"Ich sehe darin den Zusammenbruch einer ganzen Lebenswelt"

Moderation: Nana Brink |
Für Ludwig Harig wird mit dem Ende des Kohleabbaus auch eine ganze Kultur verschwinden. Der Schriftsteller sagte im Deutschlandradio Kultur, die Bergbauindustrie habe im Saarland das Leben seit 150 Jahren geprägt. In seinem Heimatort Sulzbach hatte Harig den Niedergang des Bergbaus schon in den 1950er Jahren erlebt. Doch damals sind alle Bergleute in anderen Industrien untergekommen. Für die heutige Zeit sehe er da eher schwarz, so Harig.
Nana Brink: Hem, Heim, ist ein Ausruf, der oft in den Büchern von Ludwig Harig vorkommt, zum Beispiel in seinem großen Roman "Ordnung ist das halbe Leben", das er seinem Vater, einem Maler- und Lackierermeister aus Sulzbach an der Saar, gewidmet hat. Ludwig Harig, Jahrgang 1927, gehört zu den Großen der bundesdeutschen Literatur, und gut in Erinnerung sind die Bücher "Die Wahrheit liegt auf dem Platz - Fußballsonette anlässlich der WM 2006" oder "Und wenn sie nicht gestorben sind". Darin gibt es Begegnungen u.a. mit berühmten Saarländern wie Erich Honecker oder Oskar Lafontaine. Und statt wie viele Dichter der Provinz zu entfliehen, hat Harig das Saarland mit in seine Bücher genommen. Er lebt in seinem Geburtsort Sulzbach, und dort sitzt er auch am Telefon. Schönen guten Morgen, Herr Harig!

Ludwig Harig: Guten Morgen!

Brink: Guten Morgen! Ihre Heimat, das Saarland, das erschüttert ja nicht nur reale Erdbeben. Der Kohleabbau, eine Industrie, die das Saarland ja sehr geprägt hat, steht vor dem Aus. Über 4.800 Bergleute sind davon betroffen und weitere 5.000. Wie wichtig ist denn die Tradition des Bergbaus für das Saarland?

Harig: Ja, ich glaube, ich bin zwar kein politischer Vordenker, auch kein Prophet. Ich schließe eigentlich alles aus bei einer eigenen Kindheit und Jugend. Ich wohne und lebe hier in Sulzbach. Und dieses Sulzbach, das ist 150 Jahre lang der Mittelpunkt der saarländischen Bergbauindustrie gewesen. Und als Kind dieser Familie, die damals bis zu den Urgroßeltern hier gelebt und gearbeitet hat, habe ich natürlich seit meiner Kindheit diesen Zusammenbruch, ja, den Untergang den Kohlenbergbaus am eigenen Leib miterlebt. Das ist etwas, was, wie soll ich es sagen, ich sehe in diesem Ereignis, das jetzt da im Saarland geschehen ist, sehe ich viel, viel mehr als nur eine Misere. Ich sehe auch nicht nur den Niedergang und den Zusammenbruch der Bergbauindustrie, die unser Leben hier im Saarland wirklich über drei, vier Generationen geprägt hat. Ich sehe darin wirklich den Zusammenbruch einer ganzen Lebenswelt.

Brink: Können Sie die beschreiben, gerade wenn sie Sie ja in Ihrer Kindheit schon gelebt haben. Was hält die denn zusammen? Was ist denn das, was Sie fürchten, das vielleicht wegfällt, weshalb es ja auch so erschüttert?

Harig: Ja, es wird alles das wegfallen, was in irgendeiner Weise ja damit zu tun hat, die Lebensart der Menschen so zu gestalten, dass sie nicht in Armut leben und nicht in Armut leben müssen. Der Bergbau ist eine Industrie gewesen, die ganze Zeit über, da haben die Bergleute viel Geld verdient, waren gut gesichert durch ihre Pensionen und Renten. Und dieses Sulzbach, in dem ich lebe und wohne, in dem auch schon meine Eltern und Großeltern gelebt und gewohnt haben, ist als Mittelpunkt dieser Industrie geradezu ein blühender Ort gewesen. Sie müssen verstehen, da gab es Feinkostgeschäfte mit den besten Waren. Ich will das nicht aufzählen. Alles das, was sozusagen ein besseres Leben gewährleistet, ist hier in Sulzbach schon seit 1950/55 kaputt gegangen.

Und wenn ich durchs Dorf gehe - Sulzbach ist zwar nach dem Krieg als Stadt wiederauferstanden, aber es ist ein Dorf geblieben - und dieser blühende Lebensort, der ist so gekennzeichnet, dass ich, wenn ich durch die Hauptstraße gehe, sehe ich leerstehende Geschäftshäuser, vernagelte Schaufenster, in denen einst diese leckersten Feinkostwaren nicht nur bestaunt, sondern geradezu ja auch gekauft und genossen worden sind. Und deshalb fürchte ich, diese ganze Lebensart, die ja eine Lebenswelt und eine Erlebniswelt ist, die geht kaputt.

Brink: Warum erschüttert dieser angekündigte Tod die Menschen denn so sehr? Sie haben ja selber schon gesagt, Sie haben es über Jahrzehnte hinweg beobachtet. Es war eigentlich schon länger klar, dass das zu Ende gehen würde. Ein deutliches Signal zum Beispiel war, 2007 beschließt die Bundesregierung zusammen mit Nordrhein-Westfalen und dem Saarland das Ende des Steinkohleabbaus bis 2018. Und trotzdem kommt es jetzt so, dass es sie erschüttert. Wie erklären Sie sich das?

Harig: Ja, wenn Sie sich irgendwie eine Vorstellung machen davon, was eine wirkliche Lebenswelt für Generationen eines Geschlechts ausgemacht hat, die Art und Weise, wie gelebt worden ist und in welchem Zusammenhang, auch kulturell gesehen, gelebt worden ist. Ich bin heute Morgen schon auf den Balkon gegangen wie jeden Tag und habe hinaus geschaut über das Tal hinweg, und es sind, na, wie soll ich sagen, noch nicht einmal ein Kilometer Luftlinie, da schaue ich auf eine sanft gewölbte Kuppe. Und das ist der sogenannte brennende Berg. Schon seit mehr als 300 Jahren glost in diesem Berg ein Kohlenflöz und ist nicht zu löschen. Das hat 1770 Goethe hierher nach Sulzbach gelockt. Und er hat sich das angeschaut. Und als ich heute Morgen wieder auf diese schöne sanft gewölbte Kuppe geblickt habe, habe ich auch an all das gedacht, was Goethe darüber in "Dichtung und Wahrheit" geschrieben hat. Es hat sehr viel mit Kultur, mit Seele, mit Erlebnishaftigkeit zu tun, dass, wenn es kaputt geht, auch damit eine Kultur kaputt geht und nur noch Erinnerung bleibt.

Brink: Aber ist denn nicht das Sterben der Kohleindustrie auch eine Art natürlicher, historischer Prozess?

Harig: Ja, natürlich. Natürlich. Und diese Zusammenhänge, wie soll ich sagen, von menschlichen und von Naturbedingungen, diese Zusammenhänge, die sind unlösbar miteinander verbunden. Wenn man das eine wegnimmt, dann ist das andere auch kaputt. Der Abbau der Kohle, der schaffte ja eine Industrie, eine ganze Lebenswelt. Und endet dieser Abbau, endet damit auch diese Lebenswelt. Man kann sagen, bleibt der Abbau, weil jetzt überall gesagt wird, nein, wir wollen die Saarkohle retten, dann sind die Arbeitsplätze gesichert. Endet aber der Abbau, dann gehen die Arbeitsplätze alle verloren.

Brink: Herr Harig, haben Sie denn eine Art von Hoffnung? Das erwartet man ja eigentlich von einem Dichter, dass er einem sagt, okay, die eine Welt geht zu Ende. Aber können Sie uns irgendwie Hoffnung machen oder den Menschen im Saarland, wie es denn weitergehen könnte?

Harig: Ich habe, glaube ich, zu Anfang schon gesagt, dass ich kein Prophet bin.

Brink: Aber ein leidenschaftlicher Saarländer?

Harig: Das bin ich natürlich. Und ich bin hier geboren, lebe hier, und diese ganze Welt ist natürlich meine Welt. Die ist hier in Sulzbach, wo ich wohnen geblieben bin, auch gar nicht gerettet worden. Die Menschen, die im Bergbau gearbeitet haben, das war der Mittelpunkt des saarländischen Bergbaus, kann man sagen, 100 Jahre lang, die Menschen sind alle arbeitslos geworden, haben aber dann so nach 1950, als die letzten Gruben hier im Sulzbach-Tal geschlossen wurden, eine neue Arbeit gefunden. Das war aber eine, wie soll ich sagen, wirtschaftliche Situation, die ganz anders war wie unsere heutige Situation.

Sie wissen, die 50er Jahre, das waren die Jahre des Wiederaufbaus. Das waren die großen Jahre, in denen auch die Menschen alle Arbeit hatten, weil so viel kaputt war. Und diese 50er Jahre, die haben natürlich alle die, die hier als Bergleute gearbeitet hatten, wieder zu Arbeit gebracht, weil eine neue Industrie hier in Sulzbach oder andere kleinere Industrien angesiedelt wurden. Ob das heute noch möglich ist, wenn es so, wie es ja aussieht, wirtschaftlich gar nicht besonders rosig auch bleiben wird im Saarland, fürchte ich natürlich, dass, wenn diese Arbeitsplätze jetzt verloren gehen, nicht wieder wie in den 50er Jahren etwas Neues zur Blüte kommen könnte.

Brink: Vielen Dank! Ludwig Harig war das, der Schriftsteller. Und wir sprachen mit ihm über das Ende des Kohlebergbaus und wenig Hoffnung in seinem Bundesland. Schönen Dank für das Gespräch!

Harig: Darf ich noch eine kleine Nach ...

Brink: Ganz kurz?

Harig: Ja, der autobiografische Roman, den ich geschrieben habe, der heißt nicht nur "Ordnung ist das halbe Leben", der heißt sogar "Ordnung ist das ganze Leben".

Brink: Vielen Dank!

Harig: Und wenn man das bezieht auf das, worüber wir jetzt gesprochen haben, dann sieht man, wenn Ordnung das ganze Leben ist, wie viel es bedeutet, wenn das, was alte Ordnungen sind, die geprägt haben, kaputt gehen.

Brink: Vielen Dank!

Harig: Bitte schön!

Brink: Ludwig Harig war das, der Schriftsteller aus Saarland über den Kohlebergabbau in seinem Bundesland.