Idealismus und Zweifel

Von Kerstin Zilm · 09.08.2011
Sie machen weitgehend unbemerkt Geschichte: US-Soldaten sind derzeit länger in Kampfgebieten im Einsatz als je eine Generation vor ihnen. Die Zahl der Soldaten, die mehrfach in Kriegsgebiete geschickt werden, wächst - und damit auch die Zahl schwerer Trauma-Fälle.
Der Vergnügungspark auf dem Santa Monica Pier im Los Angles County in Kalifornien an einem typischen Sonntag Vormittag: Touristen bummeln auf dem Landungssteg vorbei an Souvenirbuden, Familien stellen sich in die Schlangen vor Riesenrad und Achterbahn. Angler hoffen hier an der Küste des Pazifiks, einen Heilbutt oder einen Lachs zu fangen. Beim Gang die Treppe hinunter zum Strand bietet sich ein irritierendes Bild.

Vor dem Hintergrund bunter Sonnenschirme und dem in der Sonne glitzernden Meer stecken in scheinbar endlosen Reihen 2.300 Kreuze im Sand. Zwei Drittel davon sind weiß, die anderen rot. Es ist Arlington West, benannt nach dem Soldatenfriedhof in Washington D.C.. Hier an der US-Westküste ist es ein Mahnmal für die in Irak und Afghanistan gefallenen Soldaten. Jedes weiße Kreuz repräsentiert einen toten Soldaten, jedes rote Kreuz zehn Gefallene. Etwa ein Jahr nach Beginn des Irakkrieges begannen Veteranen an jedem Sonntag Kreuze zum Gedenken an die Toten in den Sand zu stecken. Das tun die freiwilligen Helfer der Organisation "Veterans for Peace” - "Veteranen für Frieden” - nun seit über sieben Jahren. Ihr Präsident, Vietnam-Veteran Michael Lindley, kommt immer als einer der Ersten um drei Uhr morgens zum Strand und beginnt mit dem Aufbau.

"Wir versuchen der Öffentlichkeit zu vermitteln, welch hohe menschliche Kosten Kriege fordern. Derzeit löst die Menschheit alle wichtigen Fragen mit Gewalt. Wir müssen die Menschen dazu bringen, Probleme anders anzugehen. Wir wollen, dass sie darüber nachdenken, ob wir eine andere Richtung einschlagen müssen. Wir müssen eine andere Richtung einschlagen!"

An diesem Sonntag ist die Zahl der gefallenen Soldaten im Irakkrieg auf 4.790 gestiegen und die der Gefallenen in Afghanistan auf 2.587. Michael schreibt die Ziffern mit weißer Kreide auf eine rostige Metalltafel mit den Umrissen der USA und stellt sie vor den Kreuzreihen auf. Ein Schild daneben weist darauf hin, dass in den Konflikten vermutlich mehr als eine Million Zivilisten getötet wurden. Teenager, barfuss mit um die Hüften geschlagenen Handtüchern, schlurfen achtlos am Mahnmal vorbei. Familien schleppen schwere Kühlboxen, Sonnenschirme und Badetaschen über den Holzweg neben den Kreuzen, die Blicke geradeaus aufs Meer gerichtet. Zwei Männer um die zwanzig in Flip-Flops, Shorts, T-Shirts und mit dunklen Sonnenbrillen bleiben stehen. Nur ihr ultrakurzer Haarschnitt unterscheidet sie von anderen Strandbesuchern und lässt ihre Verbindung zum Militär ahnen. Allan Cummings und Daniel Kujumpah kommen vom Militärstützpunkt Camp Pandleton rund 150 Kilometer entfernt vom Küstenort Santa Monica für einen Sonntagsausflug zum beliebtesten Touristenziel am Westrand von Los Angeles. Sanitäter Cummings ist seit März zurück von seinem fünften Militäreinsatz. Acht Monate war er in Afghanistan. Der schlanke 27-Jährige mit den dicken Brillengläsern verpflichtete sich im Jahr 2004, nachdem ein Schulkamerad im Irakkrieg gefallen war.
"Mit 19 glaubst du, dass du wirklich etwas bewirken kannst und wenn zu Hause nichts los ist, warum nicht in die Welt gehen? Ich war in über 50 Ländern. Das tut dem Ego gut! Ich war auch in Deutschland, sehr schön! Ich wäre da nicht hingekommen, hätte ich mich nicht freiwillig gemeldet."

Lance Corporal Daniel Kujumpah denkt anders. Der 22-Jährige wird in drei Monaten zu seinem zweiten Einsatz in der Helmand Provinz, einer der am stärksten umkämpften Regionen im Süden Afghanistans aufbrechen. Er schüttelt angesichts des Mahnmals unwillig den Kopf. Kujumpah möchte an einem freien Sonntag nicht an den Krieg und seine Opfer erinnert werden.

"Ich blende es aus. Mache mir keine Gedanken. Wenn deine Zeit gekommen ist, ist sie gekommen. Wenn Du diese Gedanken zu nah an dich ran lässt, beeinträchtigt das deine Leistung. Deshalb versuche ich, nicht dran zu denken."

Kujumpah begleitet als Maschinengewehrschütze der US-Marines Versorgungs-Konvois aus Kabul in entlegene Regionen Afghanistans. Die Konvois werden regelmäßig von Aufständischen überfallen. Kujumpah ist trotzdem lieber mitten in der Kampfzone mit einer Kolonne von LKW und Geländewagen unterwegs, als ohne wichtige Aufgabe auf dem Gefechts-Stützpunkt in Kabul herumzusitzen.

"Es ist manchmal langweilig. Dann möchtest du nur nach Hause. Aber du tust, was getan werden muss, um die Mission zu beenden und die Arbeit zu erledigen. Ein Jahr im Einsatz ist einfach eine lange Zeit weit weg von Freunden und Familie. Aber wir tun gute Sachen in Afghanistan, die Mission kommt zum Ende. Es ist eben, was es ist!"

Kujumpah und sein Freund schlendern weiter am Strand entlang, lassen die Kreuze hinter sich. Kujumpah zieht sich die Flip-Flops von den Füßen und geht Richtung Meer bis das Wasser seine Knie bedeckt. Vietnam-Veteran Michael Lindley hat mitgehört. Er sagt, er erfährt am Mahnmal von vielen deprimierenden Geschichten, die seine Anti-Kriegs-Einstellung bekräftigen.

"An einen Gentleman erinnere ich mich, der im Irak war. Sie hatten diese Geschwindigkeitsvorschrift. Sie mussten auf den Straßen immer eine Mindestgeschwindigkeit einhalten. Und er konnte das Mädchen im gelben Kleid nicht vergessen, das plötzlich vor ihnen auf der Straße stand. Er konnte nicht anhalten, er musste weiterfahren.” "

Zwischen dem bunten Treiben auf dem Pier scheint niemand an die rund 150.000 US-Soldaten zu denken, die derzeit noch in Irak und Afghanistan im Einsatz sind. Und auch wenn Präsident Obama bis zum Sommer nächsten Jahres 33.000 Soldaten aus Afghanistan und bis Ende dieses Jahres die US-Truppen aus dem Irak bis auf ein paar Tausend Soldaten ganz abziehen will - Jabbar Magruder schaut von einer Bank aus nachdenklich auf die Kreuze im Sand. Der 32-Jährige mit gebügeltem hellem Hemd, Jeans und tief über die Augen gezogener Baseballkappe kommt häufig sonntags hierher. Er war bis vor gut einem Jahr im Vorstand der Organisation "Iraq-Veterans against the War” - "Irak-Veteranen gegen den Krieg”. 2006 war der Offizier und Helikoptermechaniker acht Monate in Tikrit stationiert, dem Geburtsort des im selben Jahr hingerichteten irakischen Machthabers Saddam Hussein. Er war verärgert über mangelhafte Ausrüstung vor Ort, unzureichende Unterstützung für traumatisierte Soldaten und die Lügen der Regierung von Präsident Bush über Massenvernichtungswaffen. Vier Jahre lang suchte er nach seinem Einsatz in Los Angeles einen festen Arbeitsplatz, an dem er seine Fähigkeiten als Mechaniker anwenden konnte. Über 13 Prozent der US-Veteranen aus den Kriegen in Irak und Afghanistan sind arbeitslos. Unter denen, die 24 Jahre oder jünger sind, sind es sogar 27 Prozent. Jabbar Magruder hat gemerkt, dass Werte und Fähigkeiten, die für das Überleben in der Armee essentiell sind, im Zivilleben wenig Anwendung finden.

" "Allein der Führungsstil lässt sich nicht gut übertragen. Zivilisten lassen sich nicht gerne sagen, was sie tun sollen. Vielleicht ist es gut für das Arbeitsethos, andererseits nimmst du Vieles zu ernst. Du checkst andauernd, ob du sicher bist, nicht getötet werden kannst. Ich muss mich immer wieder selbst erinnern: Du bist nicht im Irak, du bist im schönen Los Angeles, Kalifornien!"

Der Helikoptermechaniker ist seit Ende letzten Jahres zweimal monatlich in psychologischer Behandlung bei einem Experten der Armee. Es fiel ihm nicht leicht, um Hilfe zu bitten. Doch er konnte im zivilen Alltag die Hyper-Wachsamkeit, die für das Überleben im Krieg notwendig ist, nicht unter Kontrolle halten. Die zweistündigen Sitzungen helfen Magruder, diese Wachsamkeit - wie er sagt - von Stufe zehn auf Stufe drei herunterzuschrauben.

In einem Park einige Hundert Meter abseits von Pier und Strand sitzt zwischen Picknick-Gruppen ein Pärchen in Trainingsanzügen im Schatten unter einem Baum. Sie erholen sich vom Joggen. Elizabeth Thompson, 30-jährige Reserve-Offizierin der Navy muss in Form kommen für ihren nächsten Einsatz. Bisher war sie zweimal als Expertin für Öffentlichkeitsarbeit und Fotografin auf Flugzeugträgern im Persischen Golf stationiert. Sie hat in Los Angeles ein Filmstudium begonnen. Ende des Jahres wird sie für mindestens acht Monate nach Afghanistan geschickt. Auf eigenen Wunsch.

"Als Frau habe ich viel Mitgefühl mit den afghanischen Frauen, die nicht viele Gelegenheit bekommen, sich zu bilden oder andere Ziele zu verfolgen. Das ist eine Tragödie! Ich würde dem Land gerne helfen, sich selbst zu regieren, gute Schulen zu bauen und so weiter. Sie brauchen einfach wirklich Hilfe!"

Ihr Freund warnt sie davor, die Situation in Afghanistan zu unterschätzen. Der 37-jährige Mike ist Oberfeldwebel der Marine im Ruhestand. Nach 16 Jahren aktiven Dienstes weiß er: Allein körperlich muss Elizabeth selbst als Fotografin im Kampfgebiet mehr leisten als auf einem Schiff.

"Die Bedingungen sind einfach scheußlich da drüben. Es ist heiß, extrem! Es kann auch sehr kalt werden. Du musst überall deine Ausrüstung mitschleppen. Sie hat nicht nur ihre Fotoausrüstung, sondern Waffe, kugelsichere Weste, Munition - das ist schwer! Darauf muss man sich vorbereiten, du kannst nicht einfach am ersten Tag hundert Pfund schleppen."

Drei Monate vor ihrem Einsatz in Afghanistan wird Elizabeth Thompson ihr spezialisiertes Training auf einem Navy-Stützpunkt beginnen. Bis dahin ist sie auf sich selbst gestellt und profitiert von der Erfahrung ihres Freundes. Er geht mit ihr auf die Schießanlage und hat sie bei ihrem ersten Marathon begleitet. Über versteckte Bomben, improvisierte Sprengstoffsätze oder Traumatisierung sprechen sie kaum.

"Ich habe es immer im Hinterkopf. Ich könnte mich ewig fragen, was, wenn dies passiert oder jenes, und langsam verrückt werden. Aber das geht nicht! Ich lasse es ruhig angehen, bereite mich vor so gut ich kann, lerne von den Erfahrungen meiner Freunde, bringe zu Hause alles in Ordnung, genieße die Zeit mit meinen Freunden, solange ich noch hier bin, und lasse alles andere auf mich zukommen."

Ein paar Tage später auf dem Militärstützpunkt Camp Pendleton, mehr als 500 Quadratkilometer hügeliges Gelände an der kalifornischen Küste zwischen Los Angeles und San Diego. Etwa 100.000 US-Marines werden hier jedes Jahr trainiert - in Camps für junge Rekruten, bei Reservisten-Übungen und der Vorbereitung auf Eliteeinsätze. An diesem Tag ist eine Gruppe von 40 Zivilisten auf dem Gelände eines in einer umgebauten Lagerhalle nachgestellten afghanischen Dorfs mit Lehmhütten, kleinen Cafes, Schafställen und einem Marktplatz. Die Studenten, Unternehmer, ehemaligen Militärs, Lehrer und Hausfrauen sind Mitglieder einer Freiwilligenorganisation, die Carepakete an Soldaten im Einsatz schickt und nach deren Rückkehr zum Dank eine Führung inklusive Schießübungen und Demonstration eines Taliban-Angriffs in verwinkelten Gassen geschenkt bekommt.

Lance Corporal Daniel Kujumpah gehört zu den Soldaten, die die Zivilisten durch das Gelände leiten. Das Bataillon von Camp Pendleton, das derzeit in der Helmand Provinz in Afghanistan stationiert ist, hat seit April bis Juni sieben Soldaten verloren. Kujumpah vertraut darauf, von den führenden Militärs gut vorbereitet zu sein, wenn er mit seinem Bataillon von 250 Marine-Infanteristen in drei Monaten die Ablösung übernimmt.

"Sie können dich nie komplett auf den Kampfeinsatz vorbreiten, aber es gibt inzwischen ziemlich gute Simulatoren. Durch die bist du mental vorbereitet. Heutzutage sind wir besser vorbereitet, auch durch Videospiele und Filme als beispielsweise in den 40er-Jahren."

Auf dem Ladedeck eines Geländewagens neben der Schießanlage sitzt Sanitäter Allan Cummings und schaut leicht amüsiert den Treffversuchen der Zivilisten zu. Cummings hat nach der Rückkehr vom letzten Einsatz geheiratet und wird sich nicht noch einmal verpflichten, wie er noch vor einem Jahr dachte. Er will Tiermedizin studieren und das Familienleben genießen. Mit jedem Einsatz wurde es schwieriger für ihn, sich nach der Rückkehr ans Zivilleben zu gewöhnen.

"Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich als Sanitäter, nach allem was ich gesehen habe - Amputationen, Soldaten, die unter unseren Händen starben - dass es schwieriger sein würde, zurück in die USA zu kommen und dieses Monster einzusperren, das acht Monate draußen war, ihm zu sagen: Ich brauch dich grade nicht, geh rein, es ist alles gut."

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