Identitätsdebatte

Wer darf für wen sprechen?

03:59 Minuten
Illustration: Silhouetten von Gesichtern in unterschiedlichen Farben überlappen sich.
"Wenn man den Vorwurf der kulturellen Aneignung konsequent zu Ende denkt, dürften Italiener auf der Bühne nur noch von Italienern gespielt werden, Roma von Roma, Asiatinnen von Asiatinnen", sagt Tanja Dückers. © imago / Panthermedia
Ein Plädoyer von Tanja Dückers · 17.03.2021
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Identitätspolitische Debatten sind wichtig, sagt Tanja Dückers. Doch warnt sie vor einer Gesellschaft, in der jede Gruppe nur noch sich selbst repräsentieren darf. Denn in der kulturellen Grenzüberschreitung liege auch ein utopisches Potenzial.
Die identitätspolitischen Debatten der letzten Wochen sind wichtig gewesen. Es stellte sich die Frage, wer zum Beispiel die Gedichte von Amanda Gorman, der jungen Lyrikerin, die bei Joe Bidens Amtsantritt begeisterte, übersetzen darf. Nur jemand mit identischer Hautfarbe?
Mit Blick auf die Entwicklungen in den USA, einem Land mit einer weiter fortgeschrittenen Spaltung der Gesellschaft, zeigt sich, dass solche Diskussionen besser so lange in einer breiten Öffentlichkeit stattfinden, wie es diese überhaupt noch gibt – bevor verschiedene gesellschaftliche Gruppen nur noch jeweils "ihre" Medien zur Kenntnis nehmen und sich in partikularen Foren gegenseitig aus den Augen verlieren. Diese Gefahr droht auch hierzulande.
So lange also noch die unterschiedlichsten Menschen Deutschlandfunk hören, möchte ich mich zur identitätspolitischen Debatte als Schriftstellerin gern aus der Perspektive derjenigen äußern, deren Beruf es ist, Dinge nicht nur zu dokumentieren, sondern auch zu verwandeln, sogar ganz und gar zu erfinden. Als "Zauberer" bezeichnete Thomas Mann bekanntlich die Zunft der Schreibenden, allen voran natürlich sich selbst.

Die Grenzen der Selbstrepräsentation

Vorab: Ich verstehe den Unmut über verschiedene Spielarten von Diskriminierungen, über diverse Varianten von Vorurteilen in unserer Gesellschaft. Als Frau habe ich einiges einstecken müssen, auch und gerade im Kulturbetrieb. Eine mehrjährige Beziehung mit einem Mann aus Lateinamerika in den 90er-Jahren hat mir zudem deutlich gemacht, was für ungeheuerliche rassistische Bemerkungen auch hier im liberalen Berlin tagtäglich fallen. Ferner: Ich habe in den USA gelebt und noch eine andere Dimension von tief strukturierter Angst, Ablehnung und Gewaltbefürwortung erlebt, deren Überwindung wohl noch einige Generationen in Anspruch nehmen wird, sollte sie denn erfolgreich sein.
Doch: Ich möchte weiterhin erfinden können und dürfen. Ich wünsche mir keine Gesellschaft, in der jede und jeder nur noch sich selbst repräsentieren darf. Wenn man den Vorwurf der kulturellen Aneignung konsequent zu Ende denkt, dürften Italiener auf der Bühne nur noch von Italienern gespielt werden, Roma von Roma, Asiatinnen von Asiatinnen und so weiter. Wer schreibt dann eigentlich Kinder- und Tierbücher?

Zwischen zwei Buchdeckeln die Welt erfinden

In meinen Geschichten schlüpfe ich oft in andere Rollen, mal bin ich eine viel ältere Frau, ein Kind oder ein Mann. Ich habe zwischen den Buchdeckeln in Polen gelebt, obwohl ich in Wirklichkeit dort nur mal fünf Monate recherchiert habe. Wie steht es damit? In Kalifornien durften Kinder zum Teil nicht mehr beim Fasching einen Sombrero aufsetzen, weil sie sich dann mexikanisches Kulturgut aneignen würden. Als in einem Berliner Theater die Figur des Siegfrieds von einem People-of-Colour-Schauspieler dargestellt wurde, wurde er für sein hervorragendes Spiel – zum Glück – gefeiert.
Solche Verwandlungen müssen möglich sein, und es würde Vorurteile nur zementieren, wenn irgendjemand – wer im Übrigen? – festlegen würde, wer sich der kulturellen Aneignung bedienen darf und wer nicht. Besser wäre es, wir würden alle in der gesellschaftlichen Kraft von Kunst, Grenzen zu überwinden, Innovatives zu denken, Neues zu erfinden und zu spielen – dazu gehört auch: mal jemand anderes sein zu dürfen –, weiterhin ein kreatives, utopisches, realitätsüberwindendes Potenzial sehen, das uns allen nutzen kann.

Tanja Dückers, geboren 1968 in Berlin (West), Studium der Germanistik, Nordamerikanistik und Kunstgeschichte, lebt als Schriftstellerin und Publizistin in Berlin. Sie hat 18 Bücher veröffentlicht, darunter Romane, Erzählungen, Gedicht- und Essaybände. Sie lehrt regelmäßig als Gastprofessorin in den USA im Fachbereich German Studies / Germanistik. Als Journalistin äußert sie sich zu soziopolitischen und ökologischen Fragestellungen.

© Anton Landgraf
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