"Ich habe das als Abenteuer empfunden"

Daniel Knauft im Gespräch mit Katrin Heise |
Der Sänger Daniel Knauft hat das Erziehungssystem der Thomaner verteidigt. Der Vorwurf eines Korsetts von Ordnung und Disziplin, Verzicht und Unterordnung sei zu einseitig. Ihm habe gerade das Prinzip, dass sich ein Größerer um einen Kleineren kümmere, sehr geholfen und das Hineinwachsen in eine bestehende Gemeinschaft angenehm gemacht.
Katrin Heise: Und jetzt begrüße ich einen, der selbst im Thomanerchor mitgesungen hat, und zwar bis 1992: Daniel Knauft. Jetzt singt er im Vokal-Ensemble "Amarcord". Ich grüße Sie, Herr Knauft.

Daniel Knauft: Ja, schönen guten Tag aus Leipzig, hallo.

Heise: Bei Ihrem letzten "Amarcord-Konzert", vergangenen Dienstag war das, da sagten Sie, ich zitiere, "und natürlich ist das Erziehungssystem der Thomaner ein Leistungssystem. Aber wir haben es nie als negativen Druck erfahren, der uns die Jugend verdorben hatte". Das heißt, Sie denken durchaus positiv an Ihre Thomaner-Zeit zurück?

Knauft: Ich denk da sehr positiv zurück und da weiß ich mich mit meinen "Amarcord-Kollegen" auch einig. Aber ich muss vielleicht hinzufügen, normalerweise sagen wir so was ja bei einem Konzert nicht. Das war unser alljährliches UNICEF-Weihnachtskonzert in der Leipziger Thomaskirche. Und aufgrund der aktuellen Diskussion war es uns ein Herzensanliegen, uns zu positionieren.

Heise: Jetzt würde ich gerne so vielleicht Schritt auch für Schritt auch vorgehen. Einer der großen Streitpunkte, um die es geht, ist ja die Betreuung, oder vielleicht muss man auch sagen, Erziehung der jüngeren Kinder durch ältere Kinder im Thomaner-Internat. Wie läuft das eigentlich konkret ab?

Knauft: Das läuft konkret ab, indem sich die sogenannte Obernschaft, das ist die elfte und zwölfte Klasse, der Abiturientenjahrgang, um die Kleineren kümmert, zum Teil als Gesamtverantwortung der Großen für die Kleinen, zum Teil eben mit konkreten Mentoren-Ultimus-Verhältnissen.

Das heißt, ein Größerer kümmert sich um einen Kleineren, und gerade dieses Prinzip hat mir als Kleinem sehr viel geholfen, über die erste Zeit hinweg mich einzuleben, das Heimweh, was ich natürlich auch als Leipziger im Internat hatte, zu überwinden. Ich habe da im Grunde als Viertklässler einen Zwölfklässler gehabt, der sich um mich wie als großer Bruder im Grunde gekümmert hat.

Heise: Der Sie sozusagen mitgenommen hat, wenn es zu den Proben ging, der Ihnen gezeigt hat, hier sind die Räume, in denen du das und das machen kannst, hier ist die Schule usw.?

Knauft: Ganz genau. Und ich hab das als ein sehr angenehmes Hineinwachsen in eine bestehende Gemeinschaft empfunden.

Heise: Man hat aber auch, vor allem früher, von sogenannten Initiationsriten gehört, wo dann schon die Kleineren ziemlich veralbert oder auch gemein behandelt wurden.

Knauft: Das ist völlig richtig. Wenn Kinder untereinander sind, muss das auch sein. Es muss natürlich drauf zu achten sein, dass das nicht über die Stränge schlägt. Kinder können natürlich auch grausam sein, wenn sie untereinander sind und wenn sie aufeinander losgelassen werden. Dem muss man entsprechend Zügel anlegen, darüber lässt sich ja auch streiten. Darüber lässt sich ja gern debattieren.

Was mich an dieser ganzen Diskussion stört, ist die Einseitigkeit der Darstellungen. Und, wenn ich zitiere, zu sprechen von einem "Korsett von Ordnung und Disziplin, Verzicht, Unterordnung", all diesen Dingen, das ist mir zu einseitig.

Heise: Wenn man allerdings als jetzt Nicht-Thomaner davon liest, dass es einen Duschwart gibt, einen Wochenpräfekten gibt usw., diese verschiedene Ämter, dann hat man schon das Gefühl, dass einfach ständige Kontrolle auch herrscht.

Knauft: Ja, ich glaube fast, dass dieser Eindruck bewusst erzielt werden sollte. Denn so fühlt man sich natürlich als Außenstehender in das Gefühl hineingebracht, da wird ja nur drangsaliert, gegängelt und ein Korsett letztendlich aufgezwängt. Man muss aber wissen, ein Sänger wird nie mit Korsett gut singen können.

Er braucht den Raum, er braucht das Atmen. Und der Chor muss schon aus einem Eigeninteresse heraus die Knaben in einer Freiheit erziehen, um sie beispielsweise die Motetten und Passionen und das Weihnachtsoratorium von Bach singen zu lassen.

Heise: Das Leben eines Thomaners, erzählt von Daniel Knauft, selber früher Mitglied im Thomanerchor, jetzt im Ensemble "Amarcord". Herr Knauft, Disziplin ist erforderlich, um einfach den Stundenplan zu erfüllen, den ein Thomaner da vor sich hat, denn es sind ja immerhin zwei Karrieren zu absolvieren, Altersgenossen während der Pubertät, sind mit ihrer Schulkarriere schon genug ausgelastet. Wie kommt man eigentlich damit klar? Das scheint mir ja oft ein 12- bis 13-Stunden-Tag zu sein.

Knauft: Der Tag ist in der Tat sehr, sehr lang, der ist sehr durchgeplant und Disziplin und Ordnung sind wirklich notwendig, um den zu erfüllen. Das beginnt 06.15 Uhr mit dem Wecken und endet dann mit den gestaffelten Zubettgehzeiten am Abend. Es gibt den Schultag, es gibt eine strenge Arbeitszeit, in der die Hausaufgaben erledigt werden, wo sich auch wieder Ältere um die Kleineren kümmern und die Hausaufgaben gemeinsam erledigen.

Es gibt die vorgeschriebenen Chorprobenzeiten nach Stimmgruppen sortiert, eine gemeinsame Gesamtchorprobe, je nach Wochentag und auch einen individuellen Instrumental- und Gesangsunterricht. Das ist ein sehr voller Tag, ist gar keine Frage. Ich habe es allerdings so erlebt, dass ich als Kind diese Herausforderung wirklich wollte. Kinder wollen leisten, Kinder wollen auch beansprucht werden und Kinder brauchen auch Regeln.
Heise: Kinder brauchen aber auch manchmal eine Zeit, wo sie sich vielleicht sogar mal langweilen, wo sie einfach mal vor sich hinstarren können, wenn man mal nicht mehr kann, wenn einem auch vielleicht einfach mal die Lust fehlt. Auch das ist ja ein Gefühl, das durchaus zulässig ist. Kann man eigentlich auch mal schwänzen oder hat man dann so ein schlechtes Gewissen den anderen Chormitgliedern gegenüber, dass das gar nicht möglich ist?

Knauft: Ja, nein, auf die Idee kommt man gar nicht. Natürlich, ich gebe Ihnen völlig recht, Faulenzen muss sein. Das muss der Sänger erst recht tun. Spannung, Entspannung, das ist auch für ein Kind natürlich ganz wichtig. Und das ist auch ein Punkt, den so ein Tagesablauf bieten muss. Aber Schwänzen? Auf die Idee würde man nicht kommen.

Heise: Mir scheint es da, wenn man sich diesen - Sie sagen oder lehnen das Wort Korsett ab - , aber wenn man sich diesen Plan und diesen Ämtern, dieser Verantwortung stellt und auch da durchhalten muss, dann braucht man sehr viel Hilfe, gerade auch durch Erwachsene.

Jetzt liest man aber, das ist auch auf der Seite der Thomaner, auf der Webseite der Thomaner, dass, ich habe gezählt, vier Erzieher dort im pädagogischen Bereich tätig sind, im reinen pädagogischen Bereich. Das erscheint mir bei 90 oder mehr Thomaner-Mitgliedern doch sehr wenig zu sein. Hat man tatsächlich genug erwachsene Ansprechpartner?

Knauft: Ich kann nur aus meiner Perspektive sprechen. Wir hatten damals sogar nur einen erwachsenen Erzieher, der allerdings rund um die Uhr da war und als Ansprechpartner ständig zur Verfügung stand, auch nachts, wenn man vor Heimweh nicht einschlafen konnte beispielsweise.

Heise: Es darf dann aber auch nicht mehr als ein Schüler sein, der da Heimweh hat?

Knauft: Ja. Heutzutage ist es ein bisschen anders. Es sind mehr Erzieher da, es gibt auch ein weibliches, mütterliches Element. Das habe ich damals wirklich vermisst, das ist schon wahr. Heutzutage gibt es auch eine Betreuerin für die kleinen Thomaner, die auch eine gewisse mütterliche Anlehnung suchen. Ich finde, dieser Weg ist richtig. Keiner behauptet, dass das System, so wie es ist, perfekt ist. Es geht immer besser, das weiß jeder Musiker aus eigener Erfahrung. Es geht immer besser. Der Anspruch muss auch da sein.

Mich stört dieser verengte Blick. Und wenn so ein Wort wie "menschenverachtende Ignoranz" fällt, dann ist, glaube ich, jeder gefordert, Stellung zu beziehen und dann wird auch, zum Beispiel ein Thomaner-Vater, sagen, ich gebe doch mein Kind nicht irgendjemandem, ich guck mir doch genau an, was hier passiert mit meinem Kind.

Heise: Sprechen wir mal die Eltern an. Jedem Elternpaar ist sicherlich klar, wo sie ihren Sohn anmelden. Aber ist das auch den Kindern klar und haben die eine Wahl? Sie haben gesagt, Sie wollten es selber. Aber Sie haben sicherlich auch andere Mitschüler erlebt?

Knauft: Ich kann jetzt erstmal auch nur von mir selbst sprechen. Ich wollte es unbedingt, fast sogar gegen meine Eltern. Denn als die das Internat sahen, waren sie gar nicht so begeistert. Ich sah da ein Heer von Waschbecken, und wir hatten damals noch Schlafsäle mit 20 Mann, da wollte ich hin als Kind. Ich war vorher nie in irgendwelchen Ferienlagern gewesen. Ich habe das als Abenteuer empfunden, das mir bevorsteht und ich habe das natürlich mit acht, neun Jahren nicht komplett überblicken können.

Entscheidend war aber, dass ich es unbedingt wollte und meine Eltern das unterstützt haben, im Unterschied zu dem persönlichen Ehrgeiz vielleicht der Eltern zu erfüllen und selber gar nicht zu wollen. Aber das ist doch eher eine Sache, die zwischen Eltern und Kind ausgemacht werden muss. Das hat ja nichts mit dem Chor als solchem zu tun.

Heise: Nein, aber da braucht das Kind natürlich eine starke Persönlichkeit vielleicht an seiner Seite, die es dann auch in seinen Zweifeln vielleicht bestärken oder aber die Zweifel nehmen kann.

Knauft: Völlig richtig. Und man muss auch konstatieren, beim manchem entpuppt es sich erst im Nachhinein, dass er für den Chor leider nicht gemacht ist oder der Chor nicht für ihn.

Heise: Wie geht man mit so einem Versagen um, oder ist es vielleicht gar kein Versagen?

Knauft: Ach, Versagen. Ich würde das nicht als Versagen … Wissen Sie, das ist ein großes Wort, biografisches Versagen am Ende noch, was bleibt übrig dann. Es sind auch viele vorzeitig ausgestiegen, aus dem auch große Musiker geworden sind unter anderem. Das ist gar nicht der Punkt. Ich denke, das sind eher Brüche im Leben, die früher oder später sowieso kommen werden.

Die Frage ist doch eher, wie man mit einem Kind damit umgeht, wie können die Eltern das steuern. Wie kann auch der Chor Einfluss nehmen und vielleicht den Eltern sagen, wir haben das Gefühl, für Ihr Kind ist es leider doch nicht das Richtige, so begabt er ist, musikalisch, aber er hat vielleicht Schwierigkeiten, sich in die Gemeinschaften einzubinden. Er hat Schwierigkeiten, die Selbstständigkeit schon so früh zu erlernen, die auch nötig ist.

Heise: Bei allen guten Erinnerungen, die Sie an den Thomanerchor und Ihre Zeit dort haben und auch bei der gefühlten Dankbarkeit und geäußerten Dankbarkeit, finden Sie das Konzept, das Erziehungskonzept dort immer noch zeitgemäß?

Knauft: Ich denke, die Idee, dass Ältere in die Pflicht genommen werden, die Kleineren zu erziehen, das finde ich sehr zeitgemäß. Das hat die Zeiten gewissermaßen überdauert, und es hat sich auch gewandelt. Es hat sich flexibel angepasst. Das muss sich weiterentwickeln. Das ist keine Frage. Meine Idee wäre zu gucken, wie können wir Ehemalige vielleicht in das Gespräch mit einbinden, wie können wir Eltern, wir können auch aktive Thomaner einbeziehen im Dialog und gemeinsam gucken, was lässt sich verbessern.

Heise: Herr Knauft, würden Sie denn Ihren Sohn, wenn Sie vielleicht mal einen haben, bei den Thomanern anmelden?

Knauft: Da muss ich ein bisschen zweifeln. Ich würde ihm gern die schönen Seiten, die es mit sich bringt, das Aufwachsen mit Musik, das Aufwachsen mit Gleichgesinnten, das würde ich ihm natürlich gern bieten. Ich würde ihm die Schattenseite, gerade das Heimweh, das würde ich ihm gern ersparen wollen. Das wird die Zeit zeigen müssen.

Heise: Daniel Knauft, Ensemble-Mitglied bei "Amarcord". Seine Ausbildung hatte er im Leipziger Thomanerchor. Herr Knauft, ich danke Ihnen recht herzlich für dieses Gespräch.