint der griechische Schriftsteller Nikos Dimou. Die Griechen wüssten bis heute nicht, wo in der Welt sie stehen.
Matthias Hanselmann: Heute ist der dritte Tag, an dem Griechenland quasi Chef im europäischen Haus ist. Ein halbes Jahr lang hat das Land der Hellenen die EU-Ratspräsidentschaft inne und somit auch nominell die Führerschaft gegenüber Deutschland. Eine doch recht pikante Konstellation, wenn man sich die Geschichte der Schuldenkrise ansieht und die Ressentiments gegenüber den faulen Griechen und den übermächtigen Deutschen auf der anderen Seite – so jedenfalls das Klischee.
Der Schriftsteller Nikos Dimou hat schon 1975 mit seinem Aphorismenband "Über das Unglück, ein Grieche zu sein" festgestellt, dass der Grieche "alles tue, was er kann, um die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu vergrößern". Ich habe mit Nikos Dimou gesprochen und ihn zunächst gefragt, ob er glaubt, dass die Sache mit der Ratspräsidentschaft gut gehen wird.
Nikos Dimou: Ich hoffe, ja. Ich meine, ich habe in der deutschen Presse so Berichte gelesen, zum Beispiel, dass durch die griechische Präsidentschaft Chaos und Instabilität das Land und Europa weiter lahmlegen wird. Das finde ich übertrieben. Erstens, weil die EU-Ratspräsidentschaft mehr oder weniger jetzt eine formale Sache ist. Sie ist nicht so wichtig, wie sie früher war. Seit 2009, seit Europa einen eigenen Präsidenten hat, Herr von Rompuy.
Ich glaube, das ist etwas mehr Bürokratisches, einige Komitees, einige Diskussionen. Ich finde nicht, wie das ganz Europa lahmlegen könnte. Ich finde, die Probleme, die sind sehr schwierig und heikel. Wenn man denkt zum Beispiel an eine Tatsache, die nicht auf der Agenda steht, aber für mich die wichtigste ist, dass Europa nicht mehr bei den Europäern beliebt ist. Dass nur 31 Prozent der Europäer an Europa glaubt, an die Idee von Europa. Das, finde ich, ist sehr wichtig. Und die Tatsache, dass es so starke europafeindliche oder skeptizistische Bewegungen gibt überall in Europa, das finde ich sehr, sehr wichtig. Und das hat mit Griechenland gar nichts zu tun.
Hanselmann: Dennoch. Unser in Griechenland nicht gerade beliebter Finanzminister Wolfgang Schäuble, der sieht in der griechischen Ratspräsidentschaft eine große Chance für Griechenland und für Europa. Sie werde der griechischen Bevölkerung zeigen, dass ihre Zukunft in Europa ist. Sind die Griechen denn überhaupt jemals in Europa angekommen? Kann sich die Mehrheit überhaupt mit Europa identifizieren?
"Keine Renaissance, keine Reformation, keine Aufklärung"
Dimou: Das ist ein großes Problem, und das hat sehr tiefe Wurzeln. Sie haben recht, Griechenland hat nicht eine gemeinsame Geschichte mit Westeuropa. Sie hat diese ganzen Bewegungen, die Europa irgendwie geformt haben, nicht erlebt. Keine Renaissance, keine Reformation, keine Aufklärung, keinen Aufstieg der bourgeoisen Klasse. All das war uns unbekannt. Wir sind irgendwie von einem feudalen Zustand in die Moderne katapultiert worden binnen einiger Jahrzehnte. Kulturell ist Griechenland noch zwischen dem Mittelalter und der Moderne, zwischen dem Norden und dem Süden. Oder, wenn Sie wollen, dem Westen und dem Osten. Es ist eine Zwischensituation.
Hanselmann: Das klingt, als gäbe es ein generelles Misstrauen vieler Griechen gegenüber allem, was aus dem Westen kommt. Ist das historisch begründet?
Dimou: Das ist wahr. Und das ist sehr alt, und das hat sehr viel damit zu tun, dass vor tausend Jahren die griechisch-orthodoxe Kirche und die katholische Kirche, die damals die einzige war, sich entzweit haben. Das war das sogenannte Schisma, und seit dem Moment hat die orthodoxe Kirche, die eine sehr starke Macht in Griechenland ist und einen sehr großen Einfluss ausübte, immer, für tausend Jahre, antiwestliche Propaganda gemacht. Der Westen war irgendwie der Teufel. Und das wurde dann von vielen populistischen Politikern ausgenutzt, und das wurde auch durch die Linke, denn für die griechische Linke jeder Art war der Westen der Imperialismus, der Kapitalismus, und zuletzt von unseren neuen Naziverehrern – die sind ja auch gegen den Westen, denn die sind Ultranationalisten, und die glauben, dass Griechenland ein auserwähltes Volk ist und hat keinen Grund, mit den Europäern zusammen zu sein.
Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das Radiofeuilleton, ich spreche mit Nikos Dimou. Er ist griechischer Schriftsteller und Philosoph, sein Aphorismenband "Über das Unglück, ein Grieche zu sein" aus dem Jahr 1975 ist vor einem Jahr auch auf Deutsch erschienen. Herr Dimou, Sie haben das Buch noch unter dem Papadopoulos-Regime geschrieben, also unter völlig anderen Voraussetzungen, als wir sie heute haben. Haben denn Aussagen aus diesem Buch heute noch Gültigkeit?
Dimou: Mich treffen Leute auf der Straße, und sie sagen: Sehen Sie, Herr Dimou! Ich haben eben Ihr letztes Buch gelesen. Und ich sage, welches? Und sie sagen "Über das Unglück". Das Buch ist so aktuell, dass die Leute einfach nicht sehen, dass das Buch vor 40 Jahren geschrieben worden ist. Warum? Weil das Problem, das im Buch erörtert wird, ist das Problem der griechischen Identität. Und das bleibt immer noch da.
Hanselmann: Das heißt?
Winkelmann hat den Griechen zum Idealtyp des Menschen erklärt
Dimou: Das heißt, dass der Grieche sich nicht als Europäer fühlt. Das ist auch interessant, dass wir sehr oft von Europa sprechen, als ob es ein anderer Kontinent wäre. Zum Beispiel sagt man: Nikos Dimou hat in Europa studiert, und meint, dass ich in München studiert habe. Und Ich reise nach Europa oder Ich komme von Europa, was ein Franzose nie sagen würde, wenn er nach Deutschland fährt. So – wir fühlen uns noch nicht als Europäer, aber wir haben auch keine andere klare Identität. Ja, wir sind ja nicht Byzantiner, wir sind nicht Orientale. Wir gehören nirgendwo dazu.
Und dieses Problem hat als Resultat, dass wir uns unsicher fühlen und manchmal unsere Aggressivität kommt aus unserer Unsicherheit. Und natürlich wir haben eine sehr, sehr schwierige Sache mit unseren Erben. Denn die Deutschen haben uns erklärt, vor ein paar hundert Jahren, dass wir die Nachkommen des Idealtyps vom Menschen sind. Winkelmann und seine Theorie des vollkommenen Menschen, das war der alte Grieche. Und auf einmal wurde die ganze romantische Bewegung in Europa pro-griechisch, und das hat uns sehr geholfen während unseres Kriegs mit den Türken während der Revolution. Die Hilfe Europas hat uns damals wirklich befreit. Es war 1828, und Griechenland wurde dadurch frei. Aber das hat uns auch ein Problem gegeben, denn wie ich in meinem neuen Buch schreibe – der Titel ist "Die Deutschen sind an allem schuld" –, diese deutsche altgriechische Ideologie hat uns ein Ego gegeben, das viel zu groß war für unser Land. Und wir haben eigentlich nur die letzten 30 oder 40 Jahre einen normalen Staat gehabt und ein normales Leben geführt. Früher war es immer entweder der Krieg, die Besatzung, Revolutionen – die Geschichte Griechenlands hat nicht wirklich ihre Substanz gefunden.
Hanselmann: Aus Griechenland war das für uns Nikos Dimou, Schriftsteller und Philosoph. Vielen Dank, Herr Dimou, und wie ich gehört habe, das halbe Jahr EU-Ratspräsidentschaft Griechenlands sehen Sie durchaus positiv?
Dimou: Ganz und gar!
Hanselmann: Vielen Dank! Danke für das Gespräch!
Dimou: Danke schön!
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