"Ich habe nie im Leben Bücher verschlungen"

Moderation: Dieter Kassel |
Der Schriftsteller und Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki begeht am 2. Juni seinen 85. Geburtstag. Als Kritiker im "Literarischen Quartett" und Leiter des "FAZ"-Literaturteils wurde er von Autoren und Verlagen verehrt und gefürchtet. Beim Lesen, meint er, langweile er sich entweder oder genieße jede Zeile.
Kassel: Gibt es eigentlich eine Frage, die Sie gerne mal beantworten würden, die Ihnen öffentlich aber noch nie gestellt wurde?

Reich-Ranicki: Nein, darüber möchte ich mir keine Gedanken machen. Bestimmt gibt es solche Fragen. Es werden ja immer die selben Fragen seit vielen Jahren gestellt. Ein Interview ist etwas sehr langweiliges.

Kassel: Vielleicht können wir das ändern.

Reich-Ranicki: Also bitte.

Kassel: Herr Reich-Ranicki, gibt es ein Buch oder mehrere Bücher, die sie als junger Mann oder vielleicht auch als Dreißigjähriger noch verschlungen haben und wo sie heute sagen müssen: Ich finde jetzt, es ist ein schlechtes Buch?

Reich-Ranicki: Nein, solche Fälle kenne ich nicht. Vor allem aber habe ich nie im Leben Bücher verschlungen. Das hat es nie gegeben. Ich lese Bücher sehr langsam. Wenn sie schlecht sind, langweilen sie mich, und ich lese sie langsam. Wenn sie gut sind, wenn sie mir wirklich gefallen, genieße ich jede Zeile, und wieder lese ich langsam.

Kassel: Wie oft kann man denn ein gutes Buch lesen? Sie werden jetzt 85. Gibt es Bücher, die Sie 20, 30 Mal gelesen haben?

Reich-Ranicki: Nein, solche Bücher gibt es nicht. Aber es gibt Bücher, die ich drei, vier, fünf Mal gelesen habe. Mehr nicht.

Kassel: Ich habe das "Literarische Quartett" schon erwähnt. Es ist immer ungerecht, wenn man nur darüber redet, finde ich. Vorher waren Sie sehr lange der Literaturchef der "Frankfurter Allgemeinen", waren vorher Kritiker der "Zeit" und, und, und. Dennoch, war die Zeit beim "Quartett", die Zeit beim ZDF mit den Kollegen die schönste?

Reich-Ranicki: Nein, das kann man gar nicht sagen. Es war die mit der stärksten öffentlichen Wirkung. Die schönste - nein, nein, das wäre übertrieben.

Kassel: Welche war denn die Schönste?

Reich-Ranicki: Ach, ich weiß es nicht. Besonders viel Genugtuung hat mir die Arbeit in der "FAZ" gegeben, als ich den Literaturteil der "FAZ" 15 Jahre lang geleitet habe. Es war eine gute Zeit.

Kassel: Was war denn das Gute daran, auch im Vergleich zum Fernsehen, die Chance, in Ruhe zu arbeiten?

Reich-Ranicki: Naja, die Chance, über Literatur das zu schreiben und zu organisieren und zu redigieren, was meiner Ansicht nach richtig und nötig ist.

Kassel: Im Nachhinein heißt es ja oft, Sie hätten die "FAZ" erst zu einer so wichtigen Literaturzeitung gemacht, als Sie damals '73 dort hingingen. Ist das wahr?

Reich-Ranicki: Ja, ich glaube, das stimmt. Die Bedeutung des Literaturteils hat sich wesentlich verändert.

Kassel: Wie haben Sie das gemacht?

Reich-Ranicki: Darüber steht alles in meinem Buch: "Mein Leben". Sehen Sie, das sind die Fragen, die mir immer wieder gestellt werden. Muss ich Ihnen noch mal empfehlen, wie ich es gemacht habe. Ich habe die richtigen Mitarbeiter gesucht und gefunden. Ich habe die Arbeit genauestens organisiert und so weiter. Aber das kann man nicht so darlegen.

Kassel: Dann kommen wir doch auf das Hier und Jetzt, Herr Reich-Ranicki. Sie haben ja in den letzten Wochen und Monaten Frieden geschlossen mit ein paar Menschen, mit denen es in ihrem Leben zwischendurch mal keinen Frieden gab, Günter Grass zum Beispiel und andere. Es sind aber welche übrig, zum Beispiel Martin Walser ist übrig. Würden Sie gerne an so einem 85. Geburtstag am liebsten mit der ganzen Welt in Frieden leben?

Reich-Ranicki: Nein, nicht unbedingt. Aber ich habe gesagt und kann nur wiederholen: Wer die Hand zur Versöhnung ausstreckt, wird von mir nicht abgewiesen.

Kassel: Und wer das nicht tut?

Reich-Ranicki: Bitte, was wollen Sie von mir. Martin Walser hat einen Roman geschrieben, in dem er meinen Tod wünscht und darstellt und was fragen Sie mich bitte? Ob ich mich mit ihm versöhnen will. Fragen Sie Walser, fragen Sie Fest, nicht mich!

Kassel: Herr Reich-Ranicki, an so einem Geburtstag, habe ich jetzt den Eindruck, nervt es Sie auch so ein bisschen, dass alle Leute immer wieder das Gleiche wissen wollen aus 85 Jahren. Würden Sie an Ihrem Geburtstag am liebsten auf einer einsamen Insel sein?

Reich-Ranicki: Nein, dann wäre ich ja auf die einsame Insel gefahren, ich bin aber in Frankfurt geblieben.

Kassel: Das heißt, Sie genießen es doch auch ein bisschen, wenn groß gefeiert wird?

Reich-Ranicki: Ein bisschen schon, jawohl.

Kassel: Es gibt zu Ihrem Geburtstag natürlich neben der Ausfragerei, die Sie über sich ergehen lassen müssen, auch andere Würdigungen: eine Fernsehsendung im ZDF, es wird noch anderes kommen, Menschen schreiben über Sie. Mit ab morgen 85 Jahren sind Sie in einem Alter, wo Sie sagen: Ich bin überhaupt nicht mehr eitel, darüber freue ich mich gar nicht mehr?

Reich-Ranicki: Das kommt darauf an, wie die Sachen geschrieben sind, wie sie gemacht sind. Natürlich freue ich mich, wenn ein Artikel über mich gut geschrieben ist.

Kassel: Und Sie ärgern sich, wenn er schlecht geschrieben ist. Oder ist das vorbei?

Reich-Ranicki: Das wird sich morgen erweisen, wenn der schlechte Artikel kommt.

Kassel: Das heißt, Sie werden an Ihrem Geburtstag tatsächlich die Artikel lesen, die Sie finden?

Reich-Ranicki: Ich glaube ja, teilweise bestimmt.

Das Gespräch wurde am 1. Juni 2005, einen Tag vor Reich-Ranickis 85. Geburtstag geführt.

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