„Ich will mal zuschauen, was passiert“
Der heute stattfindende Integrationsgipfel ist nach Ansicht des türkischstämmigen Autors und Publizisten Zafer Senocak trotz seines Showcharakters eine Chance für die Integrationspolitik in Deutschland. Der Gipfel gebe Anlass zur Hoffnung, dass auch die CDU ihre Integrationspolitik überdenken würde, sagte Senocak im Deutschlandradio Kultur.
Dieter Kassel: Über 80 Leute sind eingeladen zum Integrationsgipfel von Bundeskanzlerin Angela Merkel, der in gut eineinhalb Stunden beginnt. Er beginnt um 10 Uhr 45 mit einem Pressetermin. Dort wird man dann die Bundeskanzlerin, umgeben von Menschen mit Migrationshintergrund, sehen können. Und die Liste der Eingeladenen, die ist sehr groß und sehr, na ja, vielseitig, könnte man sagen, wenn man es positiv sehen will. Diese Liste reicht von WDR-Intendant Fritz Pleitgen bis zum Präsidenten des Deutschen Fußball-Bundes, Theo Zwanziger. Und auf der anderen Seite vom Vorsitzenden der Deutsch-Türkischen Gesundheitsstiftung,Yasar Bilgin, bis zum Sieger der Berliner „Landesbestenehrung in IHK-Berufen“, Burhan Kocazlan – ich wusste bisher gar nicht, dass es diese Ehrung gibt, aber das zumindest hat der Integrationsgipfel damit ja schon erreicht. Aber was kann er darüber hinaus noch erreichen? Wo liegt der Sinn dieses Gipfels heute? Darüber wollen wir jetzt sprechen mit Zafer Senocak. Er stammt aus der Türkei, lebt seit langem in Berlin und ist hier als Autor und Publizist tätig. Schönen guten Morgen.
Zafer Senocak: Ja guten Morgen.
Kassel: Sie sind nicht dabei, nachher bei Angela Merkel. Wären Sie denn gern dabei gewesen?
Senocak: Nein. Darum geht es nicht, ob man dabei gewesen wäre gerne. Also ich schreibe über diese Themen seit Jahren, und diese Texte stehen in Zeitungen. Ich glaube, es ist für mich zum Beispiel nicht unbedingt wichtig, dort dabei zu sein, weil man einfach nachlesen kann, was ich darüber denke, nachdenke. Und so geht es auch mit verschiedenen Gruppen, die nicht dabei sind. Mein Gott, es gibt Möglichkeiten, die Meinungen, die man zu diesen Themen hat, auch Vorschläge, öffentlich kundzutun. Und es gibt, glaube ich, auf dieser Liste eine Reihe von Zwischenfiguren, Vermittlern, die dann auch Meinungen von verschiedenen anderen Gruppen da hineintragen. Also es gab, es gibt ja in dieser türkischen Community zurzeit so eine Diskussion: Warum bin ich nicht eingeladen worden? Warum ist der nicht eingeladen? Und ich glaube, dass es wichtiger ist, dass man nicht nur eine Expertenrunde hat, sondern auch viele praktische Leute, also Leute, die praktisch tätig sind – im Sportbereich, im Wirtschaftsbereich. Was mir ein bisschen auffällt in der Liste, ist, dass die Kultur kaum vertreten ist – also Kultur jetzt im engeren Sinne –, soweit ich das überfliegen konnte. Das ist natürlich ein Phänomen, das wir eigentlich seit 20, 30 Jahren beobachten, dass das Migrationsthema zwar immer ein Kulturthema ist, aber in der Kultur nicht stattfindet, sondern eben mehr in der Sicherheitspolitik, in der Innenpolitik, in den juristischen Fragen. Und das ist vielleicht ein bisschen etwas, was wir überwinden müssen in den nächsten Jahren. Dass wir begreifen, dass es hier auch um emotionale Probleme geht. Dass es hier, wenn wir über Sprache reden, dass es eben nicht nur Beherrschen von Sprache, sondern man wird ja von Sprache auch beherrscht. Es ist ja ein emotionales Verhältnis, das man zur Sprache hat. Und zur deutschen Sprache, wie baut man da zum Beispiel ein emotionales Verhältnis auf, wenn man einfach nach Deutschland kommt, ja?
Kassel: Über die Kultur, das ist uns auch aufgefallen in der Redaktion, das übrigens im engeren, selbst im weiteren Sinne – es ist auch kein türkischstämmiger Popmusiker oder Fatih Akin zum Beispiel, der Regisseur, die sind alle nicht dabei. Kommen wir dazu vielleicht gleich noch. Zunächst zu dieser Frage des Symbolcharakters. Es hat ja viel Kritik gegeben im Vorfeld. Die Grünen, viele Politiker haben das gesagt, der Interkulturelle Rat in Deutschland unter anderem auch: Das ist reine Show, das ist reine Symbolpolitik und bringt nichts. Das sehen Sie offenbar anders?
Senocak: Nein. Ich sehe das deshalb anders, weil ich dem eine Chance geben will, ich will mal zuschauen, was passiert. Ich habe das Gefühl, dass es in der Union mehr und mehr Politiker gibt, die einfach die Lage ein bisschen klarer erkennen. Und späte Einsicht ist ja besser als gar keine Einsicht. Wir haben ja in den 90er Jahren – und da habe ich ja auch viele Texte dazu geschrieben – leider eine Blockade gehabt, das muss man einfach sagen. Eine Blockade. Was für eine Blockade? Wir haben gesagt: Deutschland ist kein Einwanderungsland; diese Themen interessieren uns nicht; das sind marginale Themen, über die irgendwelche Intellektuelle diskutieren können oder meinetwegen vor Ort kann man da irgendwie was machen, lokal, aber wir sind kein Einwanderungsland, wir brauchen das nicht als sozusagen so oben aufgehängt. Es gab ja zum Beispiel auch keinen Minister für oder eine Ministerin für Integrationsfragen. Es ging alles immer über die so genannten Ausländerbeauftragten. Und in den Städten hatte man Ausländerbeiräte, ja?
Das waren praktisch so völlig, politisch im Grunde genommen ungewichtige Gremien, in denen man den so genannten Ausländern – so nannte man sie auch noch damals – vorgaukelte, irgendwas für ihn, für sie getan. Es wurde natürlich nichts getan. Und all diese versäumte Zeit müssen wir jetzt nachholen. Aber wir müssen auch uns verabschieden von vielen verschiedenen Bildern der Migration. Zum Beispiel diese Frage der Integration. Was ist das eigentlich? Es heißt immer, die Zuwanderer müssen sich an die Gesetze halten. Natürlich. Das ist doch eine Selbstverständlichkeit! Wenn ich in ein Land komme, egal wohin, muss ich mich an die Gesetze halten. Wer sich nicht an die Gesetze hält, der hat ein Problem. Das muss auch so sein. Das muss auch klar so benannt werden. Dass diese Gesetze auch da hineinreichen, manchmal, in Vorstellungen, wie zum Beispiel man Frauen behandelt, wie man die Geschlechtergleichstellung erreicht, wie man die Kinder erzieht und aufzieht, wie man die Schulpflicht einhält, das ist eine Selbstverständlichkeit. Das muss klarer formuliert werden. Warum müssen wir es immer ethnisch formulieren? Gilt das nicht für die originär Deutschen auch?
Kassel: Aber bleiben wir doch trotzdem noch mal kurz bei der CDU, die Sie da ja jetzt offenbar in einem positiven Licht sehen, gerade durch diesen Gipfel. Richtig?
Senocak: Eine Hoffnung.
Kassel: Eine Hoffnung. Aber wenn wir sehen, Sie haben den Integrationsminister erwähnt, da gibt es eigentlich einen auf Landesebene so richtig, der auch so genannt wird. Der ist von der CDU, in Nordrhein-Westfalen, Herr Laschet. Der hat eine relativ launige Bemerkung eigentlich nur gemacht, vor ein paar Tagen – die er schon ernst meinte, aber wie er so ist, der Rheinländer, hat er gesagt –: Warum soll nicht auch – das sei auch so bei ihm in seinem Land – ein Türke stolz sein auf den Kölner Dom und dann geht er trotzdem noch nebenan in die Moschee. Und in dem Zusammenhang hat er auch noch vom „Einwanderungsland“ und der „multikulturellen Gesellschaft“ gesprochen und -zack! – hat er sofort Ärger in der eigenen Partei bekommen.
Senocak: Ja natürlich.
Kassel: Also Herr Koch aus Hessen hat sofort gesagt, das ist nicht so...
Senocak: Ach, natürlich.
Kassel: ... der hat auch wörtlich gesagt: Deutschland ist kein Einwanderungsland.
Senocak: Ja, natürlich. Das wird auch so bleiben eine Zeit lang. Also die CDU wird nicht die Position der Grünen übernehmen, nicht? Das ist klar. Aber es ist überhaupt wichtig, dass eine Diskussion in dieser Partei stattfindet. Es ist eine große Volkspartei. Und wir haben hier in Deutschland leider ein Problem. Ein Problem, das eigentlich etwas Gutes ist auch: Wir haben in Deutschland rechts am Rand keine große Partei. Was heißt das? Das heißt, dass Leute, die, sagen wir mal: national denken, im engeren Sinne, ja? – jetzt nicht patriotisch, wie wir das jetzt so formulieren, so fröhlich patriotisch, sondern schon eher national –, die gibt es ja in Deutschland, wenn man Umfragen hat, hat man immer so 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung steht eher am rechten Rand, ja? Für diese Leute gibt es in Frankreich, in Italien, in Belgien, in Holland, überall gibt es Parteien für diese Leute. In Deutschland gibt es diese Splitterparteien am rechten Rand, die mal hier und da so als Bösewichte auftauchen und dann wieder verschwinden. Die Leute wählen zum großen Teil die Union. Auch teilweise SPD manchmal und andere Parteien, PDS und so weiter, aber zum großen Teil Union. Das heißt, diese Politik, die ich sehr gut kenne noch aus Bayern – ich habe ja lange in Bayern gelebt –, diese CSU-Politik auch – „Wir müssen den rechten Rand demokratisch einbinden“ – führt immer wieder zu einer fatalen Signalwirkung, dass man eigentlich eine Politik der Abschottung, über Jahre, gegenüber diesen Themen durchgeführt hat. Und es gibt auch ein geistiges Problem, ein geistiges Problem, mentales Problem: Dass man eigentlich die Zuwanderung nicht will. Das hat man ja schon gesehen an so Begriffen wie „Zuwanderungsbegrenzungsgesetz“, ja? Als ginge es in Deutschland heute darum, Zuwanderung zu begrenzen. Es kommt niemand nach Deutschland, ja? Wir haben ein Minus demografisch im Inland und wir haben ein Minus auch in Zuwanderungszahlen. Das müssen wir klar mal sehen. Und es bürgert sich auch kaum jemand ein. Wir haben aber, wie gesagt, diese riesige Debatte gehabt um Einbürgerungsfragen, als stünden da jetzt Hunderttausende, die den deutschen Pass wollten. Aber die Leute wollen den deutschen Pass gar nicht. Und das ist die Frage, die uns eigentlich beschäftigen müsste. Und ein paar Leute, ich habe das Gefühl, ein paar Leute merken das.
Kassel: Bleiben wir noch mal bei der Symbolwirkung jetzt auf die anderen. Da haben sich auch Leute zu geäußert. Wir haben jetzt gesprochen über die CDU/CSU und ihre Wähler und welche Wirkung da so ein Integrationsgipfel haben kann. Wie ist das denn mit den – wir haben leider kein besseres Wort, ich nehme wieder das komplizierte –, den Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland, welcher Nationalität auch immer? Hat so ein Integrationsgipfel auf die eine Symbolwirkung?
Senocak: Ja und nein. Ich habe das Gefühl, es wird eine richtige Symbolwirkung erst dann geben, wenn die Menschen das Gefühl haben, sie werden als Menschen, als einzelne Menschen wahrgenommen – nicht als Gruppen, als Türken, als Italiener, als wie auch immer. Jetzt haben wir sogar diesen „Menschen mit Migrationshintergrund“, also diese Riesengruppe, fast 15 Millionen, ja? Kann man ja wiederum sich denken: Mein Gott, ja? Deutschland ist irgendwie umgekippt, ja? Das sind natürlich alle möglichen Menschen mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen drin. Das ist auch das Schöne, das Interessante. Die Spannungen müssen auf den Tisch, die Konflikte, über die muss man sprechen. Man muss praktisch vorgehen. Man weiß genau, um was es geht: Es geht darum, Bildungschancen zu verbessern. Das heißt nicht, dass man irgendwelchen armen Menschen hilft, sondern dass man Deutschland fit macht für die nächsten Jahrzehnte. Weil, wir haben insgesamt in der Bildung, in den Schulen haben wir Probleme. Das haben wir ja immer wieder gesehen durch auch verschiedene Berichte. Und das hat nicht nur mit Migration zu tun. Sondern wir haben natürlich auch – und das wird auch alles Geld kosten, das ist eine Frage, ob das überhaupt möglich ist, aber die Investition jetzt ist besser, als sozusagen in Zukunft noch größer in Sicherheit und Polizei und was weiß ich was – wir haben ja gesehen, was in Frankreich so passiert ist – hier zu investieren.
Man muss einfach wahrnehmen, dass man viele verschiedene Fenster öffnen muss, ja? Ich bin zum Beispiel jemand, den man von einem anderen Fenster aus bedienen muss als jemand, der jetzt neu aus der Türkei oder aus einem anderen Land nach Deutschland kommt. Bei mir war es ja eher so: Ich war ja Deutscher und ich bin ja dann zum Ausländer geworden in Deutschland – also, um es mal so zugespitzt zu formulieren. Ich bin als Kind nach Deutschland gekommen, in der Schule war ich fast nur unter Deutschen, ja? In München aufgewachsen und als ich dann als Schriftsteller zu schreiben anfing, war ich einfach ein Schriftsteller aus München und einer, der eben auch deutsche Texte geschrieben hat. Und ich habe gar keine Gedanken mir darüber gemacht: Was ist eigentlich Integration? Ja? Ich bin da einfach reingegangen und bin da geschwommen. Und plötzlich, Ende der 80er Jahre, kam diese Debatte auf, ja? Ausländerdebatte, Ausländerfrage. Eigentlich schon Anfang der 80er Jahre, als damals der Altbundeskanzler Helmut Kohl diese Rückkehrprämien an die Leute gab. 10.000 Mark haben damals die Leute, die zurückgekehrt sind, gekriegt. Übrigens: Was für ein fataler Fehler! Wissen Sie, wer zurückgegangen ist? Das waren die „Goodies“, das waren die, die irgendwas aufgebaut hatten, die hatten ihre Ersparnisse, die hatten super gearbeitet, die hatten gut in die Sozialsysteme investiert und gezahlt und dann haben sie noch 10.000 drauf gekriegt und sind zurückgegangen, ja? Also man muss mal sehen, wie irrational unsere Migrationspolitik die ganze Zeit gelaufen ist. Das ist schrecklich. Das ist ein Scherbenhaufen. Und man kann nur hoffen, dass es besser wird – schlimmer kann es ja nicht kommen.
Kassel: Das ist doch ein schönes Fazit. Ich danke Ihnen, Zafer Senocak.
Senocak: Bitte sehr.
Zafer Senocak: Ja guten Morgen.
Kassel: Sie sind nicht dabei, nachher bei Angela Merkel. Wären Sie denn gern dabei gewesen?
Senocak: Nein. Darum geht es nicht, ob man dabei gewesen wäre gerne. Also ich schreibe über diese Themen seit Jahren, und diese Texte stehen in Zeitungen. Ich glaube, es ist für mich zum Beispiel nicht unbedingt wichtig, dort dabei zu sein, weil man einfach nachlesen kann, was ich darüber denke, nachdenke. Und so geht es auch mit verschiedenen Gruppen, die nicht dabei sind. Mein Gott, es gibt Möglichkeiten, die Meinungen, die man zu diesen Themen hat, auch Vorschläge, öffentlich kundzutun. Und es gibt, glaube ich, auf dieser Liste eine Reihe von Zwischenfiguren, Vermittlern, die dann auch Meinungen von verschiedenen anderen Gruppen da hineintragen. Also es gab, es gibt ja in dieser türkischen Community zurzeit so eine Diskussion: Warum bin ich nicht eingeladen worden? Warum ist der nicht eingeladen? Und ich glaube, dass es wichtiger ist, dass man nicht nur eine Expertenrunde hat, sondern auch viele praktische Leute, also Leute, die praktisch tätig sind – im Sportbereich, im Wirtschaftsbereich. Was mir ein bisschen auffällt in der Liste, ist, dass die Kultur kaum vertreten ist – also Kultur jetzt im engeren Sinne –, soweit ich das überfliegen konnte. Das ist natürlich ein Phänomen, das wir eigentlich seit 20, 30 Jahren beobachten, dass das Migrationsthema zwar immer ein Kulturthema ist, aber in der Kultur nicht stattfindet, sondern eben mehr in der Sicherheitspolitik, in der Innenpolitik, in den juristischen Fragen. Und das ist vielleicht ein bisschen etwas, was wir überwinden müssen in den nächsten Jahren. Dass wir begreifen, dass es hier auch um emotionale Probleme geht. Dass es hier, wenn wir über Sprache reden, dass es eben nicht nur Beherrschen von Sprache, sondern man wird ja von Sprache auch beherrscht. Es ist ja ein emotionales Verhältnis, das man zur Sprache hat. Und zur deutschen Sprache, wie baut man da zum Beispiel ein emotionales Verhältnis auf, wenn man einfach nach Deutschland kommt, ja?
Kassel: Über die Kultur, das ist uns auch aufgefallen in der Redaktion, das übrigens im engeren, selbst im weiteren Sinne – es ist auch kein türkischstämmiger Popmusiker oder Fatih Akin zum Beispiel, der Regisseur, die sind alle nicht dabei. Kommen wir dazu vielleicht gleich noch. Zunächst zu dieser Frage des Symbolcharakters. Es hat ja viel Kritik gegeben im Vorfeld. Die Grünen, viele Politiker haben das gesagt, der Interkulturelle Rat in Deutschland unter anderem auch: Das ist reine Show, das ist reine Symbolpolitik und bringt nichts. Das sehen Sie offenbar anders?
Senocak: Nein. Ich sehe das deshalb anders, weil ich dem eine Chance geben will, ich will mal zuschauen, was passiert. Ich habe das Gefühl, dass es in der Union mehr und mehr Politiker gibt, die einfach die Lage ein bisschen klarer erkennen. Und späte Einsicht ist ja besser als gar keine Einsicht. Wir haben ja in den 90er Jahren – und da habe ich ja auch viele Texte dazu geschrieben – leider eine Blockade gehabt, das muss man einfach sagen. Eine Blockade. Was für eine Blockade? Wir haben gesagt: Deutschland ist kein Einwanderungsland; diese Themen interessieren uns nicht; das sind marginale Themen, über die irgendwelche Intellektuelle diskutieren können oder meinetwegen vor Ort kann man da irgendwie was machen, lokal, aber wir sind kein Einwanderungsland, wir brauchen das nicht als sozusagen so oben aufgehängt. Es gab ja zum Beispiel auch keinen Minister für oder eine Ministerin für Integrationsfragen. Es ging alles immer über die so genannten Ausländerbeauftragten. Und in den Städten hatte man Ausländerbeiräte, ja?
Das waren praktisch so völlig, politisch im Grunde genommen ungewichtige Gremien, in denen man den so genannten Ausländern – so nannte man sie auch noch damals – vorgaukelte, irgendwas für ihn, für sie getan. Es wurde natürlich nichts getan. Und all diese versäumte Zeit müssen wir jetzt nachholen. Aber wir müssen auch uns verabschieden von vielen verschiedenen Bildern der Migration. Zum Beispiel diese Frage der Integration. Was ist das eigentlich? Es heißt immer, die Zuwanderer müssen sich an die Gesetze halten. Natürlich. Das ist doch eine Selbstverständlichkeit! Wenn ich in ein Land komme, egal wohin, muss ich mich an die Gesetze halten. Wer sich nicht an die Gesetze hält, der hat ein Problem. Das muss auch so sein. Das muss auch klar so benannt werden. Dass diese Gesetze auch da hineinreichen, manchmal, in Vorstellungen, wie zum Beispiel man Frauen behandelt, wie man die Geschlechtergleichstellung erreicht, wie man die Kinder erzieht und aufzieht, wie man die Schulpflicht einhält, das ist eine Selbstverständlichkeit. Das muss klarer formuliert werden. Warum müssen wir es immer ethnisch formulieren? Gilt das nicht für die originär Deutschen auch?
Kassel: Aber bleiben wir doch trotzdem noch mal kurz bei der CDU, die Sie da ja jetzt offenbar in einem positiven Licht sehen, gerade durch diesen Gipfel. Richtig?
Senocak: Eine Hoffnung.
Kassel: Eine Hoffnung. Aber wenn wir sehen, Sie haben den Integrationsminister erwähnt, da gibt es eigentlich einen auf Landesebene so richtig, der auch so genannt wird. Der ist von der CDU, in Nordrhein-Westfalen, Herr Laschet. Der hat eine relativ launige Bemerkung eigentlich nur gemacht, vor ein paar Tagen – die er schon ernst meinte, aber wie er so ist, der Rheinländer, hat er gesagt –: Warum soll nicht auch – das sei auch so bei ihm in seinem Land – ein Türke stolz sein auf den Kölner Dom und dann geht er trotzdem noch nebenan in die Moschee. Und in dem Zusammenhang hat er auch noch vom „Einwanderungsland“ und der „multikulturellen Gesellschaft“ gesprochen und -zack! – hat er sofort Ärger in der eigenen Partei bekommen.
Senocak: Ja natürlich.
Kassel: Also Herr Koch aus Hessen hat sofort gesagt, das ist nicht so...
Senocak: Ach, natürlich.
Kassel: ... der hat auch wörtlich gesagt: Deutschland ist kein Einwanderungsland.
Senocak: Ja, natürlich. Das wird auch so bleiben eine Zeit lang. Also die CDU wird nicht die Position der Grünen übernehmen, nicht? Das ist klar. Aber es ist überhaupt wichtig, dass eine Diskussion in dieser Partei stattfindet. Es ist eine große Volkspartei. Und wir haben hier in Deutschland leider ein Problem. Ein Problem, das eigentlich etwas Gutes ist auch: Wir haben in Deutschland rechts am Rand keine große Partei. Was heißt das? Das heißt, dass Leute, die, sagen wir mal: national denken, im engeren Sinne, ja? – jetzt nicht patriotisch, wie wir das jetzt so formulieren, so fröhlich patriotisch, sondern schon eher national –, die gibt es ja in Deutschland, wenn man Umfragen hat, hat man immer so 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung steht eher am rechten Rand, ja? Für diese Leute gibt es in Frankreich, in Italien, in Belgien, in Holland, überall gibt es Parteien für diese Leute. In Deutschland gibt es diese Splitterparteien am rechten Rand, die mal hier und da so als Bösewichte auftauchen und dann wieder verschwinden. Die Leute wählen zum großen Teil die Union. Auch teilweise SPD manchmal und andere Parteien, PDS und so weiter, aber zum großen Teil Union. Das heißt, diese Politik, die ich sehr gut kenne noch aus Bayern – ich habe ja lange in Bayern gelebt –, diese CSU-Politik auch – „Wir müssen den rechten Rand demokratisch einbinden“ – führt immer wieder zu einer fatalen Signalwirkung, dass man eigentlich eine Politik der Abschottung, über Jahre, gegenüber diesen Themen durchgeführt hat. Und es gibt auch ein geistiges Problem, ein geistiges Problem, mentales Problem: Dass man eigentlich die Zuwanderung nicht will. Das hat man ja schon gesehen an so Begriffen wie „Zuwanderungsbegrenzungsgesetz“, ja? Als ginge es in Deutschland heute darum, Zuwanderung zu begrenzen. Es kommt niemand nach Deutschland, ja? Wir haben ein Minus demografisch im Inland und wir haben ein Minus auch in Zuwanderungszahlen. Das müssen wir klar mal sehen. Und es bürgert sich auch kaum jemand ein. Wir haben aber, wie gesagt, diese riesige Debatte gehabt um Einbürgerungsfragen, als stünden da jetzt Hunderttausende, die den deutschen Pass wollten. Aber die Leute wollen den deutschen Pass gar nicht. Und das ist die Frage, die uns eigentlich beschäftigen müsste. Und ein paar Leute, ich habe das Gefühl, ein paar Leute merken das.
Kassel: Bleiben wir noch mal bei der Symbolwirkung jetzt auf die anderen. Da haben sich auch Leute zu geäußert. Wir haben jetzt gesprochen über die CDU/CSU und ihre Wähler und welche Wirkung da so ein Integrationsgipfel haben kann. Wie ist das denn mit den – wir haben leider kein besseres Wort, ich nehme wieder das komplizierte –, den Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland, welcher Nationalität auch immer? Hat so ein Integrationsgipfel auf die eine Symbolwirkung?
Senocak: Ja und nein. Ich habe das Gefühl, es wird eine richtige Symbolwirkung erst dann geben, wenn die Menschen das Gefühl haben, sie werden als Menschen, als einzelne Menschen wahrgenommen – nicht als Gruppen, als Türken, als Italiener, als wie auch immer. Jetzt haben wir sogar diesen „Menschen mit Migrationshintergrund“, also diese Riesengruppe, fast 15 Millionen, ja? Kann man ja wiederum sich denken: Mein Gott, ja? Deutschland ist irgendwie umgekippt, ja? Das sind natürlich alle möglichen Menschen mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen drin. Das ist auch das Schöne, das Interessante. Die Spannungen müssen auf den Tisch, die Konflikte, über die muss man sprechen. Man muss praktisch vorgehen. Man weiß genau, um was es geht: Es geht darum, Bildungschancen zu verbessern. Das heißt nicht, dass man irgendwelchen armen Menschen hilft, sondern dass man Deutschland fit macht für die nächsten Jahrzehnte. Weil, wir haben insgesamt in der Bildung, in den Schulen haben wir Probleme. Das haben wir ja immer wieder gesehen durch auch verschiedene Berichte. Und das hat nicht nur mit Migration zu tun. Sondern wir haben natürlich auch – und das wird auch alles Geld kosten, das ist eine Frage, ob das überhaupt möglich ist, aber die Investition jetzt ist besser, als sozusagen in Zukunft noch größer in Sicherheit und Polizei und was weiß ich was – wir haben ja gesehen, was in Frankreich so passiert ist – hier zu investieren.
Man muss einfach wahrnehmen, dass man viele verschiedene Fenster öffnen muss, ja? Ich bin zum Beispiel jemand, den man von einem anderen Fenster aus bedienen muss als jemand, der jetzt neu aus der Türkei oder aus einem anderen Land nach Deutschland kommt. Bei mir war es ja eher so: Ich war ja Deutscher und ich bin ja dann zum Ausländer geworden in Deutschland – also, um es mal so zugespitzt zu formulieren. Ich bin als Kind nach Deutschland gekommen, in der Schule war ich fast nur unter Deutschen, ja? In München aufgewachsen und als ich dann als Schriftsteller zu schreiben anfing, war ich einfach ein Schriftsteller aus München und einer, der eben auch deutsche Texte geschrieben hat. Und ich habe gar keine Gedanken mir darüber gemacht: Was ist eigentlich Integration? Ja? Ich bin da einfach reingegangen und bin da geschwommen. Und plötzlich, Ende der 80er Jahre, kam diese Debatte auf, ja? Ausländerdebatte, Ausländerfrage. Eigentlich schon Anfang der 80er Jahre, als damals der Altbundeskanzler Helmut Kohl diese Rückkehrprämien an die Leute gab. 10.000 Mark haben damals die Leute, die zurückgekehrt sind, gekriegt. Übrigens: Was für ein fataler Fehler! Wissen Sie, wer zurückgegangen ist? Das waren die „Goodies“, das waren die, die irgendwas aufgebaut hatten, die hatten ihre Ersparnisse, die hatten super gearbeitet, die hatten gut in die Sozialsysteme investiert und gezahlt und dann haben sie noch 10.000 drauf gekriegt und sind zurückgegangen, ja? Also man muss mal sehen, wie irrational unsere Migrationspolitik die ganze Zeit gelaufen ist. Das ist schrecklich. Das ist ein Scherbenhaufen. Und man kann nur hoffen, dass es besser wird – schlimmer kann es ja nicht kommen.
Kassel: Das ist doch ein schönes Fazit. Ich danke Ihnen, Zafer Senocak.
Senocak: Bitte sehr.