Ideen und Visionen eines Genies
Autor Martin Kemp, ein renommierter Leonardo-Experte, geht dem Jahrhunderte überdauernden Erfolg des Renaissance-Genies nach. Im Mittelpunkt seiner Analyse stehen die zahlreichen Schriften, die der Schöpfer der "Mona Lisa" nach seinem Tode hinterließ. Durch sie ist zu verstehen, wie Leonardo seine Ideen und Visionen entwickelte.
Leonardos "Mona Lisa" hieß ursprünglich "Monna Lisa", denn "La Gioconda", Leonardos Modell, ist eine waschechte Italienerin: Lisa, die Ehefrau des florentinischen Seidenhändlers Francesco del Giocondo. Und "Monna" ist die italienische Abkürzung für "Madonna", zu deutsch "Frau". "Monna Lisa" – den Titel hat übrigens nicht Leonardo selbst erfunden, sondern sein erster Biograph Giorgio Vasari.
Mona Lisa ist wahrscheinlich das am meisten besuchte Gemälde der Welt. - Wie kommt es, dass dieses Bild so eine unvergleichliche Berühmtheit erlangt hat?
Martin Kemp nennt mehrere Gründe. Der erste ist die unvergleichliche Berühmtheit seines Schöpfers. Leonardo umgab schon zu Lebzeiten die Aura des Ausnahmekünstlers. Er war groß gewachsen, von auffallender Schönheit – und ein Meister der Selbstinszenierung: Immer makellos und teuer gekleidet kam er gewöhnlich in Begleitung seiner Schüler, und die waren genauso herausgeputzt wie er.
Und sowohl die Medici in Florenz als auch die Sforza in Mailand , das waren die beiden Fürstenhäuser, für die Leonardo am meisten gearbeitet hat, wussten: wenn sie ein Bild bei Meister Leonardo in Auftrag geben, dann können sie mit etwas ganz Außergewöhnlichem rechnen. Aber wann das fertig wird (und ob es überhaupt fertig wird), das war nicht klar. Leonardo hat eine Fülle unvollendeter Projekte hinterlassen. Insgesamt gibt es nur zwölf fertige Gemälde von seiner Hand. Und Dinge, die so vollendet wie selten sind, werden eben besonders geschätzt.
Was die "Mona Lisa" betrifft: an ihrem Ruhm haben mindestens zwei Monarchen mit gestrickt : Franz I. , König von Frankreich und Napoleon Bonaparte. Franz war geradezu vernarrt in Leonardos Bilder und hat nach dessen Tod alles aufgekauft, was er bekommen konnte. Darunter auch die Mona Lisa . Für 12.000 Francs, ein irres Geld für damalige Verhältnisse. - Und Napoleon Bonaparte hat "La Gioconda" aus dem Louvre mitgenommen und in seinem Schlafzimmer aufgehängt. – So werden Legenden von Bildern und Malern geboren.
Aber Leonardo war ja nicht nur Maler...
Gemalt hat Leonardo quasi nur nebenbei. Sein Geld hat er in erster Linie als Ingenieur verdient und als Berater der italienischen Fürsten in technischen Angelegenheiten. Das kann Martin Kemp ganz klar belegen. Leonardo hat sich um Fragen der Wasserwirtschaft gekümmert: um den Brunnenbau und den Kanalbau. Da gab es kühne Projekte. Gemeinsam mit dem Stadtrat von Florenz hatte Leonardo geplant, den Arno um Pisa herumzuleiten, damit man von Florenz aus direkt ins Mittelmeer schiffen kann. Denn Florenz stand mit Pisa öfters auf Kriegsfuß.
Das Projekt scheiterte allerdings an Geldmangel. Leonardo hat sich auch mit Festungsbau beschäftigt und mit der Konstruktion von Waffen – obwohl er Kriege als "bestialischen Irrsinn" empfand, aber in dieser Sache war er eben Fürstendiener.
Man sagt ja immer, Leonardo sei seiner Zeit weit voraus gewesen und hätte wundersame Apparate erfunden: Taucherglocken, Flugapparaturen…
Ein Leonardo-Bild, das der Historiker Martin Kemp gerne verabschieden möchte. Denn erstens war es in der Renaissance ganz selbstverständlich, dass einer nicht nur Maler war oder Architekt, sondern gleichzeitig Ingenieur, Techniker und Erfinder. Brunellesci zum Beispiel, der Architekt und Baumeister des Florentiner Doms hat auch das technische Gerät konstruiert, um die riesigen Steine und Säulen nach oben zu hieven.
Und zweitens war bei Leonardos Zeichnungen auch vieles "l’art pour l’art". Er wollte seinen Fürsten zeigen, was man alles bauen könnte, wenn man denn Geld hätte.

Holzmodell eines Autos - erfunden von Leonardo Da Vinci© AP Archiv
Und welches Leonardo-Bild vermittelt uns dann Martin Kemp?
Das ist in erster Linie ein Buch über Leonardos Weltbild, über seine Philosophie, die sich aus seinem umfangreichen Nachlass wunderbar rekonstruieren lässt.
Für Leonardo ist das Auge das erste und zuverlässigste Mittel der Naturerkenntnis. Er hatte eine geniale Beobachtungsgabe, das beweisen die subtilen Licht - und Schattenspiele auf seinen Gemälden und die naturnahe Darstellung von Perspektiven. – Und ein technischer Apparat, das ist für Leonardo quasi "gesteigerte Natur". Denn er entsteht ebenfalls durch das Studium der Formen in der Natur und deren Funktionen. Auch ein Ingenieur ist ein Künstler: er kombiniert Naturformen dergestalt, das etwas Neues entsteht, was die Natur selbst nicht hervorbringen kann. Diese für Leonardo so typische Einheit von Malkunst und Ingenieurskunst werden in seinen vielen Skizzen offensichtlich. Das sind technische Zeichnungen und Malerskizzen in einem.
Der Stil des Buches ist recht nüchtern ausgefallen. Martin Kemp ist Empiriker, er hält sich also an die Fakten. Nicht, dass er den "Mythos Leonardo" etwa demontieren möchte, nein, da schwingt durchaus viel Bewunderung für den Meister mit und auch die Überzeugung, dass man "Genie" nicht bis ins letzte erklären kann. Aber es ist dem Autor doch daran gelegen, die Dinge so weit wie eben möglich zu klären.
Martin Kemp ist offensichtlich der Meinung, dass man Leonardos Geheimnis am nächsten kommt, wenn man Verzicht leistet auf alles "Wabern und Mystifizieren". Leonardos Genie gründet sich vor allem auf eine immense Beobachtungsgabe, einen klaren Verstand und viel Liebe zur Geometrie und zu nüchterne Kalkulation. Und wenn an Meister Leonardo irgendetwas "mystisch" war, dann höchstens sein Arbeitspensum.
Martin Kemp: Leonardo.
C. H. Beck Verlag München 2005,
311 Seiten, 26, 90 Euro.