Ich liebe die Demokratie

Von Stefan Theil |
"Könnt Ihr Euch denn immer noch nicht entscheiden?" Meine Freunde im Ausland sind recht amüsiert darüber, was die Deutschen wieder mal mit sich selbst anstellen. Was die derzeitigen Rangeleien in Berlin angeht, sind sie eher ergebnisorientiert. "Sag’ einfach Bescheid, wenn es eine Regierung gibt."
Am 18. September hatten die Deutschen die Wahl. Und sie haben sich nicht entschieden. Ich liebe die Demokratie: das Votum reflektiert auf absolut perfekte Weise den Zustand dieses Landes. Zur deutschen Krankheit wirtschaftlicher und sozialer Lähmung kommt nun noch die politische Entscheidungsunfähigkeit hinzu.

Dabei sah es doch vor kurzem so anders aus. Die Zeichen standen auf Wechsel. Nach jahrelangem Dahinsiechen mit immer höher steigender Massenarbeitslosigkeit schien nun eine Mehrheit zu genau dem Kurswechsel bereit, den so viele Länder auf der Welt mit ganz ähnlichen Problemen schon seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, hinter sich haben. Angela Merkels Wahlkampftalent hin oder her, am Ende glaubte eine Mehrheit der Wähler doch an den deutschen Sonderweg. Nichts beherrschten Gerd Schröder und Joschka Fischer in diesem Wahlkampf so sehr, wie das Spiel mit der Angst der Deutschen vor Risiko, Markt und Konkurrenz.

Mal schauen, was die politische Klasse mit dem Ergebnis macht. Ich glaube, es ist für sie ein Test. Wie schon öfters ein bisschen verspätet, hat sie erst einmal ein Rendezvous mit der Geschichte: Die durch den Zusammenbruch des Kommunismus ausgelösten politischen Verwerfungen haben nun endlich auch Deutschland erreicht. Wie in vielen Nachbarländern schon in den 90er Jahren, bricht nun auch hier das alte, stabile Parteiensystem auf. Die vorhersehbare bundesrepublikanische Konsensdemokratie scheint ersetzt zu werden durch eine neue und unbekannte politische Dynamik.

Und es gibt noch einen Test, vor dem die deutsche Gesellschaft steht. Zum ersten Mal seit Gründung der Bundesrepublik steht das Land vor der Aufgabe, den Gesellschaftsvertrag neu zu verhandeln, denn der für alles zuständige Staat ist heute nicht mehr mit Wohlstand und Beschäftigung vereinbar.
Eigentlich stand diese Aufgabe schon 1990 zur Vereinigung an. Damals hat man sich aber lieber noch vor unbequemen Entscheidungen gedrückt und wider besseren Wissens den damals schon dysfunktionalen Sozialstaat und Wirtschaftskorporatismus (West) über den Osten gestülpt. Die wirtschaftlichen und sozialen Verwüstungen sind bekannt.

Merkels Reformangebot, jenseits aller Defekte und Unklarheiten und der Zerstrittenheit ihrer Partei, war wohl doch zu weit vorn in einem zutiefst konservativen Land.

Mit großen gesellschaftlichen Umwälzungen haben die Deutschen in ihrer Geschichte nicht sehr viel Erfolg gehabt, sind sie doch meist nur durch äußersten Druck zustande gekommen, einschließlich Gewalt von innen oder außen. Im heutigen Kontext könnte das heißen, dass es den Deutschen noch viel zu gut geht, die Arbeitslosigkeit und andere Perspektivlosigkeiten noch nicht weh genug tun, um zu viel Neues zu riskieren. Das derzeit wahrscheinlichste Szenario scheint mir das Weiterwursteln, ein Sowohl-als-auch, ganz wie der Ausgang der Wahl. Ich hoffe natürlich, dass es anders kommt.

Der Test kann so oder so ausgehen. Keiner garantiert, dass alles schön und rational weitergeht, auch wenn man noch so sehr die bundesrepublikanische Stabilitätsgeschichte beschwört. Dass es auch ganz neue politische Spiele geben kann, zeigt der Moment der Enthemmung des Kanzlers in der Wahlnacht, als er meinte, das demokratische Wahlergebnis sei doch lediglich ein formaler Grund, der ihn nicht hindern könne, Kanzler zu bleiben. Es gibt derzeit eine Nebelwand, wie es Guido Westerwelle letzte Woche gesagt hat, durch die noch niemand blickt.

Wenn es eine gute Nachricht gibt, dann die, dass es die Debatte über Merkels Reformen überhaupt gegeben hat. Egal was passiert, die Uhr wird man nicht zurückdrehen können. Osteuropa ist in der EU, zwei Milliarden Inder und Chinesen werden nicht aufhören, sich anzustrengen, nur weil die Deutschen komisch gewählt haben. Viele weitere Jobs werden dorthin auswandern. Diese Fakten schaffen Druck. Wer sich die Erfolge unzähliger deutscher Unternehmen anschaut, weiß auch, wie viel das Land noch kann, trotz seiner desolaten Politik. Es gibt keine Wahl, weiter zu reformieren oder nicht, Schröder hin, Merkel her.

Dennoch zeigt ein Blick auf die verlorenen letzten 15 Jahre, was es kostet, zu langsam zu sein. Käme es jetzt wirklich zur befürchteten Lähmung, zu einem noch mehr nach innen gerichteten, mit sich selbst beschäftigten Land, tja, dann wünsche ich wohl eher eine gute Nacht. Wie mir ein Bekannter vor ein paar Tagen sagte: Kanada ist auch ein schönes Land.

Stefan Theil, geboren 1964 in Düsseldorf, 1975 ausgewandert nach Pittsburgh/USA. Studierte Public and International Affairs an der Princeton University, Bachelor of Arts 1986, anschließend Studium der Politischen Wissenschaft in Berlin. Reporter für The Washington Post während der Wende 1989, ab 1990 für Newsweek. Berichte aus Belgien, Frankreich, Niederlande, Polen, Österreich, Russland, Schweiz, Spanien, Tschechische Republik, Ungarn und Ukraine. Deutschlandkorrespondent Newsweek seit 2001.