"Ich will aufs Boot"

Von Marc Dugge · 01.02.2012
Im Sommer 1962 wird Algerien zum souveränen Staat. Anfang der 90er-Jahre werden freie Wahlen angesetzt, die radikale Islamisten für sich entscheiden. Ein Sieg, den die Armee nicht duldet. Algerien gerät in einen Strudel der Gewalt. Heute herrscht vordergründig Ruhe, doch dahinter gärt Frustration.
"Die Regierung tut nichts für uns. Sie zerstört uns. Diese Jugend ist verloren. Keine Hoffnung, keine Zukunft. Die Jugendlichen sind depressiv, sie nehmen Drogen, Alkohol, um zu vergessen - und um vom Glück zu träumen. Sie sagen sich: Vielleicht kommt es morgen, morgen, morgen ... aber nichts passiert."

Ali sitzt auf einer Treppenstufe in einer der verwinkelten Gassen der Kasbah, der Altstadt von Algier. Der Himmel ist milchig, die Luft drückend schwül. Algier hängt in den Seilen. Nur ein paar Kinder kicken auf einem Hinterhof. An einer der grauen Wände hat jemand nasse Wäsche aufgehängt. Ali blinzelt in die Sonne, schaut in die Ferne. Aufs Meer, den Horizont, der Freiheit bedeutet.

"Ich will aufs Boot. Nach Frankreich, Europa, Italien, Barcelona, Deutschland! Das ist die einzige Lösung! Harraga! Weißt Du, was das bedeutet? Wir sind alle Harraga!"

Harraga heißt so viel wie: "Verbrenner". Das kommt von: Seinen Pass verbrennen, um aufs Boot zu steigen und ein neues Leben anzufangen. Das wollen sie alle. Ali, seine Freunde. Auch seine vier Brüder. Alle sind sie arbeitslos. Alle schlagen sie sich irgendwie durchs Leben. Alis Augen funkeln. Er weiß nicht wohin mit seiner Wut, seiner Enttäuschung, seiner Depression. Sein Land Algerien hat ihm kein Glück gebracht.

Am 5. Juli 1962 wird Algerien unabhängig. Nach einem acht Jahre langen, zähen Krieg, der mindestens eine halbe Million Menschenleben gefordert hat. Ein Krieg, in dem Franzosen gegen Algerier gekämpft haben, Algerier gegen Algerier, Franzosen gegen Franzosen.

Schon bald nach der Unabhängigkeit wird klar: Dieses Land wird sich nicht am Westen, nicht an Frankreich orientieren. Sondern am Sozialismus. Algerien wird nicht zur Demokratie, sondern schleichend zur Militärdiktatur. Die FLN ist die einzige Partei, die erlaubt ist.

Anfang der 70er Jahre verstaatlicht Präsident Boumedienne die Öl- und Gasindustrie. Die französischen Ölunternehmer packen nun endgültig ihre Koffer - und Algeriens Regierung schwimmt ab jetzt im Geld. Schließlich ist der Ölpreis auf Rekordhöhe. Andere Industriezweige lässt die Regierung links liegen. Das Öl bringt schließlich genug Geld ein.

Die Kehrseite der Medaille bekommt Algerien in den achtziger Jahren zu spüren. Als der Ölpreis in den Keller fällt, erlahmt die Wirtschaft. Junge Menschen gehen auf die Straße, um lautstark Jobs und Arbeitsplätze zu fordern - und echte Demokratie. Sie greifen die Parteizentrale und zünden staatliche Gebäude an, zerstören Fensterscheiben, werfen Autos um. Die Wut ist grenzenlos. Die Armee greift durch, mindestens 160 Menschen werden getötet. Algerien wird sich in den folgenden Jahren an diese Art von Aufständen gewöhnen. Heute gehören sie schon zur Normalität.

Es ist unglaublich: In Algerien muss die Polizei statistisch alle zwei Stunden ausrücken, um Unruhen zu bekämpfen. Manchmal reicht schon ein verlorenes Fußballspiel, um die angestaute Wut zur Explosion zu bringen. Dann fliegen Steine, Tränengas-Granaten und Molotowcocktails, werden Scheiben zerschlagen und Autos in Brand gesetzt. Und doch verlaufen die Demonstrationen meistens vergleichsweise friedlich, die Algerier seien an sie gewöhnt, so der Soziologe Nacer Djabi:

"Bei der schieren Anzahl der Unruhen könnte man ja mit Hunderten Toten pro Woche rechnen. Doch das ist nicht der Fall. Wir Algerier sind nicht gewalttätig, aber durchaus radikal. Das liegt in unserer politischen Kultur. Wir tragen einen gewerkschaftlichen Geist in uns, haben Forderungen - und gehen für sie auf die Straße."

Ende der 80er Jahre gab es 8000 Streiks pro Jahr, sagt Djabi. Dieser algerische Geist der Rebellion trägt manchmal geradezu absurde Züge. Im Juli 2011 hinderten Demonstranten in Algier Baufahrzeuge an der Weiterfahrt. Sie protestierten dagegen, dass ein Park, in dem gerne Kinder spielen, einem Parkplatz weichen sollte. Die Polizei musste Gummigeschosse und Tränengas einsetzen. Ausnahmezustand wegen einer Grünanlage.

Dahinter steht freilich mehr: Der Zorn auf eine abgehobene Elite. Eine Elite, die das reiche Öl- und Gasunternehmen führt, das Algerien heißt. Eine Elite, die sich - um im Bild zu bleiben - hemmungslos an den Firmenkassen bedient. Die im Luxus lebt und sich nach außen abschottet. Eine Elite, die ihren Bürgern nur einen mageren Lohn und ein trostloses Leben in überfüllten Sozialwohnungen gönnt. Von Perspektiven ganz zu schweigen.

Gerade junge Algerier haben allen Grund, frustriert zu sein: Viele finden keinen Job und sehen sich außerstande, eine Familie zu gründen. Wohnungen sind Mangelware, daher müssen sie auf kleinstem Raum mit ihrer Familie zusammenleben - teilweise auf dem Küchenboden übernachten. Privatsphäre gibt es nicht. Für Nacer Djabi ist der Zorn der Jugend auch ein Zorn der sexuellen Frustration:

"Die Jugendlichen verheiraten sich spät, die Männer im Alter von durchschnittlich 30. Für einen Moslem ist das spät. Denn schließlich hat er vor seiner Heirat in der Regel kein Sexualleben. Er kann keine Freundin haben, niemand bei sich empfangen. Er hat kein kleines Apartment wie seine Altersgenossen im Norden. Es gibt eine ganze Reihe Gründe dafür, dass die Jugend revoltiert."

Und die Jugendlichen bilden in Algerien die Mehrheit. Fast die Hälfte aller Algerier ist heute unter 20, die unter 29jährigen stellen ein Drittel der Bevölkerung. Algerien leidet unter den Folgen eines Babybooms. Kommunikationsminister Nacer Mehal:

"Können wir alle Probleme der Jugend mit einem Zauberstab lösen? Natürlich nicht! Aber wir fördern die Entwicklung Algeriens, wir haben ein riesiges Infrastrukturprogramm aufgelegt. Algerien ist ein sehr junges Land, 75 Prozent der Menschen sind unter 30. Können Sie sich vorstellen, was das für eine Herausforderung ist?"

Die jungen Menschen wollen Jobs, Perspektiven und auch Teilhabe. Die erstarrte algerische Gesellschaft, die Heldengeschichten der alten Kämpfer haben sie satt. Sie wollen selbst zu Helden werden. Wie in Tunesien stecken sich auch in Algerien Dutzende junge Männer in Brand, um auf ihre miserable Lage aufmerksam zu machen. Und eine Protestbewegung zu gründen, die ihr Land auf den Kopf stellt.

Es ist ja nicht so, dass es Algerien nicht mit der Demokratie versucht hätte. 1991 war das. Nach Aufständen lässt der damalige Präsident Bendjedid eine neue Verfassung ausarbeiten. Sie stärkt die Demokratie, indem sie die Einparteien-Herrschaft der FLN beendet, politische Freiheiten und Menschenrechte garantiert. Ende Dezember 1991 wird erstmals frei gewählt. Und das Ergebnis schockt viele: Im ersten Wahlgang gewinnt die FIS, die Islamische Heilsfront. Viele Algerier sind geschockt. Auch der Schriftsteller Boualem Sansal:

"Wir waren nicht wachsam. Da waren Leute, die haben nur auf den richtigen Moment gewartet. Sie haben diesen Moment provoziert - und die Macht ergriffen. Da hatten wir auf einmal eine islamistische Partei. Ich hatte bis 1988 noch nie von Islamismus gehört. Und auf einmal sind sie alle aus dem Schatten getreten. Sie hatten sich in den Moscheen versteckt, haben sich sofort organisiert. Diese Leute haben uns Angst eingejagt. Denn sie hatten ganz klare Ideen! Während wir geradezu besoffen waren vom Reden schwingen und vom Demonstrieren, waren diese Leute so erschreckend wach!"

Die Armee will das Wahlergebnis nicht akzeptieren. Sie übernimmt noch vor dem zweiten Wahlgang in Algerien die Macht. An der Spitze des Putschs steht der Verteidigungsminister. Er löst das Parlament auf und ruft den Notstand aus. Die Islamisten, jetzt offiziell verboten, gehen in den Untergrund - und schwören Rache. Rache gegen den Staat, Rache gegen die Ungläubigen. In Algerien beginnt das "schwarze Jahrzehnt" - ein jahrelanger Bürgerkrieg mit verheerenden Terroranschlägen und schlimmsten Massakern. Ganze Dörfer werden ausradiert. Wer genau gegen wen kämpft - die Menschen wissen es nicht. Und doch tut die algerische Regierung so, als gäbe es keinen Bürgerkrieg. Der Historiker Benjamin Stora nennt ihn den "Unsichtbaren Krieg":

"Die Akteure verstecken sich in dem Konflikt, man weiß nicht, wer sie sind. Der Staat will nicht anerkennen, dass es sich um einen Konflikt handelt. Er spricht lieber vom "Anti-Terrorkampf" oder den "Ereignissen". Aber auch die Islamisten wollen nicht von einem Krieg sprechen. Auch sie kämpfen hinter Masken, sagen, dass sie mit der Gewalt nichts zu tun haben. Ob maskierte Armeekommandos oder die maskierten Islamisten: Keine der beiden Gruppen sagt, was sie will, was ihr Programm ist. Die schweigende Mehrheit Algeriens ist weder hinter der einen, noch der anderen Gruppe."

Ein Konflikt, der zwischen zwei Gruppen ausgetragen wird. Ein Krieg, für den niemand die Verantwortung übernehmen will. Und bei dem viele Algerier zwischen die Fronten geraten. Mindestens 7000 Menschen sind in dieser Zeit einfach verschwunden. Von ihnen fehlt jede Spur. Zehn Jahre lang wurde in Algerien ein Krieg jenseits der Weltöffentlichkeit geführt. Das hat seinen Grund, so Historiker Benjamin Stora:

"Es gibt kaum Bilder von diesem Krieg, wegen der starken Pressezensur seitens der Regierung. Sie hat ausländischen Journalisten verboten, aus Algerien zu berichten. Reporter bekamen einfach Visum ausgestellt. Außerdem wurden Dutzende algerischer Journalisten, die über den Konflikt berichten wollten, von Islamisten ermordet."

Immer noch ist die Sicherheitslage in Algerien angespannt. Ausländer sollten die Kabylei meiden. Und auch die algerische Wüste, wo Terroristen der Gruppe "Al Kaida im Islamischen Maghreb" immer wieder Ausländer entführt haben. Insgesamt aber ist das Land sicherer geworden. Der Notstand ist aufgehoben, in Algier öffnen zaghaft wieder Straßencafés. Touristen können wieder durch die Straßen der Kasbah streifen. Dort hatten sich in den 90er Jahren Armee und Islamisten heftige Kämpfe geliefert. Regierungssprecher Nacer Mehal meint: Präsident Bouteflikas Versöhnungspolitik trägt Früchte.

"Die enorme Verbesserung der Sicherheitslage erlaubt es, dass die Türen zur Entwicklung geöffnet werden. Mit der gewonnen Stabilität und natürlich auch der Demokratie schaffen wir ein neues Algerien, mit sozialem, demokratischen und auch wirtschaftlichen Fortschritt."

205 Milliarden Euro will Algerien zwischen 2010 und 2014 ausgeben. Ein Großteil des Geldes soll in die veraltete Infrastruktur des Landes gesteckt werden - in neue Straßen, Bahnstrecken oder dringend gebrauchte Sozialwohnungen. Eine gigantische Summe. Schulden muss Algerien nicht machen. Schließlich sind die Staatskassen dank des hohen Ölpreises gut gefüllt.

Vielleicht ist es das, was die Regierung von Präsident Bouteflika im Arabischen Frühling geschützt hat. Während in den Nachbarländern Regime wie Dominosteine fielen, machte seine Regierung rasch 20 Milliarden Euro für soziale Zwecke locker. Nahrungsmittelpreise wurden gesenkt, junge Arbeitslose bekamen Direkthilfen und Sonderkredite. Beamten durften sich über saftige Gehaltserhöhungen freuen. Der Soziologe Nacer Djabi:

"Das ist eine Form von öffentlicher Korruption im großen Stil, um sich den sozialen Frieden zu erkaufen. Den Menschen, die derzeit an der Macht sind, geht es nur darum, die Probleme von heute lösen. Sie denken nicht ans Morgen. Sie sagen den Algeriern: Haltet den Mund, beruhigt Euch, der Staat hat viel Geld - wir geben Euch etwas davon, aber bewegt Euch nicht!"

Die Strategie ist bisher aufgegangen. Algerien ist nicht in den Strudel des Arabischen Frühlings geraten. Die Bürgerrechtsbewegung konnte nicht wirklich Fuß fassen. Das liegt nicht nur an der massiven Polizeipräsenz bei Demonstrationen. Sondern auch daran, dass die meisten Algerier nichts mehr wollen als Frieden, Ruhe und Sicherheit. Sie sind bereit, ihre Wut hinunterzuschlucken. Eine Wut, die sich anders als in Tunesien oder Ägypten nicht gegen den Staatschef richtet.

Die Algerier wissen, dass es mit dem Rücktritt von Präsident Bouteflika nicht getan wäre. Er ist nur das Gesicht eines komplizierten Machtgefüges. Schattenmänner ziehen die Strippen - darunter Generäle und Geschäftsleute. Manchmal in Personalunion. Wo andere Länder eine Regierung haben mit klar definierten Akteuren und transparenten Entscheidungen, ist in Algerien: Nebel.

Ahmed, der alte Mann aus der Kasbah von Algier, hofft, dass die Führer die Zeichen der Zeit erkennen. Dass sie sich bewegen. Und verstehen, dass sie es mit einem aufmüpfigen Volk zu tun hat. Mit Menschen, die sich nicht mehr lange mit Geldgeschenken beruhigen lassen. Sondern mehr wollen.

"Regieren heißt, in die Zukunft zu schauen. Algerien hat so viele Ressourcen und eine fantastische Jugend. Man muss ihr ihre Rechte zugestehen und ihr klarmachen, dass ihre Heimat nicht Großbritannien, Frankreich oder Italien ist. Die Jugend von heute soll ihr Schicksal in die Hand nehmen dürfen, man muss ihr die Möglichkeiten dazu geben! Auch der Unabhängigkeitskrieg wurde ja von der Jugend angezettelt, von jungen Menschen zwischen 20 und 30. Sie haben immerhin eine Großmacht wie Frankreich besiegt! Es liegt nicht an uns Alten, das Leben der Jungen zu bestimmen....Ich hoffe, dass unsere Politiker verstanden haben, dass sie sich beeilen müssen, bevor sie der Lage nicht mehr Herr werden können. Wenn Algerien explodieren sollte, dann haben wir 100 Jahre Krieg. Das hier ist nicht Tunesien oder Ägypten. Wir haben eine ganz andere Mentalität als die."
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