"Ich könnte nirgendwo anders leben"

Moderation: Jürgen König · 09.06.2008
Die amerikanische Schriftstellerin Donna Leon weiß die Vorzüge zu schätzen, die ein Leben als Amerikanerin in Venedig bietet: "Wenn man selbst nicht Italiener ist, ist das Leben dort sehr gut und angenehm." Gerade ist ihr neuester Krimi mit dem beliebten Commissario Brunetti erschienen. Darin geht es um illegale Kinderadoption.
Jürgen König: Donna Leon wurde in den USA geboren, sie wurde Reiseleiterin zunächst, dann Lehrerin an amerikanischen Schulen in der Schweiz, im Iran, in China und in Saudi-Arabien. Seit 1981 wohnt sie in Venedig, lehrt dort an einer Universität englische und amerikanische Literatur. Mit über 50 begann sie zu schreiben, jetzt ist ihr 16. Commissario Brunetti-Fall auf Deutsch erschienen, und da jedes ihrer Bücher verlässlich auf der Bestseller-Liste gelandet ist, wird wohl auch dieses es tun. (…) Ich freue mich sehr, Donna Leon ist zu Gast im Studio. Willkommen!

Donna Leon: Thank you very much.

König: Und eben so willkommen, Marei Ahmia, die für uns übersetzen wird.

Marei Ahmia: Danke, hallo!

König: Donna Leon: groß vorzustellen braucht man Sie nicht. Ihren Comissario Brunetti haben Sie jetzt zu seinem 16. Fall losgeschickt. "Lasset die Kinder zu mir kommen" heißt das Buch in deutscher Übersetzung, das wiederum bei Diogenes erschien. Sie sind für drei Lesungen nach Deutschland gekommen, in Burgdorf, Rostock und Berlin. Bei diesen Lesungen, was wollen die Leute da von Ihnen wissen. Sie sind so beliebt in Deutschland mit Ihren Büchern. Wie ist das, wenn die Leute endlich der, ich sage ruhig mal, der großen Donna Leon gegenüberstehen? Was fragen sie Sie dann?

Leon: Die häufigsten Fragen sind, ob Donna Leon mein echter Name ist. Warum meine Bücher in Italien nicht erscheinen, nicht veröffentlicht werden. Und dann kommt die Frage, ob ich nicht mal ein Kochbuch veröffentlichen möchte. Und dazu lauten die Antworten erstens, ja, das ist mein echter Name, und zweitens, ich möchte dort, wo ich lebe, keine bekannte Persönlichkeit sein, und drittens, mein Kochbuch wird 2009 erscheinen.

König: Da gehen wir doch gleich auf den zweiten Teil, auf die zweite Frage etwas detaillierter ein. Sie leben seit 1981 in Venedig. Es gibt mittlerweile Stadtpläne dieser Stadt, in denen genau die Bücher sozusagen nachvollziehbar sind mit all den Orten, an denen Commisario Brunetti recherchiert hat. Ich kann mir das gar nicht vorstellen, dass niemand in der Stadt Sie kennt. Sie haben in einem Interview, ich glaube, der "Zeit" gesagt, Ihr Nachbar, der wüsste, dass Sie schreiben, aber sonst niemand. Ist das so? Sie sind anonym in Venedig?

Leon: Sie wissen schon, dass ich schreibe. Aber sie wissen nichts über meinen Erfolg. Und ich sorge dafür, dass das auch so bleibt. Das ist mir schon lieber. Für sie bin ich weiterhin die Amerikanerin, die dort lebt, die eine vernünftige Person ist und mit der man auch ganz normal sprechen kann.

König: Dabei haben Sie sich doch in Ihren Büchern so kritisch mit Italien auseinandergesetzt, immer wieder, auch in der "Zeit" war zu lesen, dass Ihre Bücher immer pessimistischer, immer zynischer werden würden. Eigentlich ist es doch schade, dass ausgerechnet das Land, in dem Sie nun seit 27 Jahren leben, so gar nichts von dieser Kritik mitbekommt.

Leon: Man sollte sich das anhören, was die Italiener zu sagen haben. Es ist nichts in meinen Büchern, was die Italiener nicht schon selber und besser oder korrekter und akkurater gesagt haben.

König: Was glauben Sie, warum haben Ihre Bücher in Deutschland so einen großen Erfolg? Was ist es, was gerade die Deutschen so da anzieht?

Leon: Dafür gibt es verschiedene Gründe. Einmal, dass man den Büchern anmerkt, dass es sich um eine gebildete Autorin handelt, jemanden, der Literatur studiert hat und etwas von seinem Fach versteht und mit der westlichen Kultur vertraut ist. Und zweitens auch der Held der Geschichte, Commissario Brunetti, ist ein angenehmer, kultivierter Mann, der dem Leser, denke ich, sympathisch erscheint, der auch gut lebt, gerne isst usw. Und das ist etwas, was ich denke, was auch den deutschen Lesern besonders gefällt.

König: Und diese dauernde Leidenschaft der Deutschen für Venedig nicht zu vergessen. Man liest immer wieder, dass Sie in den USA wenig bekannt seien, dass auch Ihre Bücher dort praktisch gar nicht gelesen werden. Stimmt das eigentlich?

Leon: Was mir schon am Anfang gesagt wurde, war, dass Krimis oder Mordgeschichten, die nicht in den USA oder in England stattfinden, dort spielen, in den USA nicht erfolgreich sind. Die Leute interessieren sich dort nicht für ausländische Geschichte in dem Sinne. Und aus dem Grund denke ich auch, dass sie nie sonderlich erfolgreich sein werden in den USA, meine Bücher.

König: Kommen wir zu Ihrem neuen Buch "Lasset die Kinder zu mir kommen". Darin erzählen Sie von einem Kinderarzt Gustavo Pedrolli, der hat einen kleinen Adoptivsohn Alfredo, und eines Abends geschieht es. Bewaffnete Männer brechen in seine Wohnung ein, bringen das Baby in ihre Gewalt. Aber diese Männer sind nicht, wie man denken könnte, ganz gewöhnliche Entführer. Nein, das ist eine Sturmabteilung der Carabinieri. Man ruft dann den Commissario Brunetti mitten in der Nacht ins Krankenhaus, aber der Kinderarzt Pedrolli hat seine Sprache verloren aufgrund des brutalen Vorgehens der Carabinieri.

Und so muss Brunetti mühsam recherchieren. Eine Geschichte, in der es dann gehen wird um den heftigen Wunsch, Kinder zu bekommen. Es geht um Babyhandel, um großes Geld, um großes Leid. Das alles setzt Brunetti hart zu, denn wir wissen, er ist ein Familienmensch und als solcher ausgesprochen harmoniebedürftig. Sie leben seit Jahren in Venedig. Was hat dieses Thema Babyhandel, dass Sie es jetzt so gedrängt hat, dass Sie ein Buch darüber schreiben mussten?

Leon: Diese Geschichte von dem Herrn Pedrolli mit dem Baby, die ist wirklich einmal passiert. Ich habe darüber gelesen vor ungefähr acht bis neun Jahren. Es ging wirklich um eine Familie, die illegal ein Kind adoptiert hatte, und die Polizei hatte davon Wind bekommen und dann in der Folgezeit die E-Mail der Familie gelesen, ihr Telefon abgehört und 18 Monate diese Familie unter Beobachtung gehabt, um dann erst nach 18 Monaten zu kommen und sie zu verhaften und um so herausfinden zu können, wer die Leute sind, die dahinter stecken.

Und das Baby haben sie dann auch mitgenommen, von der Familie weggenommen. Und für mich bestand der eigentliche Skandal darin, dass die Polizei es zugelassen hat, dass der Staat an sich es zugelassen hat, dass ein Kind 18 Monate wissentlich illegal adoptiert in dieser Familie verbrachte, um es dann erst rauszuholen mit all den Konsequenzen und Folgen, die das haben kann.

König: Sie sagten, das hätte es vor acht Jahren wirklich gegeben, diesen Fall. Wie ging das weiter? Wie hat der Staat dann reagiert auf das, was da die Vertreter des Staates getan haben?
Leon: Sie haben nach dem Gesetz gehandelt. Da konnte nichts passieren. Und das ist auch etwas, was man in mehreren meiner Bücher findet, dass das Gesetz des Staates konträr dem der Menschlichkeit gegenübersteht und dass dann auch im Fall von Commissario Brunetti es zu einem Konflikt kommt oder kommen muss. Und in diesem speziellen Fall ist es so, dass der Staat den Verkauf von Babys in keinem Fall zulassen kann. Man kann nicht einfach Kinder kaufen. Und wenn man jetzt diesen Arzt Pedrolli gelassen hätte mit seiner Familie, dieses Baby ihm gelassen hätte, dann hätte man jedem anderen das auch erlauben müssen.

König: Die Deutschen, Sie haben vorhin gesagt, hätten schon immer eine starke Affinität zu Venedig gehabt als Schauplatz von Büchern. Überhaupt ist ja die Italien-Sehnsucht der Deutschen geradezu sprichwörtlich. Das hat sich in den letzten Jahren, wenn man den deutschen Feuilletons glauben darf, etwas geändert. "Die Liebe ist erkaltet", schrieb zum Beispiel Gustav Seibt in der "Süddeutschen Zeitung". Und in den Fernsehnachrichten dominieren Bilder von Abgeordneten, die sich prügeln im italienischen Parlament, in Rom oder Bilder von den Müllbergen in Neapel. Man liest von Korruption, von der Mafia, von den Drangheta, auch mit Morden noch bis nach Duisburg oder die Camorra in Napoli, in Neapel.

Daraus entsteht oft das Bild eines Landes, das, ich will noch nicht sagen, im Chaos versinkt, aber das doch in Teilen jedenfalls gar nicht mehr wirklich als regierbar erscheint und mit einer Bevölkerung, die diesem Chaos irgendwie lethargisch zusieht, und jeder versucht so, irgendwie sein Eckchen zu finden, in dem er dann glücklich wird.

Geben Sie uns Ihr Italien sozusagen dagegen oder auch vielleicht nicht dagegen. Was ist Ihr Bild von Italien heute?

Leon: Die Leute fragen mich oft, ob Brunetti ein typischer Italiener ist. Und meine Antwort darauf lautet dann immer. Den gibt es nicht. Es gibt keinen typischen Italiener. Sind Sie ein typischer Deutscher? Bin ich eine typische Amerikanerin? Das sind alles Klischees, an denen vielleicht ein Körnchen dran ist. Aber im Prinzip entsprechen die nicht der Realität. Das Klischee des Italieners, das wir haben oder dass es immer gibt, ist das des warmherzigen, freudigen, fröhlichen, netten Italieners. Und das trifft aber auch nicht zu. Italiener sind wie andere Europäer auch. Sie sind eigentlich ganz normal wie alle anderen auch.

Momentan haben sie eine, wie es scheint, unfähige Regierung, die es nicht schafft, die Probleme in den Griff zu bekommen. Ein Beispiel ist, dass es im letzten Jahr 100 Milliarden Euro gab, die die Mafia verdient hat, oder an Mafiaeinkünften und in den letzten zehn Jahren über tausend Tote, die auf das Konto von Mafiamorden gehen. Jetzt hat man zum dritten Mal Berlusconi gewählt, und das ist auch Italien.

Das typische Italien, das Postkarten-Italien, was wir gerne sehen wollen, hat mit dieser Realität nicht mehr viel zu tun. Meine italienischen Freunde, wenn ich sie heute frage, und ich habe viele italienische Freunde, alle Freunde, die ich in Venedig habe, sind Italiener, die habe ich noch nie so verzweifelt und hoffnungslos gesehen wie jetzt. Das ist aber nicht nur in meinem Freundeskreis so, auch in der Öffentlichkeit. Ich glaube, es war Pepe Grilo, der die Deutschen in einem Artikel aufgefordert hatte, doch endlich Italien zu invadieren, eine Invasion zu starten und die Regierung am besten gleich mitzunehmen.

König: Aber Sie leben nach wie vor gern in Italien?

Leon: Ich würde nirgendwo anders gerne leben wollen. Oder vielleicht: ich könnte nirgendwo anders wohnen.

König: Und Sie haben ja wirklich viele Orte der Welt kennengelernt, auch sehr gut kennengelernt. Warum ist dennoch Venedig der Ort, an dem Sie sagen, ja, hier bin ich zu Hause?

Leon: Wenn man selbst nicht Italiener ist, ist das Leben dort sehr gut und angenehm. Wenn irgendwas Schlechtes passiert, dann kann man ja immer noch einfach gehen, wie die Ratten das sinkende Schiff verlassen. Aber für mich gibt es diese Probleme nicht. Es gibt gutes Wetter, die Leute sind nett, freundlich, anständig, und wir leiden nicht unter der Unregierbarkeit.

König: Zu guter Letzt: Die demokratische Partei in den USA hat gerade nun endlich einen Präsidentschaftskandidaten, Barack Obama, der seinerseits gesagt hat, auch die ökologische Frage sei für ihn wichtig, und er wolle endlich auch in der Klimapolitik die USA dahin bringen, wo er meinte, dass sie schon längst hätten sein müssen, wofür aber die Regierung Bush nie Sinn gehabt hätte. Glauben Sie, dass da tatsächlich ein Wandel in der Klimapolitik eingeleitet werden könnte? Und wie finden Sie überhaupt den ganzen Wahlkampf mit der Entscheidung, die jetzt gefallen ist?

Leon: Ich denke, er hat eine gute Rhetorik. Es klingt gut, was er sagt, sonst nichts. Man wird sehen. Ich werde ihn wählen, aber auch weil ich nicht die Republikaner wählen werde, das geht nicht. Aber es ist ja auch nicht so, dass sie wirklich über viel reden. Sie reden eigentlich über kaum etwas. Sie sagen Wandel, ach ja, Veränderung, hm, aber Inhalte fehlen mir da doch sehr. In dem Land ist eine chaotische Infrastruktur, die Schulen sind am Verrotten. Es gibt Menschen, die mit Waffen rumrennen. Ja, natürlich braucht man da einen Wandel, sicherlich. Na ja, ich hoffe trotzdem, dass er gewinnt, auf jeden Fall.

Aber über Umweltthematiken habe ich jetzt nicht viele Worte gehört von den Kandidaten. Und war es nicht sogar Clinton, die Steuer auf das Benzin streichen wollte über den Sommer, damit alle Leute an den Strand fahren können. Ich denke, so geht das nicht. Man muss erst mal schaffen, die Benzinpreise auf einem europäischen Niveau zu stabilisieren. Dann kann man darüber reden, dass es wirklich ein ökologisches Engagement gibt.

König: Wie man als Amerikanerin auf Englisch italienische Krimis schreibt, die in Deutschland zu Bestsellern werden. Ein Gespräch mit der Schriftstellerin Donna Leon. Vielen Dank, dass Sie bei uns waren!