"Ich wollte nur so sein wie meine Freunde"
Mexiko, die DDR, USA - der Autor Joel Agee ist gleich in drei Ländern aufgewachsen und hat das Buch "Zwölf Jahre: Eine amerikanische Jugend in Ostdeutschland" darüber geschrieben. Jetzt lebt er in New York und erwartet von der Präsidentschaft Barack Obamas "bewegte Zeiten".
Jürgen König: Er ist in drei Ländern aufgewachsen, in drei sehr unterschiedlichen Welten, und hat über einen Teil dieses Lebens ein Buch geschrieben, das demnächst im Hanser-Verlag wieder erscheinen wird. "Zwölf Jahre: Eine amerikanische Jugend in Ostdeutschland". Der Schriftsteller Joel Agee, Winfried Sträter stellt ihn vor.
Winfried Sträter: Er hat als junger Mensch in drei Kulturen gelebt, in drei sehr verschiedenen Welten: in Mexiko, in der DDR, in den USA. 1940 wurde Joel Agee in den USA geboren. 1942 trennte sich seine Mutter vom Vater, dem Schriftsteller James Agee. In Mexiko lernte sie einen Deutschen im Exil kennen, den Spanienkämpfer und kommunistischen Schriftsteller Bodo Uhse. Sie heiratete ihn, die Familie lebte bis 1948 in Mexiko und siedelte dann in die DDR über.
Joel war acht Jahre alt, und sein Stiefvater Bodo Uhse war einer der antifaschistischen Intellektuellen, auf deren Unterstützung die DDR beim Staatsaufbau setzte. Deshalb wurde der Familie eine Villa am See am Berliner Grenzort Groß Glienicke zur Verfügung gestellt, mit Chauffeur und Dienstmädchen - eine privilegierte Existenz im Arbeiter- und Bauernstaat. Über diese ungewöhnliche Geschichte hat Joel Agee ein Buch geschrieben, das im Hanser-Verlag demnächst wieder erscheinen wird: "Zwölf Jahre: Eine amerikanische Jugend in Ostdeutschland". Seit 1960, als sich seine Mutter von Bodo Uhse trennte, lebt Joel Agee wieder in den USA. Ein New Yorker Schriftsteller, der sich zurzeit in Deutschland aufhält.
König: Joel Agee schreibt zurzeit an einem neuen Roman als Fellow der American Academy in Berlin und ist jetzt mein Gast. Ich freue mich sehr.
Joel Agee: Ich freue mich auch.
König: Herr Agee, Sie haben als Kind und Jugendlicher in drei Kulturen gelebt, in Mexiko, in der DDR, in den USA. Wie kommt ein Kind mit solchen Wechseln und Brüchen zurecht?
Agee: Als Kind kommt man ganz gut damit zurecht. Als ich als Achtjähriger nach Deutschland kam, ich hatte schon Deutsch gehört zu Hause, denn es gab ja andere exilierte Deutsche in Mexiko, wo wir gelebt hatten. Die Sprache war mir vom Klang her schon vertraut. Ich bekam dann einen Hilfslehrer oder einen Deutschlehrer, der mir die Rudimente der Sprache beibrachte. Und dann kam ich in die Dorfschule in Groß-Glienicke, und innerhalb eines Jahres war ich einfach eines der Kinder in dem Dorf. Das ging ziemlich schnell.
König: In Mexiko, das beschreiben Sie in Ihrem Buch, hatten Sie als Kind sehr darunter gelitten, trotz aller Anpassungsversuche, immer doch ein Gringo zu sein, also ein Fremder. In Ihrem Buch "Zwölf Jahre: Eine Jugend in Ostdeutschland" beschreiben Sie, wie schnell Sie sich mit den Kindern des Dorfes Groß-Glienicke angefreundet haben, wie Sie da ein richtiger DDR-Jugendlicher wurden. Inwieweit war das eine normale Jugend für Sie?
Agee: Ich hatte ja keinen Maßstab, mit dem ich meine Normalität messen könnte. Es war durchaus normal. Es war einfach das Leben, so wie es war. Ich wurde mit völliger Selbstverständlichkeit junger Pionier, wie es ja viele wurden und wie es auf jeden Fall von dem Kind einer fortschrittlichen Familie erwartet wurde, und spielte mit den Kindern die Spiele, die gespielt wurden. Wir spielten Indianer und - das waren deutsche Spiele, die Deutschen spielen Indianer auf ganz andere Weise als Amerikaner. Aber ich kannte die amerikanischen Spiele nicht.
König: Wie spielen Amerikaner Indianer?
Agee: Na, die Indianer sind erstmal nicht so geachtet in Amerika, als sie in Deutschland sind. Ich bin einem Indianer mal begegnet. Der sagte mir: "Do you know Karl May?", sagte er.
König: Kennen Sie Karl May?
Agee: Da sagt er, Karl May hat für uns mehr getan als irgendein anderer Weißer in der Welt.
König: Mr. Agee, Sie lebten von 1948 bis 1960 in Groß Glienicke beziehungsweise in der DDR. Ihre Mutter war eine Jüdin, war eine ziemlich extravagante Person - das beschreiben Sie ja sehr schön, die zum Beispiel im Dorf als Exotin auch auffiel, wenn sie etwa mit Blumen im Haar durch das Dorf ritt. Blieb sie nicht eine Fremde?
Agee: Ja, sie fühlte sich als Fremde und hatte wirkliche Freundschaften mit Deutschen. Auffallend war, es waren fast alles Leute, die im Ausland gewesen waren, irgendwo. Und sie hatte das Gefühl, dass die Deutschen, die irgendwann mal außerhalb Deutschlands gelebt hatten, für sie leichter zugänglich waren. Sie fühlte sich wohler mit ihnen als mit denen, die es nicht gewesen waren. Und als Jüdin hatte sie natürlich sehr starke Ressentiments gegen die "Herrenrasse", also die sie jetzt so direkt beobachten konnte.
Und es waren nicht besonders freundliche oder freudige Menschen, es war viel Bitternis. Und ich erinnere mich, wie sie einmal so mit ziemlicher Verachtung sagte: "Guck sie dir mal an, das ist die Herrenrasse, das sind sie." Und mir klang das, ich dachte, ja, jetzt ist sie rassistisch, das ist Rassismus. Obwohl ich das völlig verstehe, dass sie diese Gefühle hatte, konnte ich zu der Zeit nicht an ihnen teilhaben, es waren ja die Eltern meiner Freunde. Und ich wollte nur so sein wie meine Freunde, nichts anderes.
König: Über Ihre Mutter haben wir gesprochen, reden wir über Ihren Stiefvater. Bodo Uhse war ein namhafter kommunistischer Schriftsteller in der DDR, 1904 in eine deutschnationale Familie hineingeboren, galt in der DDR so als gradliniger Antifaschist, der die Kriegsjahre auch im Exil verbracht hatte. Er ist hervorgetreten mit Erzählungen, Romanen, Drehbüchern, wurde 1962 Chefredakteur der Ostberliner Literaturzeitschrift "Sinn und Form" als Nachfolger des Lyrikers Peter Huchel. Der war von der SED aus dem Amt gedrängt worden, und Uhse hatte nun die Aufgabe, "Sinn und Form" sozusagen auf Parteilinie zu bringen.
Ich habe ein Zitat gefunden von Marcel Reich-Ranicki, der damals über Bodo Uhse sagte, Zitat: "Vermutlich wird Uhse, der ein Schriftsteller und nicht ein Funktionär ist und einen Blick für literarische Qualität hat, bestrebt sein, eine Zeitschrift - gemeint ist 'Sinn und Form' - eine Zeitschrift zu machen, die die Wünsche seiner Auftraggeber erfüllt und dennoch lesbar bleibt." Zitat Ende. Wie haben Sie Ihren Stiefvater erlebt, gerade in dieser Hin- und-Her-Gerissenheit zwischen schon auch Parteihörigkeit, aber eben doch, ja beseelt auch mit einem individuellen und klugen Kopf?
Agee: Ich habe Bodo so auch erlebt, natürlich aus kindischer Sicht. Aber dass er zerrissen war, dass er als Künstler etwas wollte, was er als Parteimensch nicht unbedingt tun konnte oder sogar gutheißen konnte. Ich sehe das auch, wenn ich in seinen Sachen lese. Reich-Ranicki schrieb einmal: "Er schrieb schlechte Bücher und war ein guter Schriftsteller." Das war ein Satz von ihm, das ist völlig richtig. Man sieht wirklich, wie dieses Parteidenken seiner Kunst ein Bein stellte, das ist doch ziemlich weich ausgedrückt. Es ist nicht künstlerisch.
König: Es ist eigentlich ein unlösbarer Konflikt für einen Schriftsteller?
Agee: Ja, das Schreiben fiel ihm zunehmend schwerer. Er schrieb an einer Romantrilogie am Ende, die hieß "Die Patrioten". Das Thema war: deutsche Widerstandskämpfer während der Nazizeit in Deutschland. Das Schreiben stockte, er kam nicht weiter, er trank, er rauchte und trank sich zu Tode eigentlich. Und man sah dieses Zerwürfnis auch in seinem Gesicht.
König: 1960 trennte sich Ihre Mutter von Bodo Uhse. Sie kamen als 20-Jähriger mit Ihrer Mutter und mit dem Bruder in die USA. Wie haben Sie diesen Wechsel erlebt?
Agee: Das war schwer. Erst mal die Abreise aus der DDR, es war für mich ein wunderbares Ticket. Ich war ja ein sehr schlechter Schüler, das ist milde ausgedrückt. Ich bin zweimal sitzen geblieben, und als es dann zum dritten Mal kam, bin ich aus der Schule ausgeschieden. Ich versprach also, kein vorbildhafter Kommunist und DDR-Bürger zu werden. Und jetzt hatte ich die Möglichkeit, ein ganz neues Leben zu beginnen, auch mit einem neuen Namen, Joel Agee, der ich ja in der DDR nicht gewesen war. Es ist so, wie wenn man inkognito plötzlich leben kann. Das passte mir gut.
Aber dann kam ich in dieses New York, und das war mir alles völlig neu. Und ich war ein ziemlich steifer DDR-Mensch. Man wurde irgendwie auf sehr enge Weise erzogen. Als ich da in die Uni kam, fragte man mich, wie ich denn überhaupt mein Studium gestalten will, was will ich denn lernen, was will ich studieren. Solche Fragen hatte man mir noch nie gestellt. Das wurde mir immer alles vorgeschrieben. Und es dauerte fünf, sechs Jahre, da fing diese Counter Culture an. Die Haare wurden ein bisschen länger, es wurde Kiff geraucht, es war so eine Art Bohemien-Untergrundbewegung. Und da war ich plötzlich Teil davon und sagte, ach, jetzt fühle ich mich wohler, jetzt weiß ich schon, wer ich sein kann hier in diesem Land.
König: Und der DDR-Bürger versank langsam in der eigenen Biografie.
Agee: Ja. Vielleicht zwei, drei Jahre lang vertrat ich bestimmte politische Ideen, mit denen ich aufgewachsen war.
König: Zum Beispiel?
Agee: Zum Beispiel kam die FBI mal auf mich zu und wollten wissen, was ich über dies und das denke, und die fragten mich dann nach dem Einmarsch der Russen in Ungarn und was ich davon halte. Und meine Haltung war ja, das war gut, das war notwendig.
König: Das Gesicht der FBI-Beamten hätte ich gerne gesehen.
Agee: Und der sagte mir dann am Ende dieses Interviews, er fände mich ganz sympathisch und ich solle aber wirklich …
König: … an Ihrer politischen Einstellung ein bisschen arbeiten.
Agee: Nein, er sagte nur: Bilden Sie sich nicht ein, dass Sie unseren Staat stürzen können. Das war mir nie eingefallen, dass man das tun könnte, dass ich das tun könnte.
König: Seit September sind Sie Fellow der American Academy in Berlin, Sie haben Ihr Land also in der heißen Phase des Präsidentschaftswahlkampfes verlassen, und jetzt kommen Sie in ein Land zurück, das eine, wie man, glaube ich, wirklich sagen kann, historische Wahl erlebt hat, bereitet sich auf einen Politikwechsel vor, wie es ihn sehr selten gibt. Was bewegt Sie da?
Agee: Dass der Obama gewählt wurde, hat mich ungeheuer bewegt. Es ist wunderbar. Nicht nur weil er ein Schwarzer ist, sondern weil er, es ist eine Qualität in diesem Mann, die man bei Politikern selten sieht. Es ist ein Mensch, der reflektiert. Er wird vielleicht gar nicht mal viel erreichen können in dieser Situation. Es ist ja sehr vieles, was außerhalb seiner Fähigkeit liegt, irgendetwas zu tun. Aber ich glaube, etwas ist in Bewegung gesetzt worden durch diese Wahl.
Und man muss noch absehen, was in den Menschen geschieht, die zur Handlung und zum Wählen bewegt wurden überhaupt von seiner Kandidatur. Er hat ja ab und zu, also rhetorisch gesagt, ich kann ja wenig tun, ihr müsst das tun. Das stimmt ja auch. Und ich bin gespannt darauf, was die jüngere Generation jetzt, was sie tun, was sie sagen, was sie verlangen. Ich glaube, das wird eine sehr bewegte Zeit sein.
König: Ein Leben in drei Kulturen, der Schriftsteller Joel Agee. Sein Buch "Zwölf Jahre: Eine amerikanische Jugend in Ostdeutschland" wird demnächst im Hanser-Verlag wieder auf Deutsch erscheinen. Herr Agee, alles Gute für Sie und für die Rückkehr nach New York und vielen Dank für Ihren Besuch.
Agee: Vielen Dank.
Winfried Sträter: Er hat als junger Mensch in drei Kulturen gelebt, in drei sehr verschiedenen Welten: in Mexiko, in der DDR, in den USA. 1940 wurde Joel Agee in den USA geboren. 1942 trennte sich seine Mutter vom Vater, dem Schriftsteller James Agee. In Mexiko lernte sie einen Deutschen im Exil kennen, den Spanienkämpfer und kommunistischen Schriftsteller Bodo Uhse. Sie heiratete ihn, die Familie lebte bis 1948 in Mexiko und siedelte dann in die DDR über.
Joel war acht Jahre alt, und sein Stiefvater Bodo Uhse war einer der antifaschistischen Intellektuellen, auf deren Unterstützung die DDR beim Staatsaufbau setzte. Deshalb wurde der Familie eine Villa am See am Berliner Grenzort Groß Glienicke zur Verfügung gestellt, mit Chauffeur und Dienstmädchen - eine privilegierte Existenz im Arbeiter- und Bauernstaat. Über diese ungewöhnliche Geschichte hat Joel Agee ein Buch geschrieben, das im Hanser-Verlag demnächst wieder erscheinen wird: "Zwölf Jahre: Eine amerikanische Jugend in Ostdeutschland". Seit 1960, als sich seine Mutter von Bodo Uhse trennte, lebt Joel Agee wieder in den USA. Ein New Yorker Schriftsteller, der sich zurzeit in Deutschland aufhält.
König: Joel Agee schreibt zurzeit an einem neuen Roman als Fellow der American Academy in Berlin und ist jetzt mein Gast. Ich freue mich sehr.
Joel Agee: Ich freue mich auch.
König: Herr Agee, Sie haben als Kind und Jugendlicher in drei Kulturen gelebt, in Mexiko, in der DDR, in den USA. Wie kommt ein Kind mit solchen Wechseln und Brüchen zurecht?
Agee: Als Kind kommt man ganz gut damit zurecht. Als ich als Achtjähriger nach Deutschland kam, ich hatte schon Deutsch gehört zu Hause, denn es gab ja andere exilierte Deutsche in Mexiko, wo wir gelebt hatten. Die Sprache war mir vom Klang her schon vertraut. Ich bekam dann einen Hilfslehrer oder einen Deutschlehrer, der mir die Rudimente der Sprache beibrachte. Und dann kam ich in die Dorfschule in Groß-Glienicke, und innerhalb eines Jahres war ich einfach eines der Kinder in dem Dorf. Das ging ziemlich schnell.
König: In Mexiko, das beschreiben Sie in Ihrem Buch, hatten Sie als Kind sehr darunter gelitten, trotz aller Anpassungsversuche, immer doch ein Gringo zu sein, also ein Fremder. In Ihrem Buch "Zwölf Jahre: Eine Jugend in Ostdeutschland" beschreiben Sie, wie schnell Sie sich mit den Kindern des Dorfes Groß-Glienicke angefreundet haben, wie Sie da ein richtiger DDR-Jugendlicher wurden. Inwieweit war das eine normale Jugend für Sie?
Agee: Ich hatte ja keinen Maßstab, mit dem ich meine Normalität messen könnte. Es war durchaus normal. Es war einfach das Leben, so wie es war. Ich wurde mit völliger Selbstverständlichkeit junger Pionier, wie es ja viele wurden und wie es auf jeden Fall von dem Kind einer fortschrittlichen Familie erwartet wurde, und spielte mit den Kindern die Spiele, die gespielt wurden. Wir spielten Indianer und - das waren deutsche Spiele, die Deutschen spielen Indianer auf ganz andere Weise als Amerikaner. Aber ich kannte die amerikanischen Spiele nicht.
König: Wie spielen Amerikaner Indianer?
Agee: Na, die Indianer sind erstmal nicht so geachtet in Amerika, als sie in Deutschland sind. Ich bin einem Indianer mal begegnet. Der sagte mir: "Do you know Karl May?", sagte er.
König: Kennen Sie Karl May?
Agee: Da sagt er, Karl May hat für uns mehr getan als irgendein anderer Weißer in der Welt.
König: Mr. Agee, Sie lebten von 1948 bis 1960 in Groß Glienicke beziehungsweise in der DDR. Ihre Mutter war eine Jüdin, war eine ziemlich extravagante Person - das beschreiben Sie ja sehr schön, die zum Beispiel im Dorf als Exotin auch auffiel, wenn sie etwa mit Blumen im Haar durch das Dorf ritt. Blieb sie nicht eine Fremde?
Agee: Ja, sie fühlte sich als Fremde und hatte wirkliche Freundschaften mit Deutschen. Auffallend war, es waren fast alles Leute, die im Ausland gewesen waren, irgendwo. Und sie hatte das Gefühl, dass die Deutschen, die irgendwann mal außerhalb Deutschlands gelebt hatten, für sie leichter zugänglich waren. Sie fühlte sich wohler mit ihnen als mit denen, die es nicht gewesen waren. Und als Jüdin hatte sie natürlich sehr starke Ressentiments gegen die "Herrenrasse", also die sie jetzt so direkt beobachten konnte.
Und es waren nicht besonders freundliche oder freudige Menschen, es war viel Bitternis. Und ich erinnere mich, wie sie einmal so mit ziemlicher Verachtung sagte: "Guck sie dir mal an, das ist die Herrenrasse, das sind sie." Und mir klang das, ich dachte, ja, jetzt ist sie rassistisch, das ist Rassismus. Obwohl ich das völlig verstehe, dass sie diese Gefühle hatte, konnte ich zu der Zeit nicht an ihnen teilhaben, es waren ja die Eltern meiner Freunde. Und ich wollte nur so sein wie meine Freunde, nichts anderes.
König: Über Ihre Mutter haben wir gesprochen, reden wir über Ihren Stiefvater. Bodo Uhse war ein namhafter kommunistischer Schriftsteller in der DDR, 1904 in eine deutschnationale Familie hineingeboren, galt in der DDR so als gradliniger Antifaschist, der die Kriegsjahre auch im Exil verbracht hatte. Er ist hervorgetreten mit Erzählungen, Romanen, Drehbüchern, wurde 1962 Chefredakteur der Ostberliner Literaturzeitschrift "Sinn und Form" als Nachfolger des Lyrikers Peter Huchel. Der war von der SED aus dem Amt gedrängt worden, und Uhse hatte nun die Aufgabe, "Sinn und Form" sozusagen auf Parteilinie zu bringen.
Ich habe ein Zitat gefunden von Marcel Reich-Ranicki, der damals über Bodo Uhse sagte, Zitat: "Vermutlich wird Uhse, der ein Schriftsteller und nicht ein Funktionär ist und einen Blick für literarische Qualität hat, bestrebt sein, eine Zeitschrift - gemeint ist 'Sinn und Form' - eine Zeitschrift zu machen, die die Wünsche seiner Auftraggeber erfüllt und dennoch lesbar bleibt." Zitat Ende. Wie haben Sie Ihren Stiefvater erlebt, gerade in dieser Hin- und-Her-Gerissenheit zwischen schon auch Parteihörigkeit, aber eben doch, ja beseelt auch mit einem individuellen und klugen Kopf?
Agee: Ich habe Bodo so auch erlebt, natürlich aus kindischer Sicht. Aber dass er zerrissen war, dass er als Künstler etwas wollte, was er als Parteimensch nicht unbedingt tun konnte oder sogar gutheißen konnte. Ich sehe das auch, wenn ich in seinen Sachen lese. Reich-Ranicki schrieb einmal: "Er schrieb schlechte Bücher und war ein guter Schriftsteller." Das war ein Satz von ihm, das ist völlig richtig. Man sieht wirklich, wie dieses Parteidenken seiner Kunst ein Bein stellte, das ist doch ziemlich weich ausgedrückt. Es ist nicht künstlerisch.
König: Es ist eigentlich ein unlösbarer Konflikt für einen Schriftsteller?
Agee: Ja, das Schreiben fiel ihm zunehmend schwerer. Er schrieb an einer Romantrilogie am Ende, die hieß "Die Patrioten". Das Thema war: deutsche Widerstandskämpfer während der Nazizeit in Deutschland. Das Schreiben stockte, er kam nicht weiter, er trank, er rauchte und trank sich zu Tode eigentlich. Und man sah dieses Zerwürfnis auch in seinem Gesicht.
König: 1960 trennte sich Ihre Mutter von Bodo Uhse. Sie kamen als 20-Jähriger mit Ihrer Mutter und mit dem Bruder in die USA. Wie haben Sie diesen Wechsel erlebt?
Agee: Das war schwer. Erst mal die Abreise aus der DDR, es war für mich ein wunderbares Ticket. Ich war ja ein sehr schlechter Schüler, das ist milde ausgedrückt. Ich bin zweimal sitzen geblieben, und als es dann zum dritten Mal kam, bin ich aus der Schule ausgeschieden. Ich versprach also, kein vorbildhafter Kommunist und DDR-Bürger zu werden. Und jetzt hatte ich die Möglichkeit, ein ganz neues Leben zu beginnen, auch mit einem neuen Namen, Joel Agee, der ich ja in der DDR nicht gewesen war. Es ist so, wie wenn man inkognito plötzlich leben kann. Das passte mir gut.
Aber dann kam ich in dieses New York, und das war mir alles völlig neu. Und ich war ein ziemlich steifer DDR-Mensch. Man wurde irgendwie auf sehr enge Weise erzogen. Als ich da in die Uni kam, fragte man mich, wie ich denn überhaupt mein Studium gestalten will, was will ich denn lernen, was will ich studieren. Solche Fragen hatte man mir noch nie gestellt. Das wurde mir immer alles vorgeschrieben. Und es dauerte fünf, sechs Jahre, da fing diese Counter Culture an. Die Haare wurden ein bisschen länger, es wurde Kiff geraucht, es war so eine Art Bohemien-Untergrundbewegung. Und da war ich plötzlich Teil davon und sagte, ach, jetzt fühle ich mich wohler, jetzt weiß ich schon, wer ich sein kann hier in diesem Land.
König: Und der DDR-Bürger versank langsam in der eigenen Biografie.
Agee: Ja. Vielleicht zwei, drei Jahre lang vertrat ich bestimmte politische Ideen, mit denen ich aufgewachsen war.
König: Zum Beispiel?
Agee: Zum Beispiel kam die FBI mal auf mich zu und wollten wissen, was ich über dies und das denke, und die fragten mich dann nach dem Einmarsch der Russen in Ungarn und was ich davon halte. Und meine Haltung war ja, das war gut, das war notwendig.
König: Das Gesicht der FBI-Beamten hätte ich gerne gesehen.
Agee: Und der sagte mir dann am Ende dieses Interviews, er fände mich ganz sympathisch und ich solle aber wirklich …
König: … an Ihrer politischen Einstellung ein bisschen arbeiten.
Agee: Nein, er sagte nur: Bilden Sie sich nicht ein, dass Sie unseren Staat stürzen können. Das war mir nie eingefallen, dass man das tun könnte, dass ich das tun könnte.
König: Seit September sind Sie Fellow der American Academy in Berlin, Sie haben Ihr Land also in der heißen Phase des Präsidentschaftswahlkampfes verlassen, und jetzt kommen Sie in ein Land zurück, das eine, wie man, glaube ich, wirklich sagen kann, historische Wahl erlebt hat, bereitet sich auf einen Politikwechsel vor, wie es ihn sehr selten gibt. Was bewegt Sie da?
Agee: Dass der Obama gewählt wurde, hat mich ungeheuer bewegt. Es ist wunderbar. Nicht nur weil er ein Schwarzer ist, sondern weil er, es ist eine Qualität in diesem Mann, die man bei Politikern selten sieht. Es ist ein Mensch, der reflektiert. Er wird vielleicht gar nicht mal viel erreichen können in dieser Situation. Es ist ja sehr vieles, was außerhalb seiner Fähigkeit liegt, irgendetwas zu tun. Aber ich glaube, etwas ist in Bewegung gesetzt worden durch diese Wahl.
Und man muss noch absehen, was in den Menschen geschieht, die zur Handlung und zum Wählen bewegt wurden überhaupt von seiner Kandidatur. Er hat ja ab und zu, also rhetorisch gesagt, ich kann ja wenig tun, ihr müsst das tun. Das stimmt ja auch. Und ich bin gespannt darauf, was die jüngere Generation jetzt, was sie tun, was sie sagen, was sie verlangen. Ich glaube, das wird eine sehr bewegte Zeit sein.
König: Ein Leben in drei Kulturen, der Schriftsteller Joel Agee. Sein Buch "Zwölf Jahre: Eine amerikanische Jugend in Ostdeutschland" wird demnächst im Hanser-Verlag wieder auf Deutsch erscheinen. Herr Agee, alles Gute für Sie und für die Rückkehr nach New York und vielen Dank für Ihren Besuch.
Agee: Vielen Dank.