"Ich verstehe die Emotionalität absolut"

Moderation: Dieter Kassel |
"Verlorenes Geld" nennt Architekturkritiker Nikolaus Bernau die Subventionen für den Flughafen Tempelhof und plädiert für ein Ende des Flugverkehrs. Der Politikprofessor Peter Reichel widerspricht: Würde das Gebäude nicht mehr als Airport genutzt, könne seine historische Bedeutung nicht vermittelt werden. Am Sonntag stimmen die Berliner per Volksentscheid über das heiß diskutierte Thema ab.
Dieter Kassel: Berlin baut zusammen mit Brandenburg einen neuen Großflughafen in Schönefeld und wenn der fertig ist, dann werden die innerstädtischen Flughäfen Tegel und Tempelhof geschlossen. Ein simples Vorhaben, ein auch keineswegs neuer Beschluss, aber gerade im Moment tobt in Berlin ein regelrechter Kampf darum, ob dieser Beschluss nun tatsächlich umgesetzt werden soll oder nicht. Zwei Interessensgruppen - die eine für, die andere gegen die Fortsetzung des Flugbetriebs am Flughafen Tempelhof - haben Hunderttausende Euro investiert in eine Plakatkampagne, der man nicht entgehen kann. In Berliner Zeitungen steht täglich etwas, und tatsächlich unterhalten sich auch Berliner auf den Straßen darüber, ob Tempelhof weiterhin ein Flughafen sein soll oder nicht. Am Sonntag dürfen und werden sie darüber abstimmen. Beim Volksentscheid geht es dann um Flugbetrieb in Tempelhof: ja oder nein. Das Ergebnis ist nicht rechtsverbindlich, insofern wird es nicht unbedingt etwas verändern, umso erstaunlicher aber wirklich die Form, in der diese Diskussion zurzeit geführt wird. Wir wollen sie auch führen und uns über Hintergründe unterhalten, zum einen mit dem Politologen Peter Reichel, den ich jetzt am Telefon begrüße – guten Tag, Professor Reichel, …

Peter Reichel: Ich grüße Sie.

Kassel: … und zum anderen mit dem Architekturkritiker und Journalisten Nikolaus Bernau, der ist gerade in Paris und deshalb auch am Telefon. Tag, Herr Bernau!

Nikolaus Bernau: Guten Tag.

Kassel: Diese unglaubliche Emotionalität, mit der die Diskussion vor allen Dingen jetzt kurz vor dem Volksentscheid geführt wird, in der Presse genauso wie auf der Straße - können Sie die verstehen, Herr Reichel?

Reichel: Unbedingt. Mancher, denke ich, von den Älteren, den Mittelalterlichen, erinnert sich wohl noch an die humanitäre Hilfsaktion der Amerikaner nach dem Krieg, an die Versorgung Berlins aus der Luft, die legendäre Luftbrücke. Mancher hört vielleicht noch im Hinterkopf die heiser-pathetische Stimme des Bürgermeisters Ernst Reuter damals, auf einer Kundgebung vor der Reichstagsruine, auch das spektakulär: Völker der Welt, schaut auf diese Stadt. Daran, an diese starke Emotionalität, hat die Bundeskanzlerin gerade erinnert, als sie sich vor allem wegen dieser historischen Bedeutung für die weitere Nutzung des Tempelhofer Flughafens eingesetzt hat.

Kassel: Nikolaus Bernau - da war der Regierende Bürgermeister Wowereit erst mal sauer, als die Bundeskanzlerin sich eingemischt hat. Aber jenseits der Politik - Sie leben ja in Berlin -, grummelt es bei Ihnen auch im Bauch, wenn es um Tempelhof geht?

Bernau: In dieser Form grummelt es bei mir nicht, und ich bin auch absolut sicher, dass Frau Merkel sich nicht etwa aus wirklich historischen Gründen für Tempelhof eingesetzt hat, sondern deswegen, weil Sie Herrn Wowereit gerne gegen das Schienbein treten möchte. Dafür gibt es ja auch eine Menge Gründe. Aber ich verstehe absolut die Emotionalität - auch wenn ich sie nur bedingt teile -, die hinter Tempelhof steht.

Das ist nicht nur die Erinnerung, das sind relativ wenige Leute, die sich wirklich noch an die Blockade erinnern können oder an die Stimme von Ernst Reuter. Es ist vor allem ganz entscheidend eine Sache dahinter: Westberlin ist der große Verlierer der deutschen Einheit. Das wird immer wieder vergessen. Jede Erinnerung von DDR-Bürgern wird aufgehoben, gepflegt, gehegt und so weiter, und sobald Westberliner einmal sagen, hallo, wir haben auch existiert, wir haben immerhin doch bis 1972 richtig unter Risiko gestanden bis zu den Vier-Mächte-Verträgen, dann wird sofort gesagt, das ist sentimentaler Unsinn, kümmert euch nicht drum, da können wir mal drüber hinweggehen.

Und Westberlin hat eine höhere Arbeitslosigkeit als Ostberlin. Westberlin hat eine schlechtere Infrastruktur inzwischen. Westberlin hat ganz große emotionale Probleme durch den Renommeeverlust. Es sind vor allem Westberliner, die sich für diese Sache einsetzen. Das ist eine entscheidend westberlinische Frage, es geht um Emotionen, um Rückgedrängtwerden in der öffentlichen Wahrnehmung, und das ist die erste große Gelegenheit, wo Westberlin sagt: Hallo, wir sind auch da!

Kassel: Herr Reichel, ist das so? Ich meine, der Flughafen ist natürlich schon in den 20er-Jahren in Betrieb gegangen, aber ist trotzdem der Flughafen Tempelhof ein Symbol für Berlin West?

Reichel: Nicht nur das. Er ist sehr viel mehr, seine Bedeutung würde ich hochrangig einschätzen, für die Technikgeschichte, für die Architekturgeschichte, für die Geschichte der Moderne. Schon vor dem Ersten Weltkrieg haben auf dem stadtnahen Tempelhofer Feld und ehemaligen Exerzierplatz Flugvorführungen, Experimente stattgefunden. Anfang der 1920er-Jahre wurden zwei Flughafenhallen gebaut, '26 begann die Deutsche Lufthansa - damals zwei Worte - mit dem planmäßigen Flugbetrieb. Erst nach Königsberg und Zürich, und der Erweiterungsbau von Ernst Sagebiel - um den geht es ja, um dessen Erhalt und Würdigung - plante eine Kapazität für nahe Zukunft von bis zu sechs Millionen Personen.

Die halbkreisförmige, 1200 Meter lange Flughafenhalle, immer noch eines der größten Gebäude der Welt, integrierte damals auf mehreren Ebenen Empfangs-, Abfertigungshalle, den Hangar, Hotels, Kongresszentrum, Restaurants und die Verwaltung. Der Bau galt damals, gilt bis heute als wegweisend für die Flughafenmoderne. Ich brauche nur einen der bedeutendsten Architekten der Gegenwart zu zitieren:Norman Foster hat Tempelhof "die Mutter des modernen Flughafens" genannt.

Kassel: Frage jetzt auch an Nikolaus Bernau, unseren Architekturkritiker: Muss denn - es geht ja nicht darum, niemand will diese Gebäude abreißen, das wäre gar nicht zu machen -, muss denn, um die entsprechenden Gebäude zu würdigen, der Flugbetrieb erhalten bleiben? Denn darum geht es ja im Volksentscheid.

Bernau: Nein, überhaupt gar nicht. Das muss man wirklich immer wieder betonen, weil das ein bisschen falsch auch in der Öffentlichkeit rübergekommen ist, und da muss man eben sagen, der Senat hat eine phänomenal schlechte Öffentlichkeitspolitik hingelegt. Das kann man sich überhaupt gar nicht schlechter vorstellen, als es gemacht wurde. Zum Beispiel diese Plakatkampagne, die gegen Tempelhof argumentiert, ist von einer derartigen Dämlichkeit - Entschuldigung, das kann man anders gar nicht ausdrücken -, dass viele Leute, die die Plakate gesehen haben, jetzt für Tempelhof stimmen, weil sie sagen: So dumm sind wir nicht, dass wir mit solchen Plakaten angegangen werden. Es geht nicht um den Erhalt des großen Gebäudes.

Es ist ein großartiges Gebäude, eines der wichtigsten Gebäude der 30er-Jahre und zwar international, nicht nur innerhalb des Berliner Maßstabs oder innerhalb des deutschen Maßstabs. Es ist eine der ganz großen Staatsrepräsentationsbauten im neoklassizistischen Stil gewesen und dieses Gebäude wird absolut und garantiert erhalten bleiben, sogar in Berlin, wo man ja nun wirklich mit Abrissbirnen sehr schnell zur Sache geht. Der Senat hat ganz vage Ideen, da sollen irgendwie Restaurants rein und ein Luftfahrtmuseum und tatü und tata. Das ist ein zentrales Problem der ganzen Debatte: Es gibt keine Planung für Tempelhof. Man weiß zwar seit 15 Jahren, dass Tempelhof geschlossen werden soll, aber es gibt bis heute nicht eine einzige, halbwegs vernünftige Planung.

Nur rechtfertigt das, finde ich, und ich muss zugeben, da bin ich dann doch mal der Meinung mit dem Abgeordnetenhaus überhaupt nicht, dass Tempelhof weiter subventioniert wird. Denn das ist das zentrale Problem bei der Angelegenheit: Wir haben ein großartiges Gebäude. Wir haben ein riesiges Gelände mitten in der Innenstadt, was für wertvollste Nutzung zur Verfügung stünde, und wir müssen ständig dafür bezahlen. Der Laden hat uns - Entschuldigung - der Laden hat uns 200 Millionen Euro seit 1990 gekostet. Diese Subventionen sind verlorenes Geld, dem muss man kein weiteres nachschieben. Darum geht die Debatte eigentlich. Es geht nicht um die Erhaltung des Gebäudes.

Reichel: Solche Debatten hat man ja im Übrigen bereits lange geführt, auch ergebnislos, ich erinnere nur an das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg oder die KdF-Freizeitanlage in Prora. Aber lassen Sie mich doch, wenn ich das darf, noch eins hinzufügen, auch als Erweiterung, Ergänzung zu dem, was Herr Bernau eben zu Recht gesagt hat. Es geht doch um etwas mehr. Der Erhalt des Gebäudes durch Nutzung, besser nicht als Museum oder als Dokumentation, hat immer nur Sinn, wenn er durch Nutzung verbunden wird, hat auch die Möglichkeit, auf etwas hinzuweisen, was heute weitgehend noch nicht oder nicht mehr Gemeingut des allgemeinen Geschichtsbewusstseins ist.

Die Nazis haben aus diesem prototypischen Bauwerk versucht - und mit relativ großem Erfolg -, symbolisches Kapital zu schlagen. Die technische Eleganz dieses futuristischen Bauwerks nutzten sie mit einigen anderen Großbauten, die früh fertig geworden sind, auch als visuell-attraktives Symbol ihrer Politik des schönen Scheins. Die versprach Wohlstand und wissenschaftlich-technische Modernität in einer ethnisch und politisch gleichgeschalteten, also zwangsweise homogenen Volksgemeinschaft zu realisieren, also in einer Gesellschaft - was Weimar nicht geschafft hatte - mit Massentourismus, Massenkonsum und Massenkommunikation, ohne Demokratie, ohne die verhassten Parteien, ohne latenten Bürgerkrieg auszukommen. Dafür stand und steht - für diese Politik der Täuschung, der Selbsttäuschung, der damaligen deutschen Gesellschaft - dieses Symbol. Auch daran, an diesen Zusammenhang, kann und muss man, wenn es um ein kritisches Verständnis der Modernisierung und der Modernität im 20. Jahrhundert geht, glaube ich, denken.

Bernau: Kein Mensch redet davon, diesen Bau abzureden. Das ist wirklich falsch. Keiner will dieses Gebäude abreißen.

Reichel: Habe ich auch nicht gesagt.

Bernau: Was dieser Bau kann … Erstens ist es, finde ich, nicht ganz korrekt, wenn man sagt, es ist ein spezifisch nationalsozialistischer Bau. Das ist er nicht.

Reichel: Ich habe doch von der spezifischen Nutzung, also, drehen Sie doch nicht das um, was ich mit einem knappen Satz ganz anders gesagt habe, als Sie es wiedergeben. Da fängt es schon an. Ich habe von dem Doppelgesicht des Dritten Reiches gesprochen.

Bernau: Entschuldigung, das Doppelgesicht des Dritten Reiches war ein internationales Doppelgesicht, genau so, wie auf dem Flughafengebiet in Tempelhof gebaut wurde, wurden die Dominion Houses in London gebaut, wurden die neuen Mauergebäude in Washington gebaut, unter Roosevelt, unter dem New Deal, genau so wurde zum Beispiel auch der …

Reichel: Das stelle ich ja auch gar nicht in Abrede. Das ist mir nicht weniger bekannt als Ihnen! Aber der Faschismus war in Deutschland, und Deutschland hat sich der Moderne, der technischen, der wissenschaftlichen Moderne für seine verbrecherischen und kriegerischen Ziele bedient.

Bernau: Das ist kein Argument für einen Flugverkehr in Tempelhof. Das Gebäude selber wird diese Botschaft für alle Ewigkeit - zumindest solange es steht, und das wird noch sehr, sehr lange sein - weiter transportieren. Das können wir gar nicht verhindern. Die Botschaft wird nicht dadurch verstärkt, dass dort Privatflieger einfliegen.

Reichel: Wenn Sie das Gebäude aber der Nutzung entziehen, ist diese Möglichkeit eben, dieses Gebäude mit seinem historischen Bedeutungsgehalt der Öffentlichkeit zu vermitteln, entfallen.

Kassel: Ja, aber da, entschuldigen Sie, Herr Bernau, da möchte ich jetzt aber noch einmal nachhaken. Es ist jetzt schon so, dass im Prinzip seit der Wiedereröffnung 1985 der Flughafen ja weit entfernt von seiner Kapazität arbeitet. Die Gebäude sind jetzt schon zu 90 Prozent leer. Ich verstehe nicht, warum die historische Bedeutung, wenn ich Sie jetzt so zitieren darf, Herr Reichel, geschmälert wird, wenn man den Flugbetrieb einstellt.

Reichel: Die historische Bedeutung natürlich nicht. Die Chance, das Potenzial für eine Vermittlung, für eine Aktivierung, für eine Sensibilisierung, für eine historische Tiefendimensionierung des öffentlichen Geschichtsbewusstseins, davon rede ich doch die ganze Zeit, und dafür brauchen Sie Museen, dafür haben wir mit viel Aufwand Gedenkstätten, Denkmäler, die nahezu ohne Aussage sind, kaum verstanden werden in ihrer abstrakten Artistik, eingerichtet. Es kommt - lassen Sie mich das vielleicht auf diese zentrale Formel bringen, die ich immer versuche, plausibel zu machen oder bedenkenswert zu machen - darauf an, die zahlreichen Brüche unserer Geschichte in ihrer Kontinuität sichtbar zu machen und darin natürlich immer auch ihr Doppelgesicht zu zeigen.

Kassel: Herr Bernau, das ist im günstigsten Fall das zweitgrößte, das drittgrößte, im schlimmsten Fall das viertgrößte Gebäude der Welt. Es gibt noch drei Etagen unter der Erde, für alle, die mal vorbeigefahren sind und gesehen haben, wie groß es ist. Das Freigelände ist sehr groß. Sie sind - das haben Sie ja deutlich gesagt - gegen eine Fortsetzung des Flugbetriebs. Was soll, wenn der Flugbetrieb eingestellt wurde, aus Tempelhof werden?

Bernau: Es ist erst mal eine Platzreserve, das ist das Entscheidende. Man kann dort sehr vieles anderes machen und man kann vor allen Dingen in diesem riesigen Gebäude unglaublich viel machen. Das, was da bis jetzt vorgeschlagen wird, sind alles Kinkerlitzchen. Wahrscheinlich wird man es aufteilen müssen organisatorisch und ganz viele kleine Sachen machen. Es fanden ja jetzt schon sehr große Kunstausstellungen statt. Es fanden schon große Konzerte statt, die haben jeweils eine Flughalle nutzen können und dann waren da schon 5000 Leute drin. Es ist ein riesiges Gebäude. Man wird diesen Bau immer als Denkmal der Nazizeit erkennen können und man wird ihn immer als Denkmal der Blockade erkennen können. Aber man muss deswegen nicht dort landen und starten.

Kassel: Über die Zukunft des Flughafens Tempelhof entscheiden die Berliner übermorgen in einem Volksentscheid, und über die Bedeutung von Tempelhof und die Zukunft des Geländes sprachen wir mit dem Politologen Peter Reichel und dem Architekturkritiker Nikolaus Bernau. Ich danke Ihnen beiden.