"Ich hoffe sehr auf die Europäische Union"

Jaroslav Rudis im Gespräch mit Christopher Ricke · 17.11.2009
Vor 20 Jahren fand in Tschechien die "samtene Revolution" statt. Heute spürt der tschechische Autor Jaroslav Rudis jedoch eine antieuropäische Stimmung in seinem Land. Er hofft, dass sie bald nachlässt und "Tschechien wirklich ein Teil von Europa" wird.
Christopher Ricke: Heute wird in Tschechien und in der Slowakei zurückgeschaut auf diese 20 Jahre, und nachdem der Vertrag von Lissabon endlich auch in Tschechien unterschrieben ist, kann man auch wieder besser nach vorne sehen. Ich spreche mit dem tschechischen Schriftsteller, Dramatiker und Drehbuchautor Jaroslav Rudis. Er selbst hat die samtene Revolution als 17-Jähriger miterlebt. Guten Morgen, Herr Rudis!

Jaroslav Rudis: Guten Morgen!

Ricke: 20 Jahre samtene Revolution, kann man sie mit Fug und Recht als Gewinner dieser Zeit bezeichnen?

Rudis: Das gilt sicher für unsere Generation, die Generation, die in Tschechien als Husaks Kinder benannt wird. Es klingt eigentlich nicht so schön, nur weil Gustav Husak war und ist ein Symbol für die Niederlage des Prager Frühlings und für die Zeit danach, für die Zeit der Normalisierung, aber eben auch für die Zeit der 70er, wo die Tschechoslowakei wirklich einen Babyboom erlebt hat. Und wir wurden dann damals aus verschiedenen Gründen tonnenweise produziert, wir Kinder, und wir sind die Gewinner der Wende. Ich meine, für unsere Eltern waren diese 20 Jahre zwischen 68 und 89 wirklich die Zeit, wo die Zeit stehengeblieben ist, aber für uns hat sich mit 17, 18 oder 16 wirklich die ganze Welt geöffnet. Ich habe selber kurz danach in Zürich studiert und dann später auch in Berlin und Westberlin, und das war natürlich absolut unvorstellbar.

Ricke: Sie konnten die Chancen nutzen, die sich 1989 aufgetan haben, es gibt aber auch die Verlierer, das wissen wir aus allen ehemaligen Ostblockstaaten, nicht zuletzt aus dem Osten Deutschlands. Ist denn diesen Verlierern Gerechtigkeit widerfahren?

Rudis: Wenn ich in Tschechien oder auch in der Slowakei diese Stimmen höre, also dass es den Leuten nicht so gut geht und so und dass es vielleicht auch besser war, also in der Zeit vor der Wende, dann ich meine, das ist wirklich die Frage des Vergessens und das Schönstreichen der Geschichte. Wir hatten diese komischen langen Bananenschlangen und man musste, wenn man halt einen Fernseher, einen Farbfernseher haben möchte, dann muss man halt bestechen. Man durfte aber natürlich auch nicht reisen. Man konnte einfach auch die tschechischen Autoren nicht lesen, die die tschechische Literatur oder tschechoslowakische Literatur in den 60ern so weltberühmt gemacht haben, wie Milan Kundera, Bohumil Hrabal oder Josef Škvorecký. Diese galten damals als verboten und wir haben die im Gymnasium so wirklich so unter dem Tisch gelesen.

Das zu vergessen, das darf man eigentlich nicht. Und für uns war natürlich die Wende 89 nur eine Rückreise zurück ins Europa zurück, dorthin, wo Tschechien oder Tschechoslowakei immer gehört hat. Und das hat sich natürlich dann erfüllt mit dem EU-Beitritt von Tschechien und der Slowakei und hoffentlich auch jetzt mit dem Unterschreiben des Lissabon-Vertrages, das vor ein paar Tagen eigentlich in Prag letztendlich von dem Staatspräsidenten Vaclav Klaus signiert wurde.

Ricke: In Deutschland ist die samtene Revolution stets mit Václav Havel verbunden, dem unerschrockenen Kämpfer, dem Visionär, dem Dichterpräsidenten. Prägt sein Werk heute noch den intellektuellen Diskurs oder prägt er vielleicht sogar das Land?

Rudis: Auf jeden Fall. Also es ist nicht lange her, als sein letztes Theaterstück "Odchazeni", "Der Abgang" auf Deutsch, im Prager Divadlo-Archa-Theater auch aufgeführt wurde. Und es wurde sehr viel diskutiert über dieses Stück, weil das ist auch so wirklich ein Stück über Abgang von der Politik. Vielleicht ist das wirklich so ein sehr persönliches Stück von Václav Havel. Václav Havel im Übrigen hat jetzt am Samstag wirklich ein Rockkonzert in Prag veranstaltet, wo zum Beispiel auch Lou Reed aufgetaucht ist, und hat ihm drei Rocksongs geschrieben. Ich meine, das war kein Zufall, dass ausgerechnet Lou Reed da war, weil der englische Name unserer samtenen Revolution, the velvet revolution, ist eine Anspielung an die Velvet Underground, eine Band, in welcher Lou Reed gesungen hat.

Und Václav Havel hat danach auch im Fernsehen noch eine Rede gehalten, wo er sich geäußert hat, wie er sich so die Gesellschaft von Tschechien in so 20 Jahren vorstellt. Er wünschte sich, dass Tschechien nicht irgendwie zubetoniert wird, wie das jetzt ab und zu passiert, dass da irgendwie auch in 20 Jahren ein paar Bäume und Wälder zu sehen sind. Er hofft auch eine bessere Politiker, die mehr doch in Kontakt mit dem Volk, mit der Bevölkerung sind und nicht irgendwelche komischen Schattenspiele spielen.

Ricke: Das sind die Visionen des ehemaligen Präsidenten, des Dichters, des Intellektuellen. Teilen Sie diese Vision, ist das belastbar, sehen Sie Tschechien in 20 Jahren ähnlich?

Rudis: Ich würde mir das sehr erhoffen. Natürlich, es ist eine Vision, es ist eine große Hoffnung. Ich hoffe sehr auf die Europäische Union und ich hoffe, dass diese doch ab und zu lauten antieuropäischen Stimmen, die aus Tschechien zu hören sind, dass sie doch ein bisschen untergehen und dass Tschechien irgendwann Teil von Europa wird. Ich würde mir wünschen wirklich so europäische Politiker für mein Land, weil viele von denen vertreten so lokale tschechische Interessen ab und zu und vergessen, dass Tschechien wirklich ein Teil von Europa ist. Und ich würde mir auch natürlich wünschen, dass die Werke von Václav Havel auch in 20 Jahren noch gespielt werden.

Ricke: Der tschechische Schriftsteller Jaroslav Rudis. Vielen Dank, Herr Rudis!

Rudis: Auf Wiedersehen, tschüss!