"Ich glaube nicht, dass wir uns scheiden lassen"
Belgien wird nicht auseinanderbrechen, versichert Geert van Istendael, freischaffender Schriftsteller und Publizist. Die flämischen Wähler seien alles andere als logisch: In Wahlen stimmten 45 Prozent für Parteien, die die Unabhängigkeit Flanderns anstrebten - in Umfragen seien aber nur 15 Prozent dafür.
Dieter Kassel: Ab heute übernimmt Belgien die EU-Ratspräsidentschaft, und es ist natürlich Unfug, sich da irgendwelche Sorgen zu machen, denn wenn die Belgier nur mit irgendetwas Erfahrung haben, dann ist es die Europäische Union, das können sie. Schließlich ist Brüssel ja auch so etwas wie die Hauptstadt der EU. Brüssel ist aber natürlich auch die Hauptstadt Belgiens, und Brüssel ist die einzige Stadt im ganzen Land, die offiziell zweisprachig ist. Was logisch, nett und harmlos klingt, ist nichts davon, denn diese Zweisprachigkeit, konkret die Diskussion über Neuaufteilung von Wahlkreisen in der Region Brüssel, haben entscheidend dazu beigetragen, dass die alte Regierung zerbrochen ist, dass Yves Leterme nur noch ein provisorischer Premierminister von Belgien ist.
Gewählt wurde bereits, vor zweieinhalb Wochen ungefähr, eine neue Regierung steht noch nicht, aber eins ist jetzt schon sicher: In dieser neuen belgischen Regierung wird unter anderem eine Partei mit dem Namen Neue Flämische Allianz eine große Rolle spielen – eine Partei, die ihren Wahlkampf ganz entscheidend damit bestritten hat anzukündigen, dass man mittelfristig so etwas wie eine Republik Flandern anstrebe, was übrigens ein paar andere Parteien auch getan haben. Wie groß ist denn der Streit zwischen Wallonen und Flamen jetzt in Belgien, steht das Land wirklich kurz davor auseinanderzubrechen? Darüber wollen wir jetzt mit Geert van Istendael sprechen. Er war früher mal Fernsehjournalist in Belgien und ist seit 1993 hauptberuflich ein freischaffender Schriftsteller und Publizist, und er ist heute morgen für uns in Brüssel ins Studio gegangen. Schönen guten Morgen, Herr van Istendael!
Geert van Istendael: Schönen guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Wie lebt man denn jetzt in einem Land, das kurz davorsteht, auseinanderzubrechen?
van Istendael: Ganz angenehm. Ich meine, es wird nicht auseinanderbrechen natürlich. Belgien ist ein zähes, altes Gebilde, und ich sage immer, Belgien ist älter als Belgien. Dieses Gebiet, in seine Gesamtheit besteht seit dem 16. Jahrhundert schon, und nur 1830 haben wir Unabhängigkeit bekommen. Da sind die auch noch älter als Deutschland und Italien. Es ist nicht die Tschechoslowakei, es ist nicht das alte Jugoslawien. Es ist wirklich sehr alt, und ich glaube nicht, dass wir uns scheiden lassen. Das glaube ich nicht.
Kassel: Wenn ich Sie …
van Istendael: Und übrigens, im Alltag ist alles sehr angenehm.
Kassel: Das habe ich in Brüssel auch immer festgestellt, aber trotzdem, Herr Istendael, wenn ich Sie jetzt überhaupt nicht kennen würde und würde Sie auf der Straße fragen, was sind Sie denn eigentlich für ein Landsmann, ich kann den Akzent nicht einordnen, würden Sie sagen, ich bin Belgier?
van Istendael: Ich bin niederländischsprachig, Brüsseler, Flame, Belgier, Europäer, spreche aber seit meiner Jugend, ich meine seit fast 60 Jahren, nein, ich übertreibe, 55 Jahren Französisch und ich liebe diese Sprache, und es ist eine unheimlich schöne, elegante Sprache mit einer großartigen Literatur.
Kassel: Würden das die meisten Flamen sagen?
van Istendael: Und da gibt es sehr viele Flamen, die so denken.
Kassel: Damit haben Sie die Frage beantwortet. Dennoch, wir können das Ganze nicht so wegdiskutieren. Ich habe mir noch mal jetzt nach der Wahl die Internetseite der Neuen Flämischen Allianz angesehen – die gibt es natürlich auch auf Deutsch, Deutsch ist ja nun die dritte Amtssprache in Belgien –, und da steht immer noch wörtlich drin: Wir wollen eine eigene Republik Flandern. Da wird sogar nachgerechnet, Flandern wäre auf der Welt von den 193 Staaten von der Größe her die Nummer 95, also noch gut im Mittelfeld, vom Bruttoinlandprodukt die Nummer 25. Das klingt alles aber doch so, als sei das sehr ernst gemeint.
van Istendael: Das ist sehr ernst gemeint, das ist auch im flämischen Nationalismus, ja, eine wichtige Idee. Bei den Wahlen haben 45 Prozent der flämischen Wähler für Parteien gestimmt, die die Unabhängigkeit Flanderns wollen. Bei seriösen Umfragen von den Universität, von dem Institut für Politikwissenschaft an den Universitäten, beweisen aber, dass nur 15 Prozent der Flamen diese Unabhängigkeit wirklich wünschen. Das ist … Also die flämischen Wähler sind nicht sehr logisch. Und dieses Mal haben die für NVA gewählt, NVA gewählt, nach drei Jahren des großen Nichts. Es gab einen totalen Immobilismus in diesem Land, und das ist aufs Konto von Yves Leterme zu schreiben.
Kassel: Wir müssen übrigens kurz …
van Istendael: Dazu kommt, dass Bart De Wever ein hervorragender Politiker ist.
Kassel: Der Parteichef der Neuen Flämischen Allianz. Wir müssen vielleicht kurz, Herr Istendael, ich habe gerade gesehen, wie die Kollegen, die mir hier in der Technik gegenübersitzen, alle sehr gelacht haben, als Sie gerade NVA gesagt haben. Das ist natürlich die korrekte flämische Abkürzung für die Nieuw-Vlaamse Alliantie, aber auf Deutsch ist NVA immer die Nationale Volksarmee, also die alte Armee der DDR. Insofern wird bei uns immer sehr gelacht. Also ab jetzt, wenn wir beide NVA sagen …
van Istendael: In Holland ist das der Nationale Verein für Autisten.
Kassel: Nun könnten wir lange darüber diskutieren, was diese drei Organisationen miteinander gemein haben, aber das tun wir nicht. Bleiben wir bei der Neuen Flämischen Allianz. Ist denn das – Sie haben ja schon Yves Leterme hier und seiner Politik jetzt deutliche Vorwürfe gerade gemacht – ist denn das mal jenseits dieser Pläne, eine Republik Flandern zu gründen, ist denn das eine Partei, von der eine seriöse, eine Belgien gut tuende Politik zu erwarten ist?
van Istendael: Von der Partei, das weiß ich nicht, von Bart De Wever ja, unbedingt. Er weiß, was Verhandlungen sind, er hat viel Humor, er ist ein hervorragender Historiker, er kennt die Geschichte Belgiens und der flämischen Emanzipation sehr gründlich, und ja, ich glaube, er hat ein Problem mit seinen Truppen, mit seiner Partei vielleicht. Es gibt natürlich in dieser Partei hartgesottene flämische Nationalisten, die immer über Dolchstöße und so weiter sprechen werden, aber er persönlich würde es schaffen, ja. Nur er braucht seine Partei.
Kassel: Wo bleiben eigentlich bei dieser ganzen Diskussion die Wallonen? Sie haben jetzt auch gesagt, nur 15 Prozent der Flamen wollen wirklich eine eigene Republik, und man hört auch in Deutschland immer das Gepolter manchmal so ein bisschen der flämischen Parteien – wo bleiben die Wallonen, was wollen die eigentlich in dem Spiel?
van Istendael: Das Wahlergebnis war, ja, sehr schön in der Wallonie. Die Parti Socialiste, also die Sozialdemokraten haben eindeutig gesiegt, und jetzt geht es in den Verhandlungen eigentlich nur um zwei Parteien: Die Neue Flämische Allianz und die Parti Socialiste. Und der Parteivorsitzende ist Elio Di Rupo, der ganz offen homosexuell, Sohn eines italienischen Bergarbeiters, und ich bin ziemlich stolz darauf, dass vielleicht er der zukünftige Ministerpräsident dieses Landes sein wird.
Kassel: Das ist die politische – entschuldigen Sie – die politische Seite, aber ich meinte eigentlich eher, was sagen denn die Wallonen zu der Frage, ob es weiterhin ein einheitliches Belgien geben sollte?
van Istendael: Nein, die Wallonen wollen ein einheitliches Belgien, natürlich, die brauchen es auch. Die sind wirtschaftlich nicht ganz pleite, aber nicht weit davon. Das ist ein altes Industrierevier, die Wallonie, mit Bergwerken und Stahlwerken, ein wenig wie das Ruhrgebiet, nur älter. Und diese Bergwerke und Stahlwerke sind zugrunde gegangen eigentlich, und die industrielle Erneuerung dieser Region ist sehr schwierig – wie auch in Nordengland, wie auch im Ruhrgebiet, wie in Nordfrankreich, in Lothringen und so weiter. Und ja, da haben die Angst. Die haben in gewissen Gegenden haben die, ja, 20 bis 30 Prozent Arbeitslose, da haben die Angst natürlich.
Kassel: Sie haben gesagt, im Alltag ist das alles nicht so schlimm und die Leute kommen miteinander aus. Nun gibt es aber ja nicht nur diese Neue Flämische Allianz, sondern es gibt ja auch noch eine Partei, die heißt inzwischen Vlaams Belang, die hieß früher mal Vlaams Blok, ist als solche verboten worden, weil sie zu nationalistisch war. Vlaams Belang …
van Istendael: Nein, rassistisch.
Kassel: Rassistisch, Entschuldigung. Vlaams Belang macht aber mit gewisser Rücksicht auf die bestehenden Gesetze ja da weiter, wo die Vorgängerpartei aufgehört hat. Also es muss doch auch einen harten Kern von Flamen geben, die auch im Alltag nicht gern so friedlich mit den Wallonen umgehen?
van Istendael: Das stimmt, aber Vlaams Belang ist eigentlich meiner Idee nach eine rein faschistische Partei. Das sind …, aber die haben die Wahlen verloren, da bin ich sehr glücklich. Die haben nur noch 12 Prozent, was viel zu viel ist, aber die haben die Wahlen verloren. Und die Neue Flämische Allianz hat diese flämische Emanzipation oder diesen flämischen Nationalismus wieder salonfähig gemacht – nicht nur eine Sache der Rechtsradikalen, das ist eigentlich eine gute Sache. Aber ja, der Erfolg von Vlaams Belang ist ein Erfolg der Rassisten, das ist es eigentlich im Grunde genommen.
Kassel: Reden wir noch einmal über Flamen und Wallonen und reden über eine Theorie, die ich vor einigen Wochen das erste Mal gehört habe. Zuerst konnte ich das nicht glauben, nach längerem Nachdenken erscheint mir das nicht mehr so unlogisch. Es gibt die Theorie, dass die Probleme in Belgien auch etwas zu tun haben mit einem Zuviel an Autonomie. Man muss das vielleicht mal erklären: Die Wallonen dürfen keine flämischen Parteien wählen, die stehen bei ihnen nicht zur Wahl, umgekehrt auch nicht – das war auch Teil des Ärgers in dem zweisprachigen Wahlbezirk rund um Brüssel –, aber ist nicht vielleicht diese Autonomie auch ein Grund des Konflikts? Wäre es nicht besser, wenn man auch in Lüttich die flämischen Parteien wählen könnte, in Liège?
van Istendael: Nein, ein Mann, ein Wallone aus Lüttich kann nicht flämische Parteien wählen …
Kassel: Aber wäre es nicht besser, wenn er könnte?
van Istendael: Bitte?
Kassel: Wäre es nicht besser, wenn er das könnte?
van Istendael: Ja. Die erste Hälfte dieser Analyse kommt von Bart De Wever …
Kassel: Entschuldigung.
van Istendael: … der Historiker, der sagt: Belgien ist nicht eine einheitliche Demokratie, sondern es gibt zwei Demokratien, die einander begegnen im Parlament. Und eigentlich ist das so – ein Flame aus Antwerpen kann nicht für einen Wallonen aus Lüttich und ein Wallone wählen aus Lüttich nicht für einen Flamen aus Antwerpen und so weiter. Nur ich, der ich ein Brüsseler bin, darf für französischsprachige Kandidaten wählen. Aber es gibt Vorschläge für einen nationalen Wahlbezirk, für einen Teil der Abgeordneten, ja. Diese Vorschläge gibt es, und das ist die zweite Hälfte der Analyse oder der, ja. Und Bart De Wever liebt das nicht natürlich, er will unbedingt ein unabhängiges Flandern. Aber die erste Analyse stimmt: Es gibt zwei Demokratien in Belgien, auch zwei öffentliche Meinungen, die einander kaum begegnen, und das ist ein Problem – man kennt einander nicht.
Kassel: Ich würde gerne noch Sie weiter näher kennenlernen, ungefähr eine Stunde lang, können wir jetzt nicht machen, Herr van Istendael …
van Istendael: Können wir nicht machen?
Kassel: Können wir leider nicht machen, nächstes Mal komme ich nach Brüssel, aber wir können uns ja verabreden. Sobald die Regierung steht und wir auch wissen, wer sie leitet, reden wir das nächste Mal miteinander.
van Istendael: Aber es gibt auch Ferien.
Kassel: Sogar in Belgien. Sind die eigentlich gleich, in der Wallonie und in Flandern, die Ferien?
van Istendael: Ja, ich glaube schon, ja, ja, ich glaube schon. Man hat es versucht, aber da haben die Eltern protestiert, dass die kleinen Kinder an der Küste nicht mehr zusammen spielen könnten.
Kassel: Da ist man dann wiederum weiter als in der Bundesrepublik. Bei uns ist das ja nicht so.
van Istendael: Der Alltag ist sehr wichtig in Belgien.
Kassel: Herr Istendael, ich danke Ihnen für heute und freue mich schon aufs nächste Mal!
van Istendael: Bitte!
Kassel: Geert van Istendael war das, freier Schriftsteller und Publizist aus Belgien, über Flandern, Belgien und Europa.
Gewählt wurde bereits, vor zweieinhalb Wochen ungefähr, eine neue Regierung steht noch nicht, aber eins ist jetzt schon sicher: In dieser neuen belgischen Regierung wird unter anderem eine Partei mit dem Namen Neue Flämische Allianz eine große Rolle spielen – eine Partei, die ihren Wahlkampf ganz entscheidend damit bestritten hat anzukündigen, dass man mittelfristig so etwas wie eine Republik Flandern anstrebe, was übrigens ein paar andere Parteien auch getan haben. Wie groß ist denn der Streit zwischen Wallonen und Flamen jetzt in Belgien, steht das Land wirklich kurz davor auseinanderzubrechen? Darüber wollen wir jetzt mit Geert van Istendael sprechen. Er war früher mal Fernsehjournalist in Belgien und ist seit 1993 hauptberuflich ein freischaffender Schriftsteller und Publizist, und er ist heute morgen für uns in Brüssel ins Studio gegangen. Schönen guten Morgen, Herr van Istendael!
Geert van Istendael: Schönen guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Wie lebt man denn jetzt in einem Land, das kurz davorsteht, auseinanderzubrechen?
van Istendael: Ganz angenehm. Ich meine, es wird nicht auseinanderbrechen natürlich. Belgien ist ein zähes, altes Gebilde, und ich sage immer, Belgien ist älter als Belgien. Dieses Gebiet, in seine Gesamtheit besteht seit dem 16. Jahrhundert schon, und nur 1830 haben wir Unabhängigkeit bekommen. Da sind die auch noch älter als Deutschland und Italien. Es ist nicht die Tschechoslowakei, es ist nicht das alte Jugoslawien. Es ist wirklich sehr alt, und ich glaube nicht, dass wir uns scheiden lassen. Das glaube ich nicht.
Kassel: Wenn ich Sie …
van Istendael: Und übrigens, im Alltag ist alles sehr angenehm.
Kassel: Das habe ich in Brüssel auch immer festgestellt, aber trotzdem, Herr Istendael, wenn ich Sie jetzt überhaupt nicht kennen würde und würde Sie auf der Straße fragen, was sind Sie denn eigentlich für ein Landsmann, ich kann den Akzent nicht einordnen, würden Sie sagen, ich bin Belgier?
van Istendael: Ich bin niederländischsprachig, Brüsseler, Flame, Belgier, Europäer, spreche aber seit meiner Jugend, ich meine seit fast 60 Jahren, nein, ich übertreibe, 55 Jahren Französisch und ich liebe diese Sprache, und es ist eine unheimlich schöne, elegante Sprache mit einer großartigen Literatur.
Kassel: Würden das die meisten Flamen sagen?
van Istendael: Und da gibt es sehr viele Flamen, die so denken.
Kassel: Damit haben Sie die Frage beantwortet. Dennoch, wir können das Ganze nicht so wegdiskutieren. Ich habe mir noch mal jetzt nach der Wahl die Internetseite der Neuen Flämischen Allianz angesehen – die gibt es natürlich auch auf Deutsch, Deutsch ist ja nun die dritte Amtssprache in Belgien –, und da steht immer noch wörtlich drin: Wir wollen eine eigene Republik Flandern. Da wird sogar nachgerechnet, Flandern wäre auf der Welt von den 193 Staaten von der Größe her die Nummer 95, also noch gut im Mittelfeld, vom Bruttoinlandprodukt die Nummer 25. Das klingt alles aber doch so, als sei das sehr ernst gemeint.
van Istendael: Das ist sehr ernst gemeint, das ist auch im flämischen Nationalismus, ja, eine wichtige Idee. Bei den Wahlen haben 45 Prozent der flämischen Wähler für Parteien gestimmt, die die Unabhängigkeit Flanderns wollen. Bei seriösen Umfragen von den Universität, von dem Institut für Politikwissenschaft an den Universitäten, beweisen aber, dass nur 15 Prozent der Flamen diese Unabhängigkeit wirklich wünschen. Das ist … Also die flämischen Wähler sind nicht sehr logisch. Und dieses Mal haben die für NVA gewählt, NVA gewählt, nach drei Jahren des großen Nichts. Es gab einen totalen Immobilismus in diesem Land, und das ist aufs Konto von Yves Leterme zu schreiben.
Kassel: Wir müssen übrigens kurz …
van Istendael: Dazu kommt, dass Bart De Wever ein hervorragender Politiker ist.
Kassel: Der Parteichef der Neuen Flämischen Allianz. Wir müssen vielleicht kurz, Herr Istendael, ich habe gerade gesehen, wie die Kollegen, die mir hier in der Technik gegenübersitzen, alle sehr gelacht haben, als Sie gerade NVA gesagt haben. Das ist natürlich die korrekte flämische Abkürzung für die Nieuw-Vlaamse Alliantie, aber auf Deutsch ist NVA immer die Nationale Volksarmee, also die alte Armee der DDR. Insofern wird bei uns immer sehr gelacht. Also ab jetzt, wenn wir beide NVA sagen …
van Istendael: In Holland ist das der Nationale Verein für Autisten.
Kassel: Nun könnten wir lange darüber diskutieren, was diese drei Organisationen miteinander gemein haben, aber das tun wir nicht. Bleiben wir bei der Neuen Flämischen Allianz. Ist denn das – Sie haben ja schon Yves Leterme hier und seiner Politik jetzt deutliche Vorwürfe gerade gemacht – ist denn das mal jenseits dieser Pläne, eine Republik Flandern zu gründen, ist denn das eine Partei, von der eine seriöse, eine Belgien gut tuende Politik zu erwarten ist?
van Istendael: Von der Partei, das weiß ich nicht, von Bart De Wever ja, unbedingt. Er weiß, was Verhandlungen sind, er hat viel Humor, er ist ein hervorragender Historiker, er kennt die Geschichte Belgiens und der flämischen Emanzipation sehr gründlich, und ja, ich glaube, er hat ein Problem mit seinen Truppen, mit seiner Partei vielleicht. Es gibt natürlich in dieser Partei hartgesottene flämische Nationalisten, die immer über Dolchstöße und so weiter sprechen werden, aber er persönlich würde es schaffen, ja. Nur er braucht seine Partei.
Kassel: Wo bleiben eigentlich bei dieser ganzen Diskussion die Wallonen? Sie haben jetzt auch gesagt, nur 15 Prozent der Flamen wollen wirklich eine eigene Republik, und man hört auch in Deutschland immer das Gepolter manchmal so ein bisschen der flämischen Parteien – wo bleiben die Wallonen, was wollen die eigentlich in dem Spiel?
van Istendael: Das Wahlergebnis war, ja, sehr schön in der Wallonie. Die Parti Socialiste, also die Sozialdemokraten haben eindeutig gesiegt, und jetzt geht es in den Verhandlungen eigentlich nur um zwei Parteien: Die Neue Flämische Allianz und die Parti Socialiste. Und der Parteivorsitzende ist Elio Di Rupo, der ganz offen homosexuell, Sohn eines italienischen Bergarbeiters, und ich bin ziemlich stolz darauf, dass vielleicht er der zukünftige Ministerpräsident dieses Landes sein wird.
Kassel: Das ist die politische – entschuldigen Sie – die politische Seite, aber ich meinte eigentlich eher, was sagen denn die Wallonen zu der Frage, ob es weiterhin ein einheitliches Belgien geben sollte?
van Istendael: Nein, die Wallonen wollen ein einheitliches Belgien, natürlich, die brauchen es auch. Die sind wirtschaftlich nicht ganz pleite, aber nicht weit davon. Das ist ein altes Industrierevier, die Wallonie, mit Bergwerken und Stahlwerken, ein wenig wie das Ruhrgebiet, nur älter. Und diese Bergwerke und Stahlwerke sind zugrunde gegangen eigentlich, und die industrielle Erneuerung dieser Region ist sehr schwierig – wie auch in Nordengland, wie auch im Ruhrgebiet, wie in Nordfrankreich, in Lothringen und so weiter. Und ja, da haben die Angst. Die haben in gewissen Gegenden haben die, ja, 20 bis 30 Prozent Arbeitslose, da haben die Angst natürlich.
Kassel: Sie haben gesagt, im Alltag ist das alles nicht so schlimm und die Leute kommen miteinander aus. Nun gibt es aber ja nicht nur diese Neue Flämische Allianz, sondern es gibt ja auch noch eine Partei, die heißt inzwischen Vlaams Belang, die hieß früher mal Vlaams Blok, ist als solche verboten worden, weil sie zu nationalistisch war. Vlaams Belang …
van Istendael: Nein, rassistisch.
Kassel: Rassistisch, Entschuldigung. Vlaams Belang macht aber mit gewisser Rücksicht auf die bestehenden Gesetze ja da weiter, wo die Vorgängerpartei aufgehört hat. Also es muss doch auch einen harten Kern von Flamen geben, die auch im Alltag nicht gern so friedlich mit den Wallonen umgehen?
van Istendael: Das stimmt, aber Vlaams Belang ist eigentlich meiner Idee nach eine rein faschistische Partei. Das sind …, aber die haben die Wahlen verloren, da bin ich sehr glücklich. Die haben nur noch 12 Prozent, was viel zu viel ist, aber die haben die Wahlen verloren. Und die Neue Flämische Allianz hat diese flämische Emanzipation oder diesen flämischen Nationalismus wieder salonfähig gemacht – nicht nur eine Sache der Rechtsradikalen, das ist eigentlich eine gute Sache. Aber ja, der Erfolg von Vlaams Belang ist ein Erfolg der Rassisten, das ist es eigentlich im Grunde genommen.
Kassel: Reden wir noch einmal über Flamen und Wallonen und reden über eine Theorie, die ich vor einigen Wochen das erste Mal gehört habe. Zuerst konnte ich das nicht glauben, nach längerem Nachdenken erscheint mir das nicht mehr so unlogisch. Es gibt die Theorie, dass die Probleme in Belgien auch etwas zu tun haben mit einem Zuviel an Autonomie. Man muss das vielleicht mal erklären: Die Wallonen dürfen keine flämischen Parteien wählen, die stehen bei ihnen nicht zur Wahl, umgekehrt auch nicht – das war auch Teil des Ärgers in dem zweisprachigen Wahlbezirk rund um Brüssel –, aber ist nicht vielleicht diese Autonomie auch ein Grund des Konflikts? Wäre es nicht besser, wenn man auch in Lüttich die flämischen Parteien wählen könnte, in Liège?
van Istendael: Nein, ein Mann, ein Wallone aus Lüttich kann nicht flämische Parteien wählen …
Kassel: Aber wäre es nicht besser, wenn er könnte?
van Istendael: Bitte?
Kassel: Wäre es nicht besser, wenn er das könnte?
van Istendael: Ja. Die erste Hälfte dieser Analyse kommt von Bart De Wever …
Kassel: Entschuldigung.
van Istendael: … der Historiker, der sagt: Belgien ist nicht eine einheitliche Demokratie, sondern es gibt zwei Demokratien, die einander begegnen im Parlament. Und eigentlich ist das so – ein Flame aus Antwerpen kann nicht für einen Wallonen aus Lüttich und ein Wallone wählen aus Lüttich nicht für einen Flamen aus Antwerpen und so weiter. Nur ich, der ich ein Brüsseler bin, darf für französischsprachige Kandidaten wählen. Aber es gibt Vorschläge für einen nationalen Wahlbezirk, für einen Teil der Abgeordneten, ja. Diese Vorschläge gibt es, und das ist die zweite Hälfte der Analyse oder der, ja. Und Bart De Wever liebt das nicht natürlich, er will unbedingt ein unabhängiges Flandern. Aber die erste Analyse stimmt: Es gibt zwei Demokratien in Belgien, auch zwei öffentliche Meinungen, die einander kaum begegnen, und das ist ein Problem – man kennt einander nicht.
Kassel: Ich würde gerne noch Sie weiter näher kennenlernen, ungefähr eine Stunde lang, können wir jetzt nicht machen, Herr van Istendael …
van Istendael: Können wir nicht machen?
Kassel: Können wir leider nicht machen, nächstes Mal komme ich nach Brüssel, aber wir können uns ja verabreden. Sobald die Regierung steht und wir auch wissen, wer sie leitet, reden wir das nächste Mal miteinander.
van Istendael: Aber es gibt auch Ferien.
Kassel: Sogar in Belgien. Sind die eigentlich gleich, in der Wallonie und in Flandern, die Ferien?
van Istendael: Ja, ich glaube schon, ja, ja, ich glaube schon. Man hat es versucht, aber da haben die Eltern protestiert, dass die kleinen Kinder an der Küste nicht mehr zusammen spielen könnten.
Kassel: Da ist man dann wiederum weiter als in der Bundesrepublik. Bei uns ist das ja nicht so.
van Istendael: Der Alltag ist sehr wichtig in Belgien.
Kassel: Herr Istendael, ich danke Ihnen für heute und freue mich schon aufs nächste Mal!
van Istendael: Bitte!
Kassel: Geert van Istendael war das, freier Schriftsteller und Publizist aus Belgien, über Flandern, Belgien und Europa.