"Ich wollte einmal in Kabul kämpfen"

Hamid Rahimi im Gespräch mit Joachim Scholl · 03.11.2013
Der Profiboxer Hamid Rahami flüchtete vor fast 20 Jahren mit seiner Familie vor dem afghanischen Bürgerkrieg nach Deutschland. Im Oktober 2012 kehrte er in das Land zurück – für einen Boxkampf. Er wollte den Jugendlichen ein neues Idol geben, sagt er und erinnert sich an "Modern Talking" in Afghanistan.
Joachim Scholl: Ziemlich genau vor einem Jahr, am 30. Oktober 2012, war in Kabul Ausnahmezustand, als der Boxer Hamid Rahimi in seiner Heimatstadt dort den allerersten Profiweltmeisterboxkampf in Afghanistan bestritt und wie ein Held gefeiert wurde. Für Hamid Rahimi war es eine Rückkehr, 1994, mit elf Jahren, war er mit seiner Familie aus Afghanistan geflohen. Jetzt hat er eine Autobiografie geschrieben und heute ist er bei uns im Studio. Willkommen, Hamid Rahimi!

Hamid Rahimi: Dankeschön, vielen Dank für die Einladung!

Scholl: Ja, damals vor einem Jahr, Herr Rahimi, da kamen sie im Triumph nach Afghanistan zurück, jubelnde Menschen auf den Straßen, Sie wurden vom Präsidenten Karzai empfangen und ausgezeichnet. An was erinnern Sie sich am liebsten, was war Ihr stärkster Eindruck bei dieser Rückkehr in diesen Tagen?

Rahimi: Was mir am meisten im Kopf geblieben ist, der Tag danach. Da bin ich mit dem Titel durch Afghanistan. Und man muss sich vorstellen, Afghanistan ist sehr gefährlich, da traut sich nicht mal der Botschafter, im Panzerwagen hat er noch eine Schutzweste an. Und da bin ich aus dem Auto, also Dach auf, und da waren Millionen Menschen.

Und da habe ich einfach meinen Titel hochgehalten und das war sehr schön. Das waren so viele Menschen, ich weiß nicht, wie viel, also, es wurde später in den Nachrichten gesagt, fast 700.000 Menschen oder so. Und das war super, die ganzen Menschen haben sich gefreut, das war ein super schönes Gefühl.

Scholl: Es war ja unglaublich aufwendig, diesen Kampf überhaupt zu organisieren. Die Sicherheitsvorkehrungen müssen ja ein Wahnsinn gewesen sein!

Rahimi: Ja, ja, also, auch meine Idee, das überhaupt durchzusetzen, das alles zu bekommen! Weil am Anfang hat mich keiner verstanden. Es war so, ich wollte unbedingt den Kampf machen, weil als Sportler hat man so eine kurze Karriere, und es war so ein Traum von mir, ich möchte natürlich Weltmeister werden, und ich wollte einmal in Kabul kämpfen. Und ich wollte einfach dieses Symbol.

Weil in Afghanistan ist es so, seit fast 40 Jahren ist das Einzige, sage ich mal, Idol in meinem Land so ein Mann mit einer Waffe. Also, sei es damals die Sowjets oder die Mudschaheddin oder die Taliban oder jetzt auch die ISAF, immer wieder nur Männer mit Kalaschnikows.

Und ich wollte einfach so den Jugendlichen ein neues Idol geben, einen neuen Traum. Und das an dem Tag, wirklich, wo die Menschen da waren, habe ich meinen Titel hochgehalten, und keiner hat auf uns geschossen ... Also, es war super schön, die haben während des Kampfes Hochzeiten unterbrochen, Einkaufszentrum zugemacht, wir hatten über 20 Millionen Einschaltquoten, das muss man sich mal vorstellen, das war unglaublich!

Scholl: Wir kommen noch darauf zurück, auf diesen Tag, auf diesen Kampf, Herr Rahimi. Lassen Sie uns mal zurückschauen! Sie sind 1983 in Kabul geboren, mitten in der sowjetischen Besetzung Afghanistans, Kalaschnikows und explodierende Bomben gehörten zum Alltag. Später, nach dem Abzug der Russen ging der Bürgerkrieg unter den Mudschaheddingruppen los. Man stellt sich das als eine ziemlich gespenstische Kindheit vor, nur Gewalt um einen herum. Wie haben Sie das erlebt?

"Wir Menschen gewöhnen uns an alles"
Rahimi: Am Anfang war das für mich so normal. Weil ich kannte ja nichts anderes, ich bin ja im Krieg geboren. Und es ist komisch, aber wir Menschen gewöhnen uns an alles. Und trotz des Krieges haben wir Geburtstage gefeiert, damals kannten wir "Cheri cheri Lady" von Dieter Bohlen, und wir haben gesungen. Also, es war so ...

Scholl: Modern Talking haben Sie gesungen in Afghanistan?

Rahimi: Ja, das kannten wir damals! Und Bruce-Lee-Filme haben wir uns angeguckt. Also, das Afghanistan von früher war gar nicht so schlecht. Es waren natürlich Tote und Bomben, aber solange die Familie da war, meine Mutter da war und meine Geschwister und mein bester Freund, war alles okay für mich.

Scholl: Das war Kalil. Und da haben Sie mit ansehen müssen, Herr Rahimi, wie er bei einem Bombenanschlag getötet wurde. Von da an konnten Sie nicht mehr sprechen, später haben Sie jahrelang gestottert. Das muss ein furchtbares Erlebnis gewesen sein, wie tief hat Sie dieses Trauma geprägt?

Rahimi: Das hat mich richtig getroffen, das war für mich so ... Da habe ich den Krieg richtig gespürt, weil das war so ... Er war für mich wie ein Bruder, ein Freund, er war für mich so meine heile Welt. Und als er da lag und Blut und diese ganzen ... verbrannte Haare, Rauch, das war schrecklich. An dem Tag, als er gestorben ist und er ist gegangen, da hat er so ein bisschen meine Stimme mitgenommen.

Ich weiß nicht, das war später, wir haben das gesehen, dass das ein Schock ist. Und meine Mutter hat mich sehr oft zu allen Ärzten gebracht, keiner wusste, was ich hatte, ich hatte so ein Trauma. Das war ziemlich hart, das hat mich richtig getroffen, das stimmt.

Scholl: 1994 hat Ihre Mutter gesagt, jetzt ist Schluss, wir müssen hier weg. Ihr Vater lebte damals schon in Deutschland, in Hamburg, und dorthin sind Sie dann auch auf ziemlich abenteuerliche Weise geflüchtet. Wie war diese Ankunft, Herr Rahimi, wie hat Deutschland Sie empfangen?

Rahimi: Am Anfang war es sehr hart, weil wir haben uns natürlich Deutschland erst mal als so ein Paradies vorgestellt. Und wir hatten eigentlich in Afghanistan, mein Vater war Agraringenieur und meine Mutter war Schulleiterin, Vizeschulleiterin und Lehrerin, wir hatten es gar nicht so schlecht dort, außer dieser blöde Krieg, der hat alles so zerstört.

Und als wir nach Deutschland kamen, mein Vater war schon zwei Jahre vor uns hier, und das erste Treffen schon, das war so ein ganz kleines Zimmer, und er war in Afghanistan so ein ganz großer Mann. Und da habe ich ihn gesehen, er war so eingegangen und er war so ein Portier im Hotel, und meine Mutter musste nur arbeiten, sie hatte fast drei bis fünf Jobs.

Scholl: Sie war Schullehrerin früher, und jetzt musste sie putzen.

Rahimi: Ja, sie hat geputzt, sie hat bei einem Pflegedienst gearbeitet, sie hatte sogar Angst vor Hunden und sie musste mit so einem Riesenschäferhund spazieren gehen. Und sie musste alles machen und das war für mich so ... Ich habe gesehen, wie sie leidet, und das habe ich immer gespürt, weil ich hatte eine sehr gute Beziehung zu meiner Mutter. Das war sehr hart.

Und wir waren illegal am Anfang da, mit sechs Leuten in einem Zimmer. Also, alles mit Doppelbetten, wir hatten keine Küche, mussten uns mit mehreren Familien teilen, Badezimmer teilen und das war sehr eng. Und gerade wenn die Familie keine Arbeit hat und nicht weiß, wie es weitergeht, ist auch so ein Stress bei den Eltern, und das färbt sich auch ein bisschen auf uns ab natürlich.

"Wir wussten nie, wann wir wieder abgeschoben wurden"
Scholl: "Die Geschichte eines Kämpfers", so heißt die Autobiografie des afghanischen Boxweltmeisters Hamid Rahimi, und er ist hier bei uns im Deutschlandradio Kultur zu Besuch. Es gab eine Zeit, Herr Rahimi, da hätte man Ihnen nicht begegnen wollen. Als junger Mann wurden Sie nämlich ein richtiger Gangster, ein Schutzgelderpresser, ein Schläger, Drogen waren allgegenwärtig. Wie sind Sie denn auf diese schiefe Bahn gekommen?

Rahimi: Ich habe meinen ... Noch einen Freund von mir damals, den Jamal, den habe ich zufälligerweise, wir haben uns, ich glaube, nach fast 5 Jahren, 4, 5 Jahren, da war ich 15, 16, da haben wir uns in Hamburg getroffen. Und er kannte sich so ein bisschen schon im Milieu aus, der hatte schon Auto, schon Geld, er war auch zwei Jahre älter als ich. Für uns war Bares Wahres und wir wussten nie, wann wir wieder abgeschoben werden und zurückgehen müssen, das waren immer so komische Fragen.

Und er hat mich damals mitgenommen einmal und es ging um 30.000 D-Mark. Und wo er mir sagte, ja, das sind sowieso Verbrecher und der hat Scheiße gebaut und der hat jemanden beklaut und der schuldet jemandem Geld und wir müssen das nur einholen. Die Hälfte hätten wir bekommen, die Hälfte müssten wir abgeben und das wären für mich 7500 D-Mark. Ja, da bin ich hin und da haben wir den Typen auseinandergenommen. Ja, es waren 7500 D-Mark fast in 20 Minuten. Und dafür mussten meine Eltern fast ein Jahr arbeiten.

Scholl: So ging es dann aber ziemlich drastisch und brutal weiter, und Sie hätten einmal beinahe einen Mann getötet, mussten dann ins Gefängnis. Was hat für Sie denn dann, Herr Rahimi, den Umschwung bewirkt, wie kamen Sie denn aus dieser Welt der Gewalt und auch der Drogen wieder raus?

Rahimi: Es war so, als ich im Gefängnis war, im Jugendknast, Hahnöfersand hier in Hamburg, und ich hatte mich so verraten gefühlt. Ich hatte niemanden mehr, ich hatte keine Beziehung zu meiner Familie. Ich war im Gefängnis, und der einzige Gedanke war nur noch Drogen. Das war richtig so ein kalter Entzug für mich damals im Jugendknast. Und ich war so ganz, ganz unten.

Ich weiß noch, ich hatte nichts, ich konnte nicht mal aufstehen. Ich sah so fertig aus, ich war gar kein Mensch mehr. Und zufälligerweise an einem Abend – ich hatte so einen kleinen Fernseher im Gefängnis – habe ich einen Boxkampf gesehen, von Dariusz Michalczewski.

Scholl: Mit dem Tiger.

Rahimi: Genau, dem Tiger, ja, genau. Und ich habe das gesehen, und er war Polnisch-Deutscher, also wie ich Afghanisch-Deutscher. Und er hat damals alle glücklich gemacht in der Halle mit seinen Fäusten. Und er hat gekämpft und er hat richtig gekämpft, er hat gelitten, und er hat gekämpft, und er hat ...

Seine Familie war glücklich, die ganze Halle war glücklich. Und meine Mutter hat in der Zeit im Knast nur geweint, ich habe alle unglücklich gemacht, ich habe nur Pech gebracht. Und ich habe gesehen, hey, der kämpft, ich kann auch kämpfen! Der hat mich irgendwie so motiviert, der hat mir einen Traum gegeben.

Ich hatte in meinem Leben nie Vorbilder und irgendwo hatte ich dann auf einmal ein Vorbild. Dann habe ich angefangen, wirklich im Gefängnis zu trainieren, zu trainieren und trainieren, ich habe in meiner Zelle drei Meter, drei Schritte, vier Schritte, habe ich mir so einen Eimer von der Küche mehr oder weniger geklaut und mit Wasser voll gemacht, und ich habe richtig viel trainiert. Das hat mir auch viel geholfen, meine Suchtgedanken ... Weil im Gefängnis, die haben mich manchmal echt erdrückt.

Hamid Rahimi nach dem Boxkampf gegen Said Mbelwa am 30.1012 in Kabul
Hamid Rahimi nach dem Boxkampf in Kabul© dpa / picture alliance / S. Sabawoon
"Ich habe sehr viele Schmerzen gelitten"
Scholl: Es fing dann wirklich ein neues Leben an. Und als Boxer machten Sie dann relativ rasch Karriere. Und kommen wir noch mal auf Ihren Kampf zurück, 2012 in Kabul, von dem Sie schon vorhin erzählt haben, das ging auch auf Ihre Initiative zurück. Sie wollten das als Symbol des Friedens verstanden wissen, "Fight for Peace" haben Sie die Aktion genannt. Und man sieht Sie jetzt in Ihrem Buch, Herr Rahimi, auf mehreren Fotografien mit afghanischen Kindern, wie Sie mit denen sprechen, und die wie Sie auch in einer Welt der Gewalt aufgewachsen sind. Was können Sie diesen Kindern erzählen, mitgeben?

Rahimi: Sehr viel, verdammt viel. Es ist so, es sind nicht nur die Kinder in Afghanistan, auch in Deutschland. Ich bin ein Flüchtling von Millionen, ob Syrer, Afghanen, Irak oder Libanon, egal wo: Man kann ein Kriegskind aus dem Krieg nehmen, aber den Krieg aus ihm herauszuholen, das dauert sehr lange. Und das sind manche böse Dämonen, die in einem stecken.

Ich habe sehr viele Schmerzen gelitten, bis ich zu mir kam und bis ich wusste, wie ich mit diesen Dämonen umgehen muss. Und das sind Erfahrungen, wo ich einfach Jugendlichen eine Richtung zeigen kann, eine bessere Richtung, dass sie sich nicht so verlieren wie ich.

Scholl: Ihr Buch ist zu Anfang sehr poetisch geschrieben, dann wird es brutal und dreckig, am Ende entsteht so etwas wie Frieden. Wie war das für Sie, Herr Rahimi, sich so an Ihr eigenes Leben zu erinnern, war dieses Buch auch eine Art Bewältigung für Sie?

Rahimi: Ja, auf jeden Fall, es war eine Art Therapie für mich. Und auch der letzte Kampf in Afghanistan. Weil, ich sage mal, egal, wie jung man ist, egal, wie klein man ist: Wenn man irgendwo flüchtet, dann fühlt man sich so komisch, man fühlt sich so ... Man hat seine Identität dagelassen, man hat seine Sprache, man hat seine Freunde, man hat seine Erinnerungen, man fühlt sich irgendwie so komisch, wenn man irgendwo weggeht einfach so, das im Krieg lässt.

Und man hat sich in Sicherheit gebracht, aber man weiß, die anderen, die man kennt, die sind nicht in Sicherheit. Und irgendwie hatte ich das immer in mir. Und als ich zurück war und diesen Kampf "Fight for Peace" genannt habe und die ganzen Menschen so mobilisiert habe, die ganzen Jugendlichen, alle sind auf die Straßen, "Fight for Peace", die haben das auf die Autos geklebt ... Und irgendwie, ich glaube sehr, sehr, sehr an die Kraft des Sports.

Sport hat wirklich mein Leben gerettet. Und ich glaube auch bis heute, ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir in Afghanistan mit Sport wirklich Frieden schaffen können.

Und das hat fast eineinhalb, zwei Jahre gedauert, keiner hat mir geholfen, keiner hat mir finanziell geholfen, nichts. Wir haben wirklich alles, alles selbst gemacht. Und das war ... Wenn wir heute sehen, was wir in Kabul erreicht haben ... Also, nur in Kabul gab es früher vier Box-Gyms, und heute sind das 42, das ist unglaublich! Das ist echt ein schönes Gefühl!

Scholl: Hamid Rahimi, alles Gute für Sie und für Ihr Engagement in Afghanistan, danke, dass Sie bei uns waren!

Rahimi: Vielen Dank, danke auch!

Scholl: Und die Autobiografie von Hamid Rahimi, geschrieben zusammen mit Mariam Noori, ist im Osburg-Verlag erschienen, hat 372 Seiten und kostet 19,95 Euro. Und wer Hamid Rahimi einmal im Ring erleben möchte als Boxer, am 15. November wird es in den Hamburger Messehallen einen Charity-Kampf geben. Und mit den Einnahmen werden soziale Einrichtungen in Afghanistan unterstützt.


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