"Ich hatte das Gefühl, der meint das ehrlich"
Ex-Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher hat die Leistungen des früheren sowjetischen Generalsekretärs Michail Gorbatschow an dessen 80. Geburtstag gewürdigt. "Was man ihm gutschreiben muss, ist, dass er den Weg zur Demokratie geöffnet hat", sagte Genscher.
Matthias Hanselmann: Elfie Siegl war das über Michail Gorbatschow und wie er in Russland rezipiert gesehen wird. Ich habe heute Vormittag mit Hans-Dietrich Genscher gesprochen, der von 1974 bis 1992 Außenminister der Bundesrepublik Deutschland gewesen ist und Freund von Michail Gorbatschow immer noch ist, und ich habe Herrn Genscher gefragt zunächst, wann und unter welchen Umständen er Gorbatschow zum ersten Mal begegnet ist.
Hans-Dietrich Genscher: Das war im Sommer 1986, ich war in Moskau und habe ein langes Gespräch mit ihm gehabt, an das ich in jeder Einzelheit noch Erinnerungen habe. Ich habe mich auf das Gespräch vorbereitet wie selten auf eine Begegnung mit einem Repräsentanten eines anderen Landes. Ich war in Paris, habe dort mit Präsident Mitterrand gesprochen, der der letzte war, der ihm begegnet war, weil ich nach allem, was er vorher gesagt hatte schon, der Meinung war, dass es hier eine Persönlichkeit zu erkennen gibt, die etwas ganz anderes darstellen wird als das in der Vergangenheit in Moskau üblich war.
Hanselmann: In Ihrem Buch "Die Chance der Deutschen", einem Gespräch mit dem Historiker Guido Knopp, da beschreiben Sie diese völlig neue Gesprächskultur bei Michail Gorbatschow, die Sie eben angesprochen haben. Worin bestand die denn genauer?
Genscher: Na, man war nicht verwöhnt durch die Gespräche in der Vergangenheit. Ich spreche jetzt nicht von meinen Unterhaltungen mit meinem Kollegen Gromyko, der die Materie beherrschte und mit dem man harte, aber offene und auch sehr aufrichtige Gespräche führen konnte. Aber die Erinnerungen an die Gespräche mit dem Generalsekretär Breschniew oder auch dem unmittelbaren Vorgänger von Gorbatschow waren einfach so, dass dort Texte verlesen wurden, die vorher irgendwo im Politbüro entworfen wurden und abgestimmt worden waren. Da gab es kein Gespräch, sondern da gab es einen Austausch von festliegenden Meinungen.
Hanselmann: Mit anderen Worten: Mit Gorbatschow konnte man zum ersten Mal wirklich reden?
Genscher: Ja, reden, und zwar: Mitterrand sagte mir, also, mit dem können Sie reden wie mit mir, das heißt, er wird Sie unterbrechen, Sie können ihn unterbrechen, er geht auf Ihre Argumente ein und trägt Ihnen nicht gefestigte, lange festgelegte und scheinbar unveränderbare Meinungen vor.
Hanselmann: Wie war das, als Sie ihm gegenübersaßen? Wurde das bestätigt, was Mitterrand Ihnen sagte und wie?
Genscher: In jeder Hinsicht. Er hatte keine Akte vor sich liegen, links neben ihm lag ein Packen weißen Papieres, das nahm er, Blätter, und notierte sich etwas, was ich gesagt hatte. Und dann kam etwas, was wirklich ganz erstaunlich war für den Generalsekretär der kommunistischen Partei der Sowjetunion, er sagt zu mir: Wissen Sie, ich bin jetzt hier Generalsekretär, ich habe ein Problem, und das besteht darin: Wir sind den Amerikanern in der Raumfahrt mindestens ebenbürtig, wir sind ihnen ebenbürtig auch in der modernen Rüstung, aber wir sind nicht in der Lage, unsere Bürger und Bürgerinnen mit Wohnungen zu versorgen, mit Fernsehgeräten, mit Kühlschränken, mit Autos, also alles das, was sie sich wünschen.
Was ist falsch in unserem System? Das war das Aufwerfen einer Frage, die früher als Häresie galt, nämlich das war die Systemfrage, die hier gestellt wurde. Und das fand ich so erstaunlich, denn dieser Mann war ja aufgewachsen in der Sowjetunion, er war groß geworden in der Jugendorganisation, bei den Komsomols, wo er wichtige Funktionen innegehabt hatte, er war Parteisekretär in seiner Heimat gewesen, er war Sekretär des Zentralkomitees der (…) Mitglied des Politbüros, also er hatte alle Stufen bis ganz nach oben durchschritten, und nun stellte sich heraus: Da ist einer, der nicht von der Doktrin beherrscht wird, sondern der die Doktrin in Frage stellt und nach neuem Denken sucht, ein Wort, das ja von ihm selbst immer wieder verwendet worden ist.
Hanselmann: Und dann fragt er auch noch einen Außenminister aus dem kapitalistischen Ausland, was er besser machen könne?
Genscher: Ja, jedenfalls, was sollen wir tun? Er sagt zu mir, wissen Sie, die Amerikaner sind natürlich immer erstaunt, wenn sie hören, dass bei uns die Gesundheitsversorgung kostenlos ist, die Bildung kostenlos, sagt er, na ja, aber man muss natürlich auch vielleicht mal fragen: Wenn alles kostenlos erst mal sein wird im Kommunismus, warum sollen sich die Leute noch anstrengen? Und da habe ich gesagt, Herr Generalsekretär, auf diese Bemerkung war ich nicht vorbereitet, denn sonst hätte ich ein Eintrittsformular für meine Partei mitgebracht, denn wir sagen immer, dass Leistung sich lohnen muss.
Hanselmann: Haben Sie Michail Gorbatschow eigentlich sofort als sympathisch, verlässlich und vertrauenswürdig empfunden?
Genscher: Ich habe ihn empfunden als jemanden, der sehr hart sein konnte, das hat sich auch in dem Gespräch gezeigt, aber dem ich vertraut habe. Ja, das ist so, ich hatte das Gefühl, der meint das ehrlich, diese Fragestellungen sind für ihn nicht ein Spiel einer Gesprächsführung, der sucht nach neuen Wegen. Und nach dem Gespräch habe ich zu meinem Mitarbeiter Gerold von Braunmühl, der ja wenige Wochen später ermordet worden ist in Bonn, ...
Hanselmann: ... von Terroristen, ja.
Genscher: ... von Terroristen, habe ich gesagt: Wenn dieser Mann das alles ausführt, was er uns gesagt hat heute, dann haben wir zum ersten Mal eine realistische Chance, in voraussehbarer Zeit auch unsere nationale Frage der Einheit zu lösen.
Hanselmann: Dann haben Sie 1987 beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos gesagt, dass der Westen Gorbatschow ernst nehmen solle, eine historische Chance nicht versäumen solle, und das hat Ihnen dann den Vorwurf des Genscherismus eingebracht, das stand wohl so für Blauäugigkeit und Leichtgläubigkeit. Können Sie heute über eine solche Vokabel lachen?
Genscher: Ja, ich meine, die Vokabel hat sich gewandelt, weil plötzlich dann alle Genscheristen waren. Nein, ich war wirklich damals erstaunt darüber, mit welcher inneren Verschlossenheit der angeblich so offene Westen jemandem gegenübertrat, der mit völlig neuen Gedanken auftrat, anstatt darauf einzugehen. Ich habe ja nicht nur gesagt, Gorbatschow ernst nehmen, man muss auch beim Wort nehmen, habe ich gesagt. Wir dürfen eine historische Chance nicht versäumen. Hier war sehr wenig Analysefähigkeit da und sehr viel westlicher Hochmut auch über den nun ersten Mann dort in unserem Land, und ich fand wirklich, man muss ihn ernst nehmen, und ich bin nicht enttäuscht worden.
Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen am heutigen 80. Geburtstag von Michail Gorbatschow mit dem ehemaligen Außenminister der Bundesrepublik Deutschland Hans-Dietrich Genscher. Herr Genscher, an diesem Geburtstag möchte ich ganz besonders gerne noch mal über die Freundschaft zwischen Gorbatschow und Ihnen sprechen. Woraus besteht sie, was macht sie aus?
Genscher: Zunächst einmal war es gegenseitiger Respekt, dann gegenseitiges Vertrauen, und dann ist es so gewesen, dass eben daraus Sympathie und Freundschaft entstanden sind. Ich hätte mir nie vorstellen können in der Vergangenheit, dass ich einmal von einem ehemaligen Generalsekretär der kommunistischen Partei der Sowjetunion sagen würde, sei mein Freund, aber es ist die Realität.
Und man muss dann auch mit jemandem mitfühlen und mitdenken. Als ich am Abend 1991 die Nachricht bekam, er werde wohl zurücktreten, da habe ich anrufen lassen, ich möchte ihn sprechen, und da hieß es, er werde mich anrufen. Am nächsten Tag, 17 Uhr, es war so am ersten Feiertag 1991, und da hat er gesagt, ich habe eben meine Rede gehalten an die Völker der Sowjetunion und meinen Rücktritt bekannt gegeben, und wenn dieses Gespräch beendet ist, dann werde ich den Kreml verlassen. Verstehen Sie, wenn man in einer solchen Situation sich einem Mann zuwendet, dann vergisst er das nicht, aber man hat auch selbst das Bedürfnis, gerade an einem solchen Tag Danke zu sagen.
Hanselmann: Herr Genscher, eigentlich wollte Gorbatschow mit Glasnost und Perestroika ja die Sowjetunion umbauen. Letztlich fiel sie dann aber schon 1991 auseinander. Würden Sie sagen, Gorbatschow ist die Sache zumindest teilweise aus dem Ruder gelaufen? Hat er aus Ihrer heutigen Sicht Fehler gemacht?
Genscher: Ich meine, eine sozialistische Gesellschaft in so kurzer Zeit umzugestalten, das ist eine schier unlösbare Aufgabe. Er hat das Tor geöffnet, und dann sind natürlich auch egozentrische Tendenzen bei anderen gewesen. Jelzin wollte ihn nicht mehr als Präsidenten der Sowjetunion, deshalb hat er mit den anderen Präsidenten von Teilstaaten der Sowjetunion, Republiken, wie man das damals sagte, beschlossen, die Sowjetunion aufzulösen und dann neu zu begründen, die GUS-Staatengemeinschaft unabhängiger Staaten. Da ist nicht viel daraus geworden, das heißt, ich glaube nicht, dass man Gorbatschow das Auseinanderfallen der Sowjetunion anlasten kann. Aber was man ihm gutschreiben muss, ist, dass er den Weg zur Demokratie geöffnet hat.
Hanselmann: Wenn Sie heute sehen, dass Gorbatschow im Westen verehrt wird und in seiner Heimat Russland von manchen sogar als Verräter betrachtet wird, wir haben das eben gehört, von vielen zumindest in Russland keineswegs als Lichtgestalt gesehen wird – schmerzt Sie das?
Genscher: Es schmerzt mich für ihn, aber ich bin der Meinung, dass die Geschichte gerechter mit ihm umgehen wird als manche, die heute in einer solchen Weise über ihn reden.
Hanselmann: Wann sind Sie sich zum letzten Mal begegnet?
Genscher: In der vergangenen Woche in Berlin. Als dort im Springer-Haus ein Essen für ihn gegeben wurde, war ich mit dabei, und wir werden auch an der großen Geburtstagsfeier, die am Ende diesen Monats in London stattfindet, teilnehmen. Das gehört auch dazu. Man muss sich auch gemeinsam freuen können.
Hanselmann: Es sei Ihnen beiden gegönnt. Hans-Dietrich Genscher, früherer langjähriger Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, über seinen Freund Michail Gorbatschow, der heute seinen 80. Geburtstag feiert.
Links bei dradio.de:
Gorbi hier - Verräter dort -
"Podium" zum 80. Geburtstag von Michail Gorbatschow
Hans-Dietrich Genscher: Das war im Sommer 1986, ich war in Moskau und habe ein langes Gespräch mit ihm gehabt, an das ich in jeder Einzelheit noch Erinnerungen habe. Ich habe mich auf das Gespräch vorbereitet wie selten auf eine Begegnung mit einem Repräsentanten eines anderen Landes. Ich war in Paris, habe dort mit Präsident Mitterrand gesprochen, der der letzte war, der ihm begegnet war, weil ich nach allem, was er vorher gesagt hatte schon, der Meinung war, dass es hier eine Persönlichkeit zu erkennen gibt, die etwas ganz anderes darstellen wird als das in der Vergangenheit in Moskau üblich war.
Hanselmann: In Ihrem Buch "Die Chance der Deutschen", einem Gespräch mit dem Historiker Guido Knopp, da beschreiben Sie diese völlig neue Gesprächskultur bei Michail Gorbatschow, die Sie eben angesprochen haben. Worin bestand die denn genauer?
Genscher: Na, man war nicht verwöhnt durch die Gespräche in der Vergangenheit. Ich spreche jetzt nicht von meinen Unterhaltungen mit meinem Kollegen Gromyko, der die Materie beherrschte und mit dem man harte, aber offene und auch sehr aufrichtige Gespräche führen konnte. Aber die Erinnerungen an die Gespräche mit dem Generalsekretär Breschniew oder auch dem unmittelbaren Vorgänger von Gorbatschow waren einfach so, dass dort Texte verlesen wurden, die vorher irgendwo im Politbüro entworfen wurden und abgestimmt worden waren. Da gab es kein Gespräch, sondern da gab es einen Austausch von festliegenden Meinungen.
Hanselmann: Mit anderen Worten: Mit Gorbatschow konnte man zum ersten Mal wirklich reden?
Genscher: Ja, reden, und zwar: Mitterrand sagte mir, also, mit dem können Sie reden wie mit mir, das heißt, er wird Sie unterbrechen, Sie können ihn unterbrechen, er geht auf Ihre Argumente ein und trägt Ihnen nicht gefestigte, lange festgelegte und scheinbar unveränderbare Meinungen vor.
Hanselmann: Wie war das, als Sie ihm gegenübersaßen? Wurde das bestätigt, was Mitterrand Ihnen sagte und wie?
Genscher: In jeder Hinsicht. Er hatte keine Akte vor sich liegen, links neben ihm lag ein Packen weißen Papieres, das nahm er, Blätter, und notierte sich etwas, was ich gesagt hatte. Und dann kam etwas, was wirklich ganz erstaunlich war für den Generalsekretär der kommunistischen Partei der Sowjetunion, er sagt zu mir: Wissen Sie, ich bin jetzt hier Generalsekretär, ich habe ein Problem, und das besteht darin: Wir sind den Amerikanern in der Raumfahrt mindestens ebenbürtig, wir sind ihnen ebenbürtig auch in der modernen Rüstung, aber wir sind nicht in der Lage, unsere Bürger und Bürgerinnen mit Wohnungen zu versorgen, mit Fernsehgeräten, mit Kühlschränken, mit Autos, also alles das, was sie sich wünschen.
Was ist falsch in unserem System? Das war das Aufwerfen einer Frage, die früher als Häresie galt, nämlich das war die Systemfrage, die hier gestellt wurde. Und das fand ich so erstaunlich, denn dieser Mann war ja aufgewachsen in der Sowjetunion, er war groß geworden in der Jugendorganisation, bei den Komsomols, wo er wichtige Funktionen innegehabt hatte, er war Parteisekretär in seiner Heimat gewesen, er war Sekretär des Zentralkomitees der (…) Mitglied des Politbüros, also er hatte alle Stufen bis ganz nach oben durchschritten, und nun stellte sich heraus: Da ist einer, der nicht von der Doktrin beherrscht wird, sondern der die Doktrin in Frage stellt und nach neuem Denken sucht, ein Wort, das ja von ihm selbst immer wieder verwendet worden ist.
Hanselmann: Und dann fragt er auch noch einen Außenminister aus dem kapitalistischen Ausland, was er besser machen könne?
Genscher: Ja, jedenfalls, was sollen wir tun? Er sagt zu mir, wissen Sie, die Amerikaner sind natürlich immer erstaunt, wenn sie hören, dass bei uns die Gesundheitsversorgung kostenlos ist, die Bildung kostenlos, sagt er, na ja, aber man muss natürlich auch vielleicht mal fragen: Wenn alles kostenlos erst mal sein wird im Kommunismus, warum sollen sich die Leute noch anstrengen? Und da habe ich gesagt, Herr Generalsekretär, auf diese Bemerkung war ich nicht vorbereitet, denn sonst hätte ich ein Eintrittsformular für meine Partei mitgebracht, denn wir sagen immer, dass Leistung sich lohnen muss.
Hanselmann: Haben Sie Michail Gorbatschow eigentlich sofort als sympathisch, verlässlich und vertrauenswürdig empfunden?
Genscher: Ich habe ihn empfunden als jemanden, der sehr hart sein konnte, das hat sich auch in dem Gespräch gezeigt, aber dem ich vertraut habe. Ja, das ist so, ich hatte das Gefühl, der meint das ehrlich, diese Fragestellungen sind für ihn nicht ein Spiel einer Gesprächsführung, der sucht nach neuen Wegen. Und nach dem Gespräch habe ich zu meinem Mitarbeiter Gerold von Braunmühl, der ja wenige Wochen später ermordet worden ist in Bonn, ...
Hanselmann: ... von Terroristen, ja.
Genscher: ... von Terroristen, habe ich gesagt: Wenn dieser Mann das alles ausführt, was er uns gesagt hat heute, dann haben wir zum ersten Mal eine realistische Chance, in voraussehbarer Zeit auch unsere nationale Frage der Einheit zu lösen.
Hanselmann: Dann haben Sie 1987 beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos gesagt, dass der Westen Gorbatschow ernst nehmen solle, eine historische Chance nicht versäumen solle, und das hat Ihnen dann den Vorwurf des Genscherismus eingebracht, das stand wohl so für Blauäugigkeit und Leichtgläubigkeit. Können Sie heute über eine solche Vokabel lachen?
Genscher: Ja, ich meine, die Vokabel hat sich gewandelt, weil plötzlich dann alle Genscheristen waren. Nein, ich war wirklich damals erstaunt darüber, mit welcher inneren Verschlossenheit der angeblich so offene Westen jemandem gegenübertrat, der mit völlig neuen Gedanken auftrat, anstatt darauf einzugehen. Ich habe ja nicht nur gesagt, Gorbatschow ernst nehmen, man muss auch beim Wort nehmen, habe ich gesagt. Wir dürfen eine historische Chance nicht versäumen. Hier war sehr wenig Analysefähigkeit da und sehr viel westlicher Hochmut auch über den nun ersten Mann dort in unserem Land, und ich fand wirklich, man muss ihn ernst nehmen, und ich bin nicht enttäuscht worden.
Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen am heutigen 80. Geburtstag von Michail Gorbatschow mit dem ehemaligen Außenminister der Bundesrepublik Deutschland Hans-Dietrich Genscher. Herr Genscher, an diesem Geburtstag möchte ich ganz besonders gerne noch mal über die Freundschaft zwischen Gorbatschow und Ihnen sprechen. Woraus besteht sie, was macht sie aus?
Genscher: Zunächst einmal war es gegenseitiger Respekt, dann gegenseitiges Vertrauen, und dann ist es so gewesen, dass eben daraus Sympathie und Freundschaft entstanden sind. Ich hätte mir nie vorstellen können in der Vergangenheit, dass ich einmal von einem ehemaligen Generalsekretär der kommunistischen Partei der Sowjetunion sagen würde, sei mein Freund, aber es ist die Realität.
Und man muss dann auch mit jemandem mitfühlen und mitdenken. Als ich am Abend 1991 die Nachricht bekam, er werde wohl zurücktreten, da habe ich anrufen lassen, ich möchte ihn sprechen, und da hieß es, er werde mich anrufen. Am nächsten Tag, 17 Uhr, es war so am ersten Feiertag 1991, und da hat er gesagt, ich habe eben meine Rede gehalten an die Völker der Sowjetunion und meinen Rücktritt bekannt gegeben, und wenn dieses Gespräch beendet ist, dann werde ich den Kreml verlassen. Verstehen Sie, wenn man in einer solchen Situation sich einem Mann zuwendet, dann vergisst er das nicht, aber man hat auch selbst das Bedürfnis, gerade an einem solchen Tag Danke zu sagen.
Hanselmann: Herr Genscher, eigentlich wollte Gorbatschow mit Glasnost und Perestroika ja die Sowjetunion umbauen. Letztlich fiel sie dann aber schon 1991 auseinander. Würden Sie sagen, Gorbatschow ist die Sache zumindest teilweise aus dem Ruder gelaufen? Hat er aus Ihrer heutigen Sicht Fehler gemacht?
Genscher: Ich meine, eine sozialistische Gesellschaft in so kurzer Zeit umzugestalten, das ist eine schier unlösbare Aufgabe. Er hat das Tor geöffnet, und dann sind natürlich auch egozentrische Tendenzen bei anderen gewesen. Jelzin wollte ihn nicht mehr als Präsidenten der Sowjetunion, deshalb hat er mit den anderen Präsidenten von Teilstaaten der Sowjetunion, Republiken, wie man das damals sagte, beschlossen, die Sowjetunion aufzulösen und dann neu zu begründen, die GUS-Staatengemeinschaft unabhängiger Staaten. Da ist nicht viel daraus geworden, das heißt, ich glaube nicht, dass man Gorbatschow das Auseinanderfallen der Sowjetunion anlasten kann. Aber was man ihm gutschreiben muss, ist, dass er den Weg zur Demokratie geöffnet hat.
Hanselmann: Wenn Sie heute sehen, dass Gorbatschow im Westen verehrt wird und in seiner Heimat Russland von manchen sogar als Verräter betrachtet wird, wir haben das eben gehört, von vielen zumindest in Russland keineswegs als Lichtgestalt gesehen wird – schmerzt Sie das?
Genscher: Es schmerzt mich für ihn, aber ich bin der Meinung, dass die Geschichte gerechter mit ihm umgehen wird als manche, die heute in einer solchen Weise über ihn reden.
Hanselmann: Wann sind Sie sich zum letzten Mal begegnet?
Genscher: In der vergangenen Woche in Berlin. Als dort im Springer-Haus ein Essen für ihn gegeben wurde, war ich mit dabei, und wir werden auch an der großen Geburtstagsfeier, die am Ende diesen Monats in London stattfindet, teilnehmen. Das gehört auch dazu. Man muss sich auch gemeinsam freuen können.
Hanselmann: Es sei Ihnen beiden gegönnt. Hans-Dietrich Genscher, früherer langjähriger Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, über seinen Freund Michail Gorbatschow, der heute seinen 80. Geburtstag feiert.
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"Podium" zum 80. Geburtstag von Michail Gorbatschow