"Ich muss jetzt anfangen mit den Gedankenspielen"

Clemens J. Setz im Gespräch mit Britta Bürger · 18.03.2011
Er habe "gar keinen rationalen Grund dafür" gehabt, damit zu rechnen, dass er den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten würde, sagt Clemens J. Setz, der gestern für sein Buch "Die Liebe zu Zeiten des Mahlstädter Kindes" ausgezeichnet wurde. "Ich habe die anderen Bücher gelesen und habe mir gedacht, ja, der, der könnte es sein".
Britta Bürger: Am frühen Abend wurde gestern auf der Leipziger Buchmesse bekanntgegeben der Preisträger des Leipziger Buchpreises 2011, und von den sechs Nominierten in der Kategorie Belletristik fiel die Wahl auf den jüngsten Kandidaten, den 28-jährigen Österreicher Clemens Johann Setz. Schon sein Debütroman "Söhne und Planeten" schaffte es vor vier Jahren auf die Shortlist des Aspekte-Literaturpreises, ein Jahr später ließ Setz mit einer Erzählung beim Bachmann-Wettbewerb aufhorchen, und dann legte er bald darauf seinen 700 Seiten starken Roman "Die Frequenzen" vor, der dann auch für den Deutschen Buchpreis 2009 nominiert wurde. Clemens Setz ist also fraglos ein großes Talent, und doch hielten manche seinen neuen Erzählband für ziemlich speziell, manche fanden ihn zu roh, zu gewalttätig, zu eindeutig in der Darstellung von Sexualität. "Die Liebe zu Zeiten des Mahlstädter Kindes", so heißt das Buch, für das Clemens Setz nun also den mit 15.000 Euro dotierten Leipziger Buchpreis bekommen hat, und direkt nach der Bekanntgabe hatte ich die Gelegenheit, ihn zu befragen, ob er wohl vorher Gedankenspiele hatte, was wäre, wenn er den Preis tatsächlich bekäme.

Clemens J. Setz: Nein, tatsächlich nicht. Ich muss jetzt anfangen mit den Gedankenspielen. Aber es arbeitet schon in mir.

Bürger: Warum haben Sie nicht damit gerechnet?

Setz: Ich habe gar keinen rationalen Grund dafür, ich habe nicht irgendwelche Berechnungen angestellt, aber ich habe einfach so vom Gefühl her eher gedacht, dass es jemand anders werden kann. Ich habe die anderen Bücher gelesen und habe mir gedacht, ja, der, der könnte es sein, oder ... ich weiß nicht.

Bürger: Im Klappentext stellt Sie der Suhrkamp Verlag vor als jemanden, der Mathematik und Germanistik studiert hat, der als Übersetzer, Obertonsänger und Gelegenheitszauberer gearbeitet hat und der als freier Schriftsteller in Graz lebt, 28 Jahre sind Sie alt. Ich habe gedacht, dass all diese Fähigkeiten ja auch in Ihr Schreiben einfließen, das Übersetzen von Beobachtungen, das Singen von Wortmelodien, das Zaubern von Geschichten – oder ist das eine viel zu romantische Vorstellung vom harten Schreibprozess?

Setz: Es ist ein bisschen romantisch vielleicht, aber nicht ganz schlimm, weil all diese Sachen natürlich Inspirationen sind immer wieder, gerade Mathematik vor allem. Das Obertonsingen ist eher ein schöner Zeitvertreib, es ist Singen für Einsame, hat man mir heute erklärt, weil man da ja zweistimmig singt, allein, also ist das gut für einsame Menschen.

Bürger: Und warum die Mathematik?

Setz: Warum? Na ja, es gibt eine lange Geschichte und eine kurze, ich glaube, besser ist die kurze. Ich habe irgendwann gemerkt, dass ich das kann, also dass mir Mathematik leicht fällt und dass das irgendwie angenehm ist, das zu machen, und dann habe ich allerdings auch gespürt, dass es in den meisten Fällen so ist, als müsste man mit Handschellen Klavier spielen. Also man darf ja nicht viel in der Mathematik, man muss immer beweisen, man muss kleine nachvollziehbare Schritte gehen und so weiter. Das ist einengend und befreiend zugleich, befreiend eben durch die wunderbaren, sonderbaren Objekte, die es da gibt, und das große Bestiarium der mathematischen Lebewesen.

Bürger: Und das haben Sie dann in die Sprache übersetzt, in die Worte, in die Literatur?

Setz: Ja, hier und da vielleicht. Ich schreibe nicht wirklich über Mathematik, aber es kommt hier und da vor, ja. In einer Geschichte kommen zum Beispiel Fraktale vor, das ist eh noch ein populärer Mathematikzweig, oder auch mal die Nullstellen der Riemannschen Zetafunktion, die auch bei Thomas Pynchon schon eine große Rolle spielen.

Bürger: "Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes", so heißt Ihr ausgezeichneter Erzählband, und dieser Titel klingt wie aus einer lange vergangenen Zeit, und doch spiegelt die gleichnamige Titelgeschichte ja eher eine Geschichte, die in der Gegenwart oder sogar in der Zukunft geschehen könnte. Wer ist das Mahlstädter Kind?

Setz: Es gibt in dieser Geschichte einen Künstler, der eine Skulptur baut, und zwar von einem sitzenden Kind, und das ist aus einem Material gemacht, das formbar bleibt, so wie weicher Lehm, das ist mehr so ein Kunststoff, und er stellt dieses Kunstwerk auf einen Marktplatz auf und sagt: Das ist eine soziale Plastik, wir alle müssen an der Erschaffung von Kunst teilhaben, und jeder Mensch ist dazu aufgefordert, dieses Kind, das Mahlstädter Kind eben, so nennt er das, mit Schlägen oder mit Gewalteinwirkung oder mit Kneten, was auch immer, in die Form zu bringen, die ein Kind haben soll, in die allgemein als vollkommen anerkannte Form eines Kindes. Und das Kunstwerk macht – wie es manchmal ja ist bei Statuen, Skulpturen –, es wird in verschiedenen Städten aufgestellt, und in einer dieser Städte kommt es eben dann zu meiner Geschichte, über die ich jetzt nicht alles verraten möchte.

Bürger: Auf jeden Fall kann man wohl so viel zu raten, dass das Ganze zu einem, ja, unkontrollierten Gewaltausbruch führt. Wie sind Sie auf die Idee dieser Geschichte gekommen, wie viel hat das mit realer Gewalt zu tun, etwa mit Jugendlichen, die Obdachlose in der U-Bahn fast zu Tode prügeln?

Setz: Ich würde sagen, es hat durchaus etwas mit genau zum Beispiel solchen Fällen zu tun, denn diese Jugendlichen haben wahrscheinlich als Modell für ihre Gewalt im gewissen Sinn so etwas wie Kunstwerke, also Filme, Handyvideos, die sie auf Youtube anschauen oder sowas, das ist das Modell dafür, oder auch natürlich Dinge, die man aus dem Schulhof vielleicht direkt übersetzt in die Realität. Gut, ich will da jetzt nicht mich aufspielen zum Experten für so etwas, aber oft sind Modelle, die für das Erlauben von Gewalt verwendet werden, völlig unschuldig und wunderschön an sich. Es kann die Idee einer ... von Ehre und Verantwortung sein, die Gewalt erlaubt, es kann ein Kunstwerk sein, es kann das Beschützen eines Kunstwerks sein oder einer Vergangenheit oder einer Idee. Das ist alles immer wunderschön und poetisch manchmal sogar, verführerisch fast schon, erotisch, was auch immer. Aber es ermöglicht meistens Übergriffe und auch das Versklaven von Menschen manchmal.
Bürger: In vielen der Erzählungen in diesem Band loten Sie ja die Grenze aus von Kontrolle und Kontrollverlust, von Unterwerfung und Dominanz, häufig gespiegelt in der Sexualität, indem Menschen durch Gewalt – sei sie verbal oder physisch – Lust empfinden. Was interessiert Sie an diesem Grenzbereich?

Setz: Mich interessiert die Tatsache, dass es kein Grenzbereich ist, sondern eine ganz zentrale Überlagerung und vielleicht auch eine Art, ja, stimmiger Akkord, der immer gespielt wird. Ich kann mir keine Beziehung zwischen Menschen vorstellen, in der Gewalt überhaupt kein Thema ist. Na ja, vielleicht gibt es da ein paar Beispiele, aber es ist auf alle Fälle dieses uralte Thema Sexualität, Gewalt. Ich glaube, das wird immer ein bisschen so abgetan als, nun, das ist es jetzt, oh, okay, da geht es um Sexualität und Gewalt, aber das ist sehr, sehr grob meistens und sehr, sehr allgemein gesagt – wie es so schön heißt: ein sehr weites Feld.

Bürger: In einigen der Erzählungen – für mich waren das die kürzeren – wird Ihre Sprache regelrecht körperlich spürbar, da finden Sie sehr sinnliche Bilder, zum Beispiel heißt es an einer Stelle über eine Frau: "Ihre Stimme war traurig, zerknittert, ein eingeschüchterter Rest". Wie entstehen so bildhafte Sätze?

Setz: Das weiß ich gar nicht. Ich höre sie beim Schreiben so und es ist vielleicht eine Form von doppelt sehen manchmal, so wie nach einem starken Schlag auf den Kopf. Man sieht ein bisschen doppelt, man sieht zwei Dinge gleichzeitig. Man hört eine Gartenpforte knarren und denkt an das Zähneknirschen eines Babys oder so etwas. Das klingt ähnlich. Und was das bedeutet, weiß man nicht, es bedeutet meistens etwas, es bedeutet, dass in meinem Gehirn Dinge nebeneinander sind, die vielleicht bei anderen Menschen nicht nebeneinander sind, oder es bedeutet, dass ich Dinge klarer mal darstellen kann, als bisher versucht wurde – das muss nicht immer funktionieren, meistens wahrscheinlich eh nicht, aber ich mache es halt so, durch meistens Bilder.

Bürger: Und diese Sätze entstehen tatsächlich so in Ihrem Kopf, oder schieben Sie die Wörter da auch noch hin und her und wechseln sie aus und konstruieren das Bild dann doch?

Setz: Also ich überarbeite es schon oft und streiche auch weg und tue wieder dazu, aber die Bilder selbst, die mit Metaphern, die Vergleiche, die sind meistens von Anfang an da. Das heißt nicht, dass sie mir ganz leicht fallen – oft muss ich mich sehr konzentrieren und lange darüber nachdenken, ob das Bild so stimmt oder ob vielleicht ein Wort weggehört, dass es dann klarer wird, aber sie sind das Erste, was da ist meistens.

Bürger: Das Körperliche haben wir eben schon angesprochen, Sie selbst spüren Ihren Körper vermutlich auch deutlicher als andere Menschen, da Sie einen Tinnitus im Ohr haben, das heißt, Sie hören dauerhaft einen Ton. Was macht das mit Ihnen, wie gehen Sie damit um?

Setz: Inzwischen brauche ich gar nicht mehr damit umgehen, denn nach 12 oder 13 Jahren Tinnitus hat mein Gehirn beschlossen, dass es nicht mehr interessant ist, und es ist jetzt ungefähr dasselbe für mich wie Menschen ohne das zum Beispiel das Verkehrsrauschen oder das Rauschen des eigenen Blutes oder der eigene Herzschlag oder so. Es stört mich nicht mehr. Es war aber ein langer Weg bis dahin, aber da es ja keine Heilung gibt und auch keine Erklärung meistens außer irgendwelche vielleicht Gefäßfehlbildungen im Ohr, im Gehirn oder was auch immer, hat das eben so sein müssen. Ich war aber schon nah am Selbstmord wegen dem, kann ich auch sagen, aber Gott sei Dank ist das weit weg jetzt.

Bürger: Clemens Johann Setz, er hat den Leipziger Buchpreis 2011 bekommen für seinen Erzählband "Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes". Erschienen ist das Buch bei Suhrkamp, 350 Seiten, Kosten: 19,90 Euro.
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