Idealer Ort für literarische Ausschweifungen

25.08.2010
Die Essays des bosnischen Schriftstellers sind ein Paradebeispiel dafür, wie sich Denken und Poesie gegenseitig durchdringen. Karahasan nimmt den Leser auf eine Reise in seine Schicksalsstadt Sarajewo, die einst den besten Nährboden für mulitperspektivisches Erzählen darstellte.
Sarajewo ist die Schicksalsstadt des 1953 geborenen bosnischen Schriftstellers Dzevad Karahasan. Er erlebte hier von 1992 bis 1995 die Belagerung im jugoslawischen Bürgerkrieg und danach, wie die einst multiethnische Stadt zu existieren aufgehört hat. Karahasan steht in seinen kulturellen Prägungen für die Möglichkeiten, die es im früheren Jugoslawien gab: Er wurzelt in antiken, islamischen und christlichen Traditionen gleichermaßen, ist ein Spezialist für abendländische und morgenländische Philosophie, kennt die theologischen Verästelungen des Christentums und des Islam gleichermaßen.

In seinem Essayband über "Die Schatten der Städte" steht Sarajewo für die ideale Stadterfahrung per se – die Stadt, der er in seinem "Tagebuch der Aussiedlung" (1993) sowie den Romanen "Schahrijars Ring" (1997) sowie "Sara und Serafina" (2000) bereits literarische Denkmäler gesetzt hat.

Seine Essays sind ein Paradebeispiel dafür, wie sich Denken und Poesie gegenseitig durchdringen – ja, Karahasans durchaus rationale und auf Analyse fußende Erkenntnisse lassen sich in letzter Konsequenz nur in derselben Weise nachvollziehen, wie man auch Gedichte und Romane liest. Es ist der poetische Rest, um den es ihm gerade auch in der Reflexion geht.

Sarajewo ist für Karahasan die ideale Stadt für literarische Ausschweifungen. Hier existierten lange Zeit verschiedene Kulturen, verschiedene Geschichtserzählungen und verschiedene Religionen parallel. Das ist der beste Nährboden für multiperspektivisches Erzählen, für etwas, was in der Moderne als angemessene Ausdrucksform für das menschliche Bewusstsein entdeckt wurde, was es aber schon viel früher gab.

Karahasan zeigt am jugoslawischen Nobelpreisträger Ivo Andric, wie die Stadt Sarajewo ein mehrdimensionales, vielförmiges Erzählen geradezu erzwingt, nur so kann der Schriftsteller ihrem Charakter gerecht werden. Hier gehen orientalische Erzählformen, Mündlich-Rhapsodisches wie in "1001 Nacht" übergangslos in zeitgenössische, vielfach gebrochene ästhetische Stile über – das ist bei Andric so, aber natürlich auch bei Karahasan selbst, seit seinem Debütroman "Der östliche Divan" (1989) bis heute.

Vom russischen Literaturwissenschaftler Michail Bachtin übernimmt er in seinen Essays den Begriff des "Chronotopos" und macht ihn zum Leitmotiv: die "Raumzeit", wie die deutsche Übersetzung lautet, wird Karahasans Instrument für den Durchgang durch die literarischen Epochen. Wie jeweils Zeit und Raum den Aufbau eines literarischen Werkes bestimmen, zeigt er äußerst luzide – und dass die Raumzeit Sarajewos dabei die absolute, unerreichbare Utopie darstellt, schwingt in jeder Zeile mit. Die Narration selbst habe in Sarajewo ihren Heimatort – umso mehr, als dieses Sarajewo mit der real existierenden Stadt, die so heißt, nichts zu tun hat und es nur in der Vorstellung und in der Literatur existiert.

Besprochen von Helmut Böttiger

Dzevad Karahasan: Die Schatten der Städte. Essays
Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber
Insel Verlag, Berlin 2010
172 Seiten, 17,80 Euro
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