"Ich mach disch Krankenhaus!"

Von Reinhard Mohr · 26.04.2012
Weil die Germanistik nicht nur die Hochsprache, sondern auch Dialekte untersucht, hat sie sich nun auch des sogenannten Kiezdeutsch angenommen, einer Mischform aus Deutsch, Türkisch und Arabisch, wie sie vor allem von Migranten gesprochen wird. Lohnt die Mühe? Reinhard Mohr ist skeptisch.
"- "Ey Alder, was geht ab?"
- "Voll krass, Mann, mach isch disch Messer! Ischwör!"
- "Lassma, gehst du Aldi!"
- "Machstu rote Ampel! Mach ich disch Krankenhaus, du Opfer! Konkret!""

Das zarte Pflänzlein ist nicht mehr ganz taufrisch, aber die deutsche Wissenschaft geht eben gründlich vor, wenn sie Neuland betritt. Nun also hat auch die fortschrittliche Linguistik das "Kiezdeutsch" entdeckt, jenes deutsch-türkisch-arabische Amalgam, welches Feridun Zaimoglu lange schon "Kanaksprak" nennt und dem hessischen Comedy-Duo "Mundstuhl" ("Dragan und Alder") seit fünfzehn Jahren den Lebensunterhalt sichert. Guck mal, was hier alles gibs! denkt da der kritische Beobachter und greift zum guten Buch, das alles erklärt und so.

"Kiezdeutsch" heißt das neue, bahnbrechende Werk der Potsdamer Germanistikprofessorin Heike Weise, deren Infoportal www.kiezdeutsch.de, unterstützt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, auch dem eiligen Zeitgenossen nützliche Handreichungen bietet. Etwa diese: "Kiezdeutsch ist kein falsches oder schlechtes Deutsch, sondern eine sprachliche Varietät, die in sich stimmig ist." Brontal gut das. "Neue Aufforderungspartikel" wie "Musstu" oder "Lassma!" und eine grammatikalische Nonchalance wie das elegante Weglassen von Artikeln und Präpositionen seien der avantgardistische Teil eines "neuen, dynamischen Turbo-Dialekts", der die Standardsprache des Hochdeutschen "systematisch und produktiv" bereichert.

So werden wir alle "Zeugen einer faszinierenden Entwicklung in unserer Sprache", deren puristischer Dogmatismus den unteren Schichten von Bildungsbürgertum und Oberschicht bislang brutal aufgezwungen wurde. Beim heiligen Marx: Voll krass der Klassenkampf!

"Es geht mir auch darum, dem Vorurteil entgegenzuwirken, man habe es mit einer reduzierten Grammatik zu tun," sagte sie schon 2008 im Gespräch mit goethe.de. Intuitiv greift man zum Weimarer Dichterfürsten und liest im "Werther": "Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich den süßen Frühlingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen genieße." Und tatsächlich, eine gewissenhafte Übertragung ins Kiezdeutsch zeigt keinerlei Spuren reduzierter Grammatik. Ganz im Gegenteil: "Ultra korrekt nach Aufstehn. Ischschwör: Herz is krass gechillt, weil nich mehr so scheiß'n'dreck kalt da draußen. Guckstu!"

Gehst du Schule, Alder! heißt also die revolutionäre Parole, und nicht zufällig sind es exakt und abgezählt vierundzwanzig Berliner Pennäler, die die empirische Grundlage dieser geradezu kopernikanischen Wende in der Sprachwissenschaft bilden. Ähnlich wie beim "Gender Mainstreaming" geht es bei dem Projekt des "German Mainstreaming" - im Sinne einer Liquid Language nach Piratenart - offenkundig darum, soziale Hierarchien und Herrschaftsformen abzubauen.

Schluss mit der Diskriminierung des Kiezdeutschen als "Kauderwelsch", "Trümmersprache" oder "gequetscht-gutturaler Sprechweise" von Leuten, die nicht mal die Sprache ihrer Eltern verstehen! Schluss mit dem Terror einer Schriftsprache, die die gesellschaftlichen Machtverhältnisse zementiert und die Volksmassen in ewiger Unwissenheit hält! Nieder mit dem Diktat einer Hochsprache, die am Ende doch nur den Unterdrückern und elitären Bildungslakaien wie Günter Jauch in die Hände spielt! Es lebe die Fantasie einer Subkultur, für die Klopstock ein Baseballschläger ist und sonst nichts!

Aber ach, die Zeit geht am Ende über alles hinweg. Tempora mutantur et nos in illis. Wer erinnert sich denn, bitteschön, noch ans Mönchslatein, an Apothekergriechisch, Rotwelsch, Krugdeutsch oder das oberschlesische Wasserpolnisch? Eben. Ein Trost bleibt: So lange deutsche Professorinnen sich über Sätze wie "Isch bin Alexanderplatz und wo gehst du?" beugen, richten Sie andernorts kein Unheil an. Ischwör!

Reinhard Mohr, geboren 1955, ist freier Journalist. Zuvor schrieb er für Spiegel Online und war langjähriger Kulturredakteur des Spiegel. Weitere journalistische Stationen waren der Stern, Pflasterstrand, die tageszeitung und die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Buchveröffentlichungen u. a.: "Das Deutschlandgefühl", "Generation Z", "Der diskrete Charme der Rebellion. Ein Leben mit den 68ern" und "Meide deinen Nächsten. Beobachtungen eines Stadtneurotikers".

Was meinen Sie: Sollte die Germanistik das sogenannte Kiezdeutsch erforschen? Lohnt sich der wissenschaftliche Aufwand? Diskutieren Sie mit auf unserer Facebook-Seite.
Reinhard Mohr
Reinhard Mohr© dpa / picture alliance / Karlheinz Schindler
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