Ich ja! Über Verdrängung und Wahrhaftigkeit
Man kann Martin Walser, Dieter Hildebrandt und Siegfried Lenz glauben, so wie man den vielen Deutschen glauben kann, die nach dem Krieg über den Massenmord an den Juden sagten: Das haben wir nicht gewusst. Man kann ihnen aber, wie den vielen unwissenden Deutschen vorhalten: Das hättet ihr wissen können. Man muss halt wissen wollen. Alle drei hätten davon ausgehen müssen, dass sie Mitglied der NSDAP geworden waren. Hildebrandt etwa wird nachgesagt, er sei in seiner schlesischen Heimat als strammer Hitlerjunge bekannt gewesen. Trotzdem tun sie jetzt überrascht.
Aufregung will sich aber nicht einstellen. Niemand schwingt die Moralkeule. Warum eigentlich nicht? Es kann zwar sein, dass Walser, Hildebrandt und Lenz ohne eigenes Zutun in Hitlers Kaderpartei kamen. Schwer vorstellbar ist jedoch, dass sie deshalb in diese Partei hineinkamen, weil sie sich in der Hitlerjugend durch Unwilligkeit oder Unzuverlässigkeit ausgezeichnet hätten.
Man wird einem 16- oder auch 18-Jährigen, der seit den ersten Schulklassen politisch indoktriniert worden war, schwerlich seine damalige ideologische Verblendung übel nehmen. Gerade die Erfahrung der eigenen Verführbarkeit durch den Totalitarismus kann bewirken, dass man künftig besonders wachsam ist bei der Verteidigung der Demokratie.
Wer aber eine solche jahrelange Indoktrination durchgemacht hat; wer vergessen oder verdrängt hat, dass er mangels auffälligen Unwillens gegen die Nazi-Ideologie doch immerhin für die Parteimitgliedschaft in Frage gekommen sein musste; der wird sich nicht beschweren dürfen, wenn man seine Worte vor diesem Hintergrund anders liest. Hier ist Martin Walser in der Paulskirche beim Empfang des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 11. Oktober 1998:
Zitat: "Jeder kennt unsere geschichtliche Last, die unvergängliche Schande, kein Tag, an dem sie uns nicht vorgehalten wird." Zitat Ende. Nicht: Kein Tag, an dem ICH nicht darüber nachdenke. Nein: "Man" hält es "uns" vor.
Und noch ein Zitat aus dieser bekannten Rede: "Anstatt dankbar zu sein für die Dauerpräsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen. … Wenn ich merke, dass sich in mir etwas dagegen wehrt, versuche ich…" Ja, was? Versucht Walser herauszubekommen, warum er sich wehrt? Was sich in ihm wehrt? Was er möglicherweise verdrängt? Nein: ich zitiere: "… versuche ich, die Vorhaltung unserer Schande auf Motive hin abzuhorchen, und bin fast froh, wenn ich glaube, entdecken zu können, dass öfter nicht mehr das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken." Zitat Ende.
Aber warum ist der Autor "fast froh" darüber? Und warum redet er von "uns", wenn’s um die Schande geht, und nicht gerade dort von sich selbst? "Lasst andere von ihrer Schande reden", dichtete Bertolt Brecht, "Ich rede von der meinen." Natürlich kritisierte Walser damals zu Recht die "Meinungssoldaten", die "mit vorgehaltener Moralpistole den Schriftsteller in den Meinungsdienst nötigen". Nicht, dass Walser dazu genötigt werden musste. Meinungen hatte er immer genug auf Lager. Doch konterte er mit der Feststellung: "Zuständig ist er - der Schriftsteller also - nur für sich selbst." Wieso verschwindet der für sich selbst zuständige Schriftsteller, das ehemalige NSDAP-Mitglied Martin Walser, hinter jenem kollektiven "Wir", dem mit der "Moralkeule" Gewalt angetan wird? Ein "Wir" übrigens, das eine ganze Gruppe von Menschen absichtlich aus dem Kollektiv ausschließt.
In diesem Einsatz der ersten Person Plural für die erste Person Singular, einer keineswegs auf Martin Walser beschränkten Untugend, wird man einmal das wichtigste Versagen bei der Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit erblicken. Wir haben eine Autobiografie aus dieser Zeit mit dem Titel "Ich nicht." Wir haben keine mit dem Titel: "Ich ja."
Wo sind die Bücher ehemaliger Nazis, die so schonungslos mit sich selbst abrechnen wie die so genannten Renegaten, die ehemaligen Kommunisten Arthur Koestler, George Orwell, Lew Kopelew, Manes Sperber, Jorge Semprun, Whittaker Chambers und so viele andere? Und wo übrigens sind die entsprechenden Bücher deutscher Kommunisten aus der DDR? Seit Wolfgang Leonhards "Die Revolution entlässt ihre Kinder" warten wir auf neue Innenansichten der zweiten deutschen Diktatur, die nicht apologetisch sind.
"Ich ja." Es gehört einiger Mut dazu, nicht verdrängen zu wollen, wie verführbar man war. Wie verführbar man ist. Die ergrauten Helden der 68er-Bewegung rüsten sich für ihre großen Talk-Show-Auftritte zum vierzigjährigen Jubiläum. Und die Partei der gewendeten Kommunisten schickt sich an, zur drittstärksten politischen Kraft in Deutschland zu werden. Niemand scheint das zu stören. Wir lernen anscheinend nichts. Auch deshalb, weil zu wenige den Mut zur Wahrhaftigkeit sich selbst gegenüber besitzen.
Alan Posener, 1949 in London geboren, aufgewachsen in London, Kuala Lumpur und Berlin, studierte Germanistik und Anglistik an der FU Berlin und der Ruhr-Universität Bochum. Er arbeitete anschließend im Schuldienst, dann als freier Autor und Übersetzer. Von 1999 bis 2004 war er Mitarbeiter der "Welt", zunächst als Autor, dann als Redakteur. Seit März 2004 ist er Kommentarchef der "Welt am Sonntag". Posener publizierte neben Schullektüren u.a. Rowohlt-Monographien über John Lennon, John F. Kennedy, Elvis Presley, William Shakespeare und Franklin D. Roosevelt, die "Duographie" Roosevelt-Stalin und den "Paare"-Band über John F. und Jacqueline Kennedy.
Man wird einem 16- oder auch 18-Jährigen, der seit den ersten Schulklassen politisch indoktriniert worden war, schwerlich seine damalige ideologische Verblendung übel nehmen. Gerade die Erfahrung der eigenen Verführbarkeit durch den Totalitarismus kann bewirken, dass man künftig besonders wachsam ist bei der Verteidigung der Demokratie.
Wer aber eine solche jahrelange Indoktrination durchgemacht hat; wer vergessen oder verdrängt hat, dass er mangels auffälligen Unwillens gegen die Nazi-Ideologie doch immerhin für die Parteimitgliedschaft in Frage gekommen sein musste; der wird sich nicht beschweren dürfen, wenn man seine Worte vor diesem Hintergrund anders liest. Hier ist Martin Walser in der Paulskirche beim Empfang des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 11. Oktober 1998:
Zitat: "Jeder kennt unsere geschichtliche Last, die unvergängliche Schande, kein Tag, an dem sie uns nicht vorgehalten wird." Zitat Ende. Nicht: Kein Tag, an dem ICH nicht darüber nachdenke. Nein: "Man" hält es "uns" vor.
Und noch ein Zitat aus dieser bekannten Rede: "Anstatt dankbar zu sein für die Dauerpräsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen. … Wenn ich merke, dass sich in mir etwas dagegen wehrt, versuche ich…" Ja, was? Versucht Walser herauszubekommen, warum er sich wehrt? Was sich in ihm wehrt? Was er möglicherweise verdrängt? Nein: ich zitiere: "… versuche ich, die Vorhaltung unserer Schande auf Motive hin abzuhorchen, und bin fast froh, wenn ich glaube, entdecken zu können, dass öfter nicht mehr das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken." Zitat Ende.
Aber warum ist der Autor "fast froh" darüber? Und warum redet er von "uns", wenn’s um die Schande geht, und nicht gerade dort von sich selbst? "Lasst andere von ihrer Schande reden", dichtete Bertolt Brecht, "Ich rede von der meinen." Natürlich kritisierte Walser damals zu Recht die "Meinungssoldaten", die "mit vorgehaltener Moralpistole den Schriftsteller in den Meinungsdienst nötigen". Nicht, dass Walser dazu genötigt werden musste. Meinungen hatte er immer genug auf Lager. Doch konterte er mit der Feststellung: "Zuständig ist er - der Schriftsteller also - nur für sich selbst." Wieso verschwindet der für sich selbst zuständige Schriftsteller, das ehemalige NSDAP-Mitglied Martin Walser, hinter jenem kollektiven "Wir", dem mit der "Moralkeule" Gewalt angetan wird? Ein "Wir" übrigens, das eine ganze Gruppe von Menschen absichtlich aus dem Kollektiv ausschließt.
In diesem Einsatz der ersten Person Plural für die erste Person Singular, einer keineswegs auf Martin Walser beschränkten Untugend, wird man einmal das wichtigste Versagen bei der Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit erblicken. Wir haben eine Autobiografie aus dieser Zeit mit dem Titel "Ich nicht." Wir haben keine mit dem Titel: "Ich ja."
Wo sind die Bücher ehemaliger Nazis, die so schonungslos mit sich selbst abrechnen wie die so genannten Renegaten, die ehemaligen Kommunisten Arthur Koestler, George Orwell, Lew Kopelew, Manes Sperber, Jorge Semprun, Whittaker Chambers und so viele andere? Und wo übrigens sind die entsprechenden Bücher deutscher Kommunisten aus der DDR? Seit Wolfgang Leonhards "Die Revolution entlässt ihre Kinder" warten wir auf neue Innenansichten der zweiten deutschen Diktatur, die nicht apologetisch sind.
"Ich ja." Es gehört einiger Mut dazu, nicht verdrängen zu wollen, wie verführbar man war. Wie verführbar man ist. Die ergrauten Helden der 68er-Bewegung rüsten sich für ihre großen Talk-Show-Auftritte zum vierzigjährigen Jubiläum. Und die Partei der gewendeten Kommunisten schickt sich an, zur drittstärksten politischen Kraft in Deutschland zu werden. Niemand scheint das zu stören. Wir lernen anscheinend nichts. Auch deshalb, weil zu wenige den Mut zur Wahrhaftigkeit sich selbst gegenüber besitzen.
Alan Posener, 1949 in London geboren, aufgewachsen in London, Kuala Lumpur und Berlin, studierte Germanistik und Anglistik an der FU Berlin und der Ruhr-Universität Bochum. Er arbeitete anschließend im Schuldienst, dann als freier Autor und Übersetzer. Von 1999 bis 2004 war er Mitarbeiter der "Welt", zunächst als Autor, dann als Redakteur. Seit März 2004 ist er Kommentarchef der "Welt am Sonntag". Posener publizierte neben Schullektüren u.a. Rowohlt-Monographien über John Lennon, John F. Kennedy, Elvis Presley, William Shakespeare und Franklin D. Roosevelt, die "Duographie" Roosevelt-Stalin und den "Paare"-Band über John F. und Jacqueline Kennedy.

Alan Posener© privat