Identitätsfindung durch Geschichte

23.01.2006
In "Das Manuskript der Verführung" verknüpft Gioconda Belli die Geschichte einer jungen Frau auf der Suche nach ihrer Identität mit der Geschichte der spanischen Königin Johanna und ihres Gemahls Philipps des Schönen. Die Protagonistin geht dabei ganz in der Vorstellung der Königin auf, so dass Gegenwart und Vergangenheit miteinander verschmelzen.
Wer oder was kann uns heute dazu bringen, einen Roman von über 500 Seiten über die Geschichte der spanischen Königin Johanna zu lesen die im 16. Jahrhundert gelebt hat? Gioconda Belli - die Schriftstellerin Nicaraguas-, die inzwischen in Santa Monica /USA lebt, verknüpft die Geschichte der Königin mit der Gegenwart auf eine höchst spannende und zugleich lehrreiche Weise.

Die Kolumbianerin Lucia lebt seit dem Tod ihrer Eltern in einem Kloster in Madrid. Sie hat sich verschlossen, um mit ihrem Kummer klar zu kommen. Getrennt von allem, was ihr lieb und teuer war, lebt sie ihr spartanisches Dasein im Kloster.

Als sie schließlich ihre letzten Erinnerungsstücke, Briefe ihrer Mutter an eine Freundin nach Jahren anschaut, stellt sie fest, dass die heile Welt ihrer Kindheit nur Fiktion war. Ihr Vater hat ihre Mutter betrogen. Auf der Reise, die eine Klärung herbeiführen soll, kommen beide bei einem Flugzeugabsturz ums Leben.

Zu diesem Zeitpunkt lernt das völlig verwirrte junge Mädchen den Universitätsdozenten Manuel kennen, einen Historiker und Experten für die spanische Renaissance. Manuel macht Lucia ein ungewöhnliches Angebot. Er wird ihr alles über die Geschichte der spanischen Königin Johanna und ihres Gemahls Philipps des Schönen erzählen, wenn Lucia sich in ihre Rolle versetzt, dass heißt, sie soll in der Rolle Johannas aufgehen, wie sie denken, fühlen, sich verhalten. Zum Rollenwechsel gehört ein historisches Kleid aus roter und goldener Seide, dessen schmale Taille mit einem Samtband betont wird.

Lucia lässt sich auf das Spiel ein und gerät immer mehr in den Bann der Persönlichkeit Johannas und des Historikers Manuel.

Gioconda Belli zeichnet ein Bild der spanischen Königin, das weit über das der Johanna der Wahnsinnigen, die wegen ihrer Liebe und Eifersucht den Verstand verloren haben soll, hinausgeht. Mit Lucias Hilfe erfährt der Leser etwas über die möglichen Gefühle einer jungen Frau, die ihre Intelligenz, ihre Machtansprüche und ihre Leidenschaft in einer von Männern, Intrigen und kirchlichen Komplotten bestimmten Welt, nicht durchsetzen kann und letztendlich durch in konsequentes Verhalten nur noch als "Wahnsinnige" von ihrer Umwelt geduldet wird. Dabei spinnt Gioconda Belli den Faden der Erzählung immer dichter in der Verknüpfung von Geschichte und Gegenwart, so dass Lucia sich als Johanna dem Dozenten Manuel hingibt, der immer mehr Phillips Züge annimmt.

Gioconda Belli, die durch Erzählungen, Romane und Gedichte bekannt geworden ist, deren erotischer Gehalt ihr politisches Engagement nicht mildert, schafft auch in dem "Manuskript der Verführung" wieder diese anregende Mischung. Lucias und Johannas Leidenschaft in ihrer Konsequenz überschreiten alle Barrieren und kommen zu ungewöhnlichen Lösungen. Ein durch und durch gelungenes Lesevergnügen.

Dass dabei Gioconda Belli sich und ihrem Engagement treu geblieben ist, zeigt sich, wenn sie den Erlös ihrer Lesungen in Deutschland für kulturpolitische Projekte in Nicaragua stiftet, dem Land, das sie 1975 wegen ihres politischen Engagements verlassen musste und wo sie 1984 die FSLN im Nationalen Rat der politischen Parteien vertreten hat.


Gioconda Belli: Das Manuskript der Verführung
Roman. Aus dem Spanischen von Elisabeth Müller
Peter Hammer Verlag , 2005
S.509 , € 24,90