Zwischen Seehundjagd und Facebook
Die Kultur der Inuit war perfekt an die weite, unberührte Natur angepasst. Bis Siedler die traditionelle Lebensweise zerstörten. Die Folge heute: eine hohe Selbstmordrate, auch unter Jugendlichen. Doch die indigene Bevölkerung versucht, ihre Würde und Identität zurückzugewinnen.
Pangirtung, kurz auch "Pang" genannt, das meint übersetzt aus der Sprache der Inuit in etwa "Ort der vielen Karibu-Bullen". Nur rund 1.500 Menschen leben hier. Damit schafft es Pang dennoch in die Top Ten der zehn größten Ortschaften des Territoriums von Nunavut.
"Mein Name ist Markus Wilcke"
Markus Wilcke - ein Deutscher in Kanada.
"Als ich 20 Jahre als war, hab ich mein Abitur abgeschlossen. Ich habe einen Onkel gehabt, der hier in Toronto in Kanada gewohnt hat. Der hat mir angeboten, wenn du nach dem Abitur mich mal besuchen willst, du bist sehr willkommen."
Das Leben im Polarreich von den Inuit lernen
Markus Wilcke ist geblieben, ist nach Kanada ausgewandert. Seit 18 Jahren lebt er in Pangnirtung. Als Krankenpfleger ist er pensioniert. Zugleich ist er überaus aktiv: als Mitglied des Gemeinderates, im Vorstand des Jugendclubs und als Inhaber einer kleinen Pension. Er ist die Stimme des Ortes. Jeder kennt ihn, jeder grüßt ihn.
"Viele Leute haben hier für Generationen, Tausenden von Jahren gelernt mit dem Klima, mit dem Wetter, mit den langen Wintern, zurechtzukommen und man darf, man muss von den Leuten, die hier vor vielen Generationen gelebt haben, man muss von denen lernen: Wie machen die das? Und die sagen einfach: Es ist, was es ist."
Ein Leben 50 Kilometer südlich des Polarkreises - das bedeutet: Die Vegetation geht über eine Höhe von wenigen Zentimetern nicht hinaus. Sträucher oder gar Bäume gibt es nicht. Es ist eine sonderbar leere, sonderbar fernsichtige Landschaft. Das bedeutet auch: Im Sommer gibt es rund um die Uhr Tageslicht. Zu Weihnachten sind es dagegen nur noch zweieinhalb Stunden. Und es bedeutet: Die durchschnittlichen Höchsttemperaturen liegen im Sommer bei zwölf Grad, im Winter stürzen sie auf Tiefstwerte von minus 30 Grad oder gar auf minus 50 Grad durch die eisigen Winde, die durch den Fjord toben.
Ulipika Angnakak leitet das Besucher-Zentrum von Pangnirtung. Zugleich versteckt sich in dem Gebäude ein liebevoll gestaltetes Museum. Die kleine Ausstellung ist den dramatischen Umbrüchen gewidmet, die die europäischen Walfänger und in ihrem Gefolge die Siedler im Leben der Inuit auslösten. Und sie erinnert an den traditionellen, den nomadischen Lebensstil der Ureinwohner.
Ein Leben in klimatischen Extremen
Dazu gehört eine Art Monopoly, wie Ulipika Angnakak das nennt. Bei diesem Spiel allerdings geht es nicht um Geld, stattdessen müssen möglichst viele Tier-Knochen gesammelt werden.
"Jeder Knochen hat eine Bedeutung. Diese beiden großen hier sind Großmutter und Großvater. Sie stehen für die Familienältesten, die Weisen, die einem den traditionellen Lebensstil erklären. Dann gibt es hier den Stuhl für Großvater, sodass er beim Eisfischen sitzen kann. Dann der Rest der Familie: Vater, Mutter, ältere Schwester, jüngere Schwester, älterer Bruder, jüngerer Bruder. Man will eine möglichst große Familie, sodass sie fortbesteht."
Die Inuit kamen nicht freiwillig in Orte wie Pangnirtung. Ihr Leben war über Jahrtausende hinweg nomadisch. Die Großfamilien jagten und fischten und folgten dabei den Tieren. Ackerbau oder Viehzucht waren und sind in den arktischen Bedingungen unmöglich. Die Ureinwohner waren in ihrer nachhaltigen Lebensweise perfekt an die klimatischen Extreme angepasst - auch an den Berghängen des Fjordes von Pangnirtung.
"Das hier war das Jagdgebiet für Karibus. Erst dann wurde es eine Ortschaft. Es gab das erste Krankenhaus, die Handelsgesellschaft Hudson's Bay Company kam und auch die staatliche kanadische Polizei RCMP. Das war in den 20er-Jahren. Es ist noch ein ziemlich junger Ort. Die ersten Häuser für die Inuit wurden erst in den 60er-Jahren errichtet."
Als eine Jahrtausende alte Kultur zerstört wurde
Das nomadische Dasein endete mit den Europäern, mit Entdeckern, Walfängern, Händlern und Missionaren. Sie brachten eine andere Lebensweise - und sie verlangten von den Inuit, ihrem Beispiel zu folgen. Eine über Jahrtausende gewachsene Kultur wurde so erst vor wenigen Jahrzehnten in das starre Korsett europäischer Siedlungen gezwungen. Den Inuit wurde zugleich vermittelt, ein barbarisches Leben zu führen, eines, das man gar im Berliner oder Kölner Zoo als exotische Fremdheit zur Schau stellte.
Stevie Komoartok ist seit Jahresbeginn Bürgermeister von Pangnirtung. In seinem Büro scheint fast alles von einer feinen Staubschicht überzogen zu sein. Schuld daran ist der Verkehr auf der Schotterpiste direkt vor dem Fenster, Teerstraßen gibt es nicht. Das gesamte Straßennetz endet ohnehin mit der Ortsgrenze. Alle Orte Nunavuts sind nur per Flugzeug oder Schiff zu erreichen. Der kanadische Landesteil ist fast sechs Mal so groß wie Deutschland. Auf der riesigen Fläche verlieren sich lediglich rund 36.000 Menschen.
"Wir sind erst seit 50 Jahren hier in Pangnirtung. Vorher lebten wir ein nomadisches Leben. Ich selbst bin auf dem Land geboren worden, als wir noch nicht sesshaft waren. Ich ging in ein Internat, eine sogenannte 'Residential School'. Das hat zwar meiner Erziehung geholfen. Aber emotional? Da habe ich mich von den Familienältesten, den Weisen entfernt. Ich versuche immer noch, zu unserer Gemeinschaft zurückzufinden. Und ich muss heilen von all den Erfahrungen, die ich in der Schule gemacht habe. Ich habe dort einen Freund verloren, meinen Zimmernachbarn. Der kam aus Resolute Bay. Er hat in unserem Zimmer Selbstmord begangen."
Die Kinder wurden den Eltern entrissen
Die Internate der Kirche, unterstützt von der kanadischen Regierung, haben Verheerendes angerichtet. Die sogenannten "Residential Schools" haben Kinder den vermeintlichen "Wilden" entrissen, ihren Eltern also, haben ihnen Sprache und Kultur genommen, sie stattdessen zu "guten Christenmenschen" machen wollen. Sie zerstörten mit der traditionellen Lebensweise die Würde und das Selbstwertgefühl der Menschen.
Selbst vor der körperlichen Unversehrtheit machten einige Lehrer nicht halt: Schläge, Misshandlungen, Missbrauch. Die Schulen begannen ihre Umerziehung in den 1880er-Jahren. Erst 1996 wurde die letzte von ihnen geschlossen. Premier Stephen Harper und sein Nachfolger, der jetzige Premier Justin Trudeau, haben sich im Namen der kanadischen Regierung für das geschehene Unrecht entschuldigt. Das Trauma aber bleibt.
"Unser drängendstes Problem sind unsere jungen Menschen, die sich das Leben nehmen. Ich glaube, sie haben sehr damit zu kämpfen, sich an dieses Heute anzupassen. Wir leben erst seit 50 Jahren in Siedlungen. Wir versuchen uns an diese jetzige Welt zu gewöhnen und manchen jungen Leuten fällt das sehr schwer."
Markus Wilcke bereitet mit ein paar Schüler-Praktikanten die Wiedereröffnung des Jugendzentrums von Pangnirtung vor. Markus Wilcke: der Deutsche, der dem Ruf des Nordens gefolgt ist. Fasziniert von der majestätischen Landschaft und dem engen Gemeinschaftsverbund von Pangnirtung ist er geblieben und hat sich angesichts der Krise des Territoriums für eines entschieden: anpacken, mitmachen, verändern. Zum Beispiel im Vorstand des Jugend-Zentrums. Das soll rechtzeitig zu den Schulferien eröffnen. Perspektive statt Perspektivlosigkeit. Eine Anlaufstelle, ein Treffpunkt, ein Sinnstifter soll es sein, mit Sport, Computerkursen, Hilfe für Bewerbungsschreiben, Billard.
Suzidrate steigt - vor allem unter Jugendlichen
Das Jugendzentrum dient zugleich als Suppenküche. Wenigstens drei Mal die Woche sollen die vielen Bedürftigen des Ortes eine richtige Mahlzeit bekommen. Der 32-jährige Henry Mike organisiert das Angebot.
Seit seinem zwölften Lebensjahr hat er wieder und wieder erlebt, dass Freunde oder Verwandte sich das Leben nehmen. Allein im Februar haben zwölf Jugendliche einen Suizidversuch unternommen.
"Gerade letzte Woche habe ich einen Cousin verloren, er hat Selbstmord begangen. Das ist furchtbar hart für mich. Von ihm hätte ich das überhaupt nicht erwartet. Psychische Probleme sind ein so großes Thema hier. Allein dieses Frühjahr habe ich drei mir nahestehende Menschen durch Selbstmord verloren. Das ist schrecklich. Meist weiß ich gar nicht, wie ich überhaupt damit klarkommen soll. Dann sitze ich einfach da."
Die hohe Zahl der Selbstmorde stellt einen Notfall für ganz Nunavut dar.
"Dieses Stigma müssen wir loswerden"
Pangnirtung hat ein Gesundheitszentrum. Das ist zwar kein Krankenhaus, in dem Ärzte dauerhaft vor Ort sind, aber es ist dennoch eine große, modern wirkende Einrichtung mit Krankenschwestern und -pflegern, auch solchen, die sich auf psychische Probleme spezialisiert sind. Äußern wollten sie sich allerdings nicht.
"Das trifft jeden zumindest indirekt. Der ganze Ort hält für einen Moment inne. Das ist nicht das Leben, das eine Gemeinschaft führen sollte. Meinem Eindruck nach verzieht sich dann jeder in seine eigene Ecke und trauert alleine. Dabei sollte man sich doch besser untereinander mit anderen Familienmitgliedern und Freunden Halt geben. Das kann man doch nicht allein bewältigen. Dieses Stigma müssen wir loswerden. Die Menschen können doch nicht ganz allein für sich sorgen."
Es gilt eine Kluft zu überbrücken zwischen zwei Lebensformen, die zwar nur wenige Jahrzehnte aber zugleich Welten trennen. Von Seehundjagd bis Facebook. Von wandernden und jagenden Großfamilien bis zur hohen Arbeitslosigkeit in den isolierten Orten Nunavuts. Von einer Welt, die die Jagdbeute restlos und nachhaltig nutzte für Kleidung, für Wohnung, Haushalt und Heizung, für Boots- und Schlittenbau, für Jagdwaffen und Spielzeug, hin zu einer Welt, in der jede Zuckerpackung und jeder Brief eingeflogen oder per Schiff transportiert werden muss.
Um mit "diesem Heute" zurechtzukommen, wie der Bürgermeister von Pangnirtung das nennt, muss das Gestern zurückgewonnen werden. Zumindest in Form der eigenen Sprache, von Inuktitut also. Für die Regierung von Nunavut fördert Tocasie Burke Inuktitut.
"Es geht um unsere Identität"
Tocasie Burke arbeitet in Iqaluit. Die Hauptstadt des Territoriums ist etwa eine Flugstunde von Pangnirtung entfernt. Burke arbeitet für die "Behörde von Kultur und Erbe". Die sitzt in einem dieser Wellblech-Häuser, die wie zufällig abgestellt in der vegetationslosen Landschaft stehen. Jedes Jahr schreibt die Kulturbehörde einen Song-Wettbewerb aus - Teilnahme ausschließlich in Inuktitut.
"Wir müssen unsere Sprache fördern. Es geht um unsere Identität! Ich kann alle Lieder nachempfinden. Ganz oft geht es darum, draußen in der Natur zu sein: wie friedvoll das ist. Kein Stress, dort draußen. Es ist so still. Die Luft ist so sauber. Man ist nicht von der Uhr getrieben. Wir alle sehnen uns nach diesem Leben, danach, Jagen und Fischen zu gehen. Selbst Kinder können Fische fangen und ihre Familie mit ernähren. Dieser Stolz, der draus erwächst: Auch davon erzählen die Lieder."
Insgesamt beherrschen noch fast zwei von drei Inuit ihre Muttersprache Inuktitut. Das ist der höchste Anteil überhaupt für eine Gruppe kanadischer Ureinwohner. Nunavut schützt und fördert die Sprache per Gesetz, insbesondere in Schulen und in Behörden.
Ein Wort für das Gefühl, wenn man auf Wasser schaut
Wer ausschließlich Inuktitut spricht, für den ist ein Leben außerhalb des Territoriums praktisch unmöglich. Wer dagegen Inuktitut aufgibt, sagt Tocasie Burke, der gibt eine sprachliche Vielfalt auf. Eine Ausdrucksweise, die ganz ähnlich wie der traditionelle Lebensstil der Inuit so perfekt dem arktischen Leben angepasst ist.
"Es gibt zum Beispiel ein Wort, das bedeutet Gefühl oder auch Erinnerung. Wenn man draußen in der Natur ist und sehr stilles Wasser sieht - dieses Gefühl beschreibt das Wort. Oder man riecht etwas Vertrautes, das die Großmutter immer gekocht hat. Auch eine solche Erinnerung kann es sein. Es gibt viele solcher Worte. Ein Freund fragte neulich: Wie übersetzen wir Amauti ins Englische? Das sollten wir gar nicht, habe ich gesagt, das hält unsere Sprache am Leben. Amauti - das ist der Parka mit einer Babytasche auf dem Rücken."
"Damit haben wir unseren Stolz zurückgewonnen"
9. Juli 2018. Ein Tag zum Feiern. Ein Tag, um Stolz und Kultur zurückzuerobern. Es ist Nunavut Day. Vor 25 Jahren hat Kanada das Nunavut-Gesetz verabschiedet. Das hat den Grundstein für das Territorium als ein von den Inuit selbst verwaltetes Gebiet gelegt. Sechs Jahre später - 1999 also - wurde Nunavut dann Wirklichkeit auf der Landkarte Kanadas. Joanna Awa singt dem Territorium ein Geburtstagsständchen gesungen. Sie moderiert das Bühnenprogramm an diesem einzigartigen Feiertag von Nunavut.
"Der Nunavut-Tag ist etwas sehr Besonders. Wenn man sich die Geschichte unseres Volkes anschaut, so waren wir immer selbstbestimmt, hatten unsere eigenen Regeln. Wir hatten eine Gesellschaft mit sehr strikten Werten, denen wir gefolgt sind. Das war wichtig für unser Überleben. Aber dann wurde unser Leben mehr und mehr gestört. Durch Europäer. Entdecker. Missionare. Das Leben hat sich so sehr verändert, das wir uns fast selbst verloren haben. Doch dann haben wir verlangt, wieder wir selbst zu sein. Vor allem diejenigen unserer politischen Führer, die unser Land zurückverlangt haben. Damit haben wir auch unseren Stolz ein bisschen zurückgewonnen. Das bedeutet der Nunavut-Tag für mich."
"Das Wichtigste ist, seine Wurzeln zu kennen"
Im Herzen der Hauptstadt Iqaluit ist eine kleine Bühne aufgebaut. Inuktitut-Bands treten auf, bei einer Tombola sind Kinderfahrräder und Anglertaschen zu gewinnen. Das Fest hat den Charme einer Dorfkirmes. Und steht doch für so viel mehr.
Von der kleinen Bühne herab feiern sie Mary Lee. Die junge Frau stammt aus Coral Harbor, einem Örtchen rund 700 Kilometer westlich von Iqaluit, gelegen auf Southampton Island an der Nordwest-Passage durch die Arktis.
Mary Lee hat den Hauptgewinn für ein traditionelles und selbstgefertigtes Gewand gewonnen. Es ist ein Amauti - eben jener Frauenparka, an dessen Rücken zugleich eine Tragetasche für das Baby befestigt ist, nah am wärmenden Körper der Mutter.
"Das Wichtigste ist, seine Wurzeln zu kennen. Stolz darauf zu sein anstatt sich dafür zu schämen. Das macht dich zu einem starken Menschen. Der Nunavut-Tag bedeutet für mich, als menschliches Wesen anerkannt zu sein. Wir hatten früher zum Beispiel kein Wahlrecht. Jetzt sind wir Menschen in Kanada, mit kanadischen Rechten. Das hat uns die Freiheit gegeben, so zu leben wie wir es wollen. Wir bekamen unsere Sprache zurück. Unsere Kultur. All das, was meinen Vorfahren verboten war."
Carolyn Bennett hat die Bühne des Nunavut-Festes betreten. Sie ist aus Ottawa gekommen, als Vertreterin der kanadischen Bundesregierung. Das Ressort der Ministerin umfasst die Beziehungen zu den kanadischen Ureinwohnern und den nördlichen Landesteilen.
"Die Gründung Nunavuts hat nicht nur die Landkarte Kanadas verändert. Wir haben gelernt, was für ein Kampf es war, damit die Stimme der Einwohner Nunavuts auch gehört wurde. Jetzt konnten sie ihre eigenen Schwerpunkte setzen, ihre eigene Politik entwickeln. Das ist es, was wir heute feiern."
Selbstständigkeit. Selbstbestimmung. Selbstverwaltung. Die Hoheit über das eigene Leben statt Fremdbestimmung. Das sind die Werte, die die kanadische Bundesregierung mit der Gründung Nunavuts vertritt. Das Erbe der kolonialen Eingriffe aber bleibt.
"Für die falsche Politik der damaligen Regierung zahlen wir heute noch. Es geht vor allem um die Internate der 'Residential Schools'. Es gibt geradezu ein von Generation zu Generation weitergereichtes Trauma, etwa durch Kindesmissbrauch. Die Menschen haben ihr Selbstbewusstsein verloren. Sie schämen sich vor sich selbst. All das war so fehlgeleitet und hat den Menschen geschadet und dieses Vermächtnis tötet auch heute noch."