"Ich spüre schon eine gewisse Wende"

Teresa Cadete im Gespräch mit Susanne Führer · 25.11.2010
Die portugiesische Literaturprofessorin und Schriftstellerin Teresa Cadete attestiert ihren Landsleuten mangelndes Interesse an politischen Angelegenheiten und ein oft fehlendes Vertrauen in sich selbst. Einige Anzeichen hin zu einer kritischeren Haltung der Portugiesen findet sie aber auch.
Susanne Führer: Glaubt man den Gewerkschaften, dann gab es gestern den größten Streik in der Geschichte Portugals. Der Generalstreik richtete sich gegen die drastischen Sparmaßnahmen, die die portugiesische Regierung beschlossen hat. Flüge wurden gestrichen, Züge und Busse fuhren nicht, auch die Universitäten blieben geschlossen, sodass wir die Schriftstellerin und Professorin für Literatur an der Universität Lissabon – außerdem ist sie noch Präsidentin des portugiesischen PEN –, sodass wir also Teresa Cadete gestern Nachmittag zu Hause erreichen konnten. Ich wollte von ihr wissen, ob ihrer Ansicht nach der Generalstreik innenpolitisch etwas ausrichten wird.

Teresa Cadete: Ich denke schon. Allerdings nicht so wirtschaftlich ruinierend, weil an vielen Stellen wird auch gespart, wo nicht gearbeitet wird. Insofern also, vieles wird sich ausbalancieren. Was ich allerdings vermute und befürchte, ist, dass der Streik nicht zu einem nachhaltigen Bürgersinn umschlägt, und das wäre für mich wünschenswert. Dass die Menschen einfach begreifen, dass es nicht ausreicht, sich zu informieren, sondern alles dazu tun, damit die Politik die Wirtschaft und die Finanzen in Schranken hält.

Führer: Welche Macht haben denn die Gewerkschaften in Portugal, welche Rolle spielen sie? Sie haben vorhin davon gesprochen, dass Sie hoffen, dass ein neuer Bürgersinn entsteht. Engagieren sich viele Menschen in den Gewerkschaften?

Cadete: Ja. Und die Gewerkschaften sind auch verhandlungsgeübt. Man nimmt das Beispiel Auto Europa, also das ist Volkswagen in Portugal, das ist ein Paradebeispiel, das ist so ein Starbetrieb. Und übrigens: Heute wird nichts Neues hergestellt. Die Arbeiter haben sich mit dem Streik solidarisch erklärt und auch in vielen anderen Branchen.

Führer: Woran, Frau Cadete, machen Sie dann fest, dass es in Portugal an Bürgersinn mangelt?

Cadete: An dem mangelnden Interesse an politischen und öffentlichen Angelegenheiten, an dem mangelnden Vertrauen der Menschen, etwas verändern zu können durch Aufklärung, durch Diskussion, am allgemeinen Desinteresse bezüglich der politischen und der öffentlichen Angelegenheiten, und an einer sehr häufig auftretenden Reaktion gegenüber den Politikern, denen man gleich Korruption unterstellt. Und nichts muss so sein, alles müsste aufgeklärt und durchdiskutiert werden. Ich nehme da so eine kritische Position, aber weder sehr pessimistisch noch euphorisch. Ich versuche, die Lage nüchtern zu sehen und vor allem historisch. Wir hatten die längste Diktatur in Europa, und vor der Diktatur hatten wir eine 15-jährige wilde Republik, also eine wilde Demokratie, so ähnlich wie die Weimarer Republik, und Gewaltmonopol. Und davor hatten wir Monarchie und davor 300 Jahre Inquisition. Das ist schon ein schweres Erbe der Resignation, der Kleinmut und einfach der Unterdrückung.

Führer: 1974 gab es die berühmte Nelkenrevolution in Portugal und hat die Salazar-Diktatur beendet – also Salazar war da nicht mehr an der Macht, aber trotzdem kann man das ja mal abkürzend so nennen. Interessanterweise ist die Diktatur ja durch das Militär gestürzt worden und nicht durch das Volk.

Cadete: Ja, aber man muss ja sagen, das waren linke Militärs, und die meisten davon waren studierte Leute, die einfach zum Militärdienst geschickt worden waren, sozusagen als Strafe, dass sie gegen die Regierung opponiert haben. Das waren die sogenannten Militianer, das ist eine portugiesische Bezeichnung, das waren linke Militärs. Das waren zum Teil Karrieremilitärs und Studenten, die einfach zum Militärdienst geschickt worden waren und die die anderen politisiert haben. Also das ist allgemein bekannt.

Führer: Portugal ist ja von den alten EU-Mitgliedern, also der EU der 15, das ärmste Mitgliedsland, und heute noch werden in Portugal Schuhe und Kleidung für den europäischen Markt gefertigt. Das klingt ein wenig nach Billiglohnland, nach einem geringen Bildungsstand und so weiter – stimmt das?

Cadete: Ach, das mag streckenweise stimmen, aber andererseits haben wir so Patente und Produkte hergestellt, die es sonst nirgends auf der Welt gibt. Also wir haben sehr gut funktionierende Dienstleistungen, vor allem in der Elektronik, in den erneuerbaren Energien, und jetzt wird auch ein Bewusstsein für die portugiesischen ursprünglichen Agrarprodukte gewonnen. Man kennt einfach das eigene Land zu wenig, man ist einfach zerstückelt und individualisiert und kommuniziert zu wenig und informiert sich immer noch zu wenig, trotz Internet.

Aber ich spüre schon eine gewisse Wende, also sich informieren zu wollen und einfach Sachverhalte zu hinterfragen und skeptisch zu sein gegenüber dem, was die Regierung und die Märkte uns verkaufen wollen – das spüre ich. Ein großes Unbehagen statt dieses Teufelskreises zwischen Hochmut und Euphorie und Depression spüre ich jetzt im Kommen eine gewisse Wut auf die Verhältnisse und ein sehr scharfe Kritik, aber auch einen sehr großen Willen zu hinterfragen, was richtig los ist, und nicht in diesen Teufelskreis zwischen Euphorie und Depression zu geraten.

Führer: Das heißt, die aktuelle Krise bietet auch jetzt den Anlass, über das Verhältnis von Bürger und Staat neu nachzudenken, neu zu diskutieren in Portugal?

Cadete: Ungeheure Chancen würde ich sagen, und es tut mir leid, dass viele andere nicht die Chancen sehen, die ich sehe. Man hat weniger Geld, okay. Ein Zehntel meines Gehalts wird gekürzt, okay. Aber ich nehme mir Zeit, darüber nachzudenken. Ich nehme mir Zeit, meine Aktivitäten, meine Beschäftigungen, die nichts kosten, einfach zu erweitern zum Beispiel und mit anderen zu reden, vor allem mit anderen zu diskutieren und in erster Linie mit meinen Studenten, das ist ja meine Beschäftigung.

Führer: Äußern sich denn die Intellektuellen und Künstler Portugals jetzt auch zu der Krise, gibt es da eine öffentliche Debatte?

Cadete: Die öffentliche Debatte ist im Moment immer noch auf dem Schockregister. Die Leute sind schockiert, die Leute sind empört. Und ich möchte wirklich hoffen und was dafür tun, dass man einfach die Wende kriegt und Alternativen, gemeinsame Alternativen entwickeln. Was Tatsache ist, ist, dass man eine große Reform im öffentlichen Dienst und überhaupt in der Wirtschaft haben muss. Man hat zum Beispiel oft an falscher Stelle geschnitten und vieles zerschlagen im Namen einer blinden Modernisierung, was sich dann später herausgestellt hat, dass es sehr nachhaltig ist.

Nehmen wir das Beispiel, viele Branchen der Landwirtschaft, wo auch viele Produkte, wofür Portugal sehr bekannt ist, immer noch produziert werden konnten, bis man sich klar geworden ist, dass die traditionelle Herstellung auch sehr viele Vorteile hat. Nicht alles geht über Subventionen, nicht alles geht über Geld. Also vieles geht um Imagination, Einbildungskraft, und da sind viele Portugiesen einfach fabelhaft. Und wir haben also wirklich sehr gut funktionierende Betriebe und Dienstleistungen. Andererseits, traditionelle Läden und so, einfach Stadtsinn, Bürgersinn, aber eher in einem familiären Register. Man muss einfach von diesem familiären Register, das ja auch viele Fehler der Vetternwirtschaft mit bedingt, man muss einfach eine Stufe höher gehen und denken, wo kann man sich öffentlich einsetzen, damit die Politik im Lande der Wirtschaft die Stirn hält und in Schranken hält.

Führer: Portugal war ja über Jahrhunderte ein Auswanderungsland. Wenn ich Sie recht verstehe, dann wollen Sie alles dafür tun, dass das nicht wieder aktuell wird.

Cadete: Ich fürchte, das beginnt in der heutigen Tageszeitung "Publico", da stehen Zeugenaussagen von jungen Wissenschaftlern, die ganz klar sagen, wir wollen auswandern. Sie bekommen woanders bessere Arbeitsbedingungen. Aber ich sag es Ihnen: Ich bin vor 40 Jahren auch ausgewandert, weil mir erging es genauso. Ich wollte im Ausland studieren und habe in Deutschland studiert. Und nur durch die Revolution bin ich nach Portugal zurückgekommen, sonst wäre ich noch in Deutschland.

Führer: Und Sie sagen aber, jetzt wird es wird es wieder aktuell?

Cadete: Ja, das wird wieder aktuell, dass viele Leute auswandern wollen, weil sie einfach – sie schauen auf ihre eigenen Interessen, das kann man ihnen nicht übelnehmen, zum Beispiel als Forscher in der Wissenschaft. Sie bekommen woanders, also in den USA, in Deutschland, in Skandinavien und was weiß ich bessere Forschungsbedingungen. Aber das ist nicht alles. Das ist nicht alles und das ist eine Flucht, die man zwar verstehen kann, aber sich sehr negativ auf das Land auswirkt. Aber man muss das verstehen, weil das Gewicht der Bürokratie im Land ist noch so erdrückend, und das hat wieder mit der fehlenden Reform im öffentlichen Dienst zu tun, dass manche Initiative einfach erschwert wird. Das ist die Quadratur des Kreises, diese Aufgabe zu lösen, weil andererseits, wenn man den öffentlichen Dienst reformieren will, muss man viele Arbeitsplätze einfach abschaffen. Und das ist eine harte Geschichte.

Führer: Das sagt Teresa Cadete, Professorin für Literatur an der Universität Lissabon, Schriftstellerin und Präsidentin des portugiesischen PEN ist sie auch.
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