"Ich glaube nicht, dass er mir sympathisch gewesen wäre"
Der Pädagoge und Theologe Bernhard Bueb äußert sich über die Rolle von Johannes Calvin. Der Reformator habe "entscheidende menschliche Tugenden nicht besessen", sagte Bueb.
Ralf Bei der Kellen: Im vergangenen Jahr wurde vielerorts an den 500. Geburtstag des Reformators Johannes Calvin erinnert. In zahlreichen Ausstellungen, Lesungen und Diskussionen wurden nicht zuletzt die Auswirkungen Calvins Lehren auf die Gegenwart überprüft, wobei sich herausstellte, dass Calvin nicht nur die religiöse Landschaft, sondern auch die Kunst oder Finanzwelt entscheidend beeinflusst hat.
Aus diesem Grund wollen wir uns in Religionen auch 2010 noch einmal mit dem Reformator beschäftigen: "Was tun, Herr Calvin?" - so lautete der Titel einer Reihe von Streitgesprächen, die die Evangelische Kirche in Deutschland im letzten Jahr im Deutschen Historischen Museum in Berlin veranstaltete. Einer der Diskutanten war der Theologe und Pädagoge Bernhard Bueb. In seinem 2006 veröffentlichten Buch "Lob der Disziplin" plädiert er für einen stärkeren Fokus auf Autorität und Disziplin in der pädagogischen Kultur. Dieses eher konservativ anmutende Modell wurde in den Medien so breit wie kontrovers diskutiert. In unserem Gespräch wollte ich aber zuerst wissen, warum der Reformator eigentlich hierzulande so unbekannt geblieben ist.
Bernhard Bueb: Das ist eine schwierige Frage, warum Calvin so unbekannt ist. Er ist mindestens in Deutschland unbekannt, weil Luther sehr viel lebensvoller war und präsenter, auch sympathischer, und Calvin ja ein kühler Asket war und man auch sehr wenig über seine Person weiß. Er hat ja auch drauf geachtet, dass man wenig über ihn weiß, weil er ja zurücktreten wollte als Person hinter der Sache. Und das mögen mit Gründe sein, warum zwar seine Sache sehr dominant gewesen ist, aber seine Person so wenig bekannt geblieben ist.
Bei der Kellen: Ist das eigentlich auch ein Ausdruck von Disziplin, die Person zurückzunehmen hinter der Sache?
Bueb: Das ist sicher ein Ausdruck von Disziplin, wobei es ja bei Disziplin immer drauf ankommt, wozu diszipliniere ich mich. Und er disziplinierte sich ja zur höheren Ehre Gottes. Und da war es natürlich geboten, sich selbst vollkommen zurückzunehmen. Das hat er auch konsequent getan, hat ja auch keinerlei Kulte zugelassen, er hat nicht mal sein Grab kenntlich machen lassen. Man weiß ja gar nicht, wo er begraben ist, weil man nicht wollte, dass irgendein Kult entsteht.
Bei der Kellen: War das denn bei Calvin nur die höhere Ehre Gottes, zu der er sich diszipliniert hat?
Bueb: So hat er es wollen, ich vermute, dass es auch eine Mischung war, er war ein sehr machtbewusster Mann, er hat ja auch entsprechend gehandelt. Zwar immer unter dem Aspekt, die Ehre Gottes zu vermehren, aber da waren doch auch eine Reihe von Ereignissen, wo er auch sehr menschlich vorgegangen ist. Aber im Großen und Ganzen glaube ich schon, dass er dieses einzige Lebensziel verfolgt hat, Gott zu dienen.
Bei der Kellen: Können Sie mal ein Beispiel geben, wo er sehr menschlich vorgegangen ist, weil vielen Leuten ist ja vor allen Dingen diese schreckliche Episode in Erinnerung, wo er seinen Widersacher Michael Servet hat verbrennen lassen bei lebendigem Leibe. Das ist ja eigentlich eher so ein Schreckbild an Disziplin.
Bueb: Also zunächst muss man richtigstellen, er hat ihn nicht verbrennen lassen, sondern er hat gebilligt, dass die staatliche Instanz ihn verbrannte, und er hat auch gebilligt, dass er besonders grausam verbrannt wurde. Man hat ihn ja noch mit Schwefel bestrichen, damit die Verbrennung qualvoller wird. Und da hat er nicht Einspruch erhoben, das ist ihm zum Vorwurf gemacht worden. Und da kann man natürlich sagen, das kann nicht zur höheren Ehre Gottes gewesen sein, sondern da waren vielleicht auch persönliche Ressentiments im Spiel, die man bei keinem Menschen ausschließen darf.
Also es gibt meiner Ansicht nach kaum einen Menschen, auch die ganz großen in der Geschichte waren alle insofern menschlich, als sie immer wieder bestimmte Schwächen deutlich machten, insbesondere wenn es um die Behandlung ihrer Feinde ging. Es gibt Ausnahmen, auch moderne, Mandela zum Beispiel, aber das ist ungewöhnlich. Ja, insofern glaube ich, dass er doch am Ende da in manchen Zügen ganz normal menschlich war.
Bei der Kellen: An den Schulen und Akademien, die Calvin besuchte, herrschte ja damals noch relativ rigides Zucht- und Prügelregiment. Calvin selber scheint das nicht so viel ausgemacht zu haben. So beschreibt zum Beispiel sein Biograf Klaas Huizing: Er hat Sitzfleisch und unterstellt sich offensichtlich ohne große Anstrengung einer autoritären Obrigkeit. Wie passt denn diese Obrigkeitshörigkeit für Sie mit dem Willen zur Reformation zusammen?
Bueb: Das ist eine gute Frage, weil er in der Tat ja die Autorität der Obrigkeit in keinem Augenblick angezweifelt hat, er hat sie ja dann selber auch ausgeübt. Dass er in seiner Jugendzeit und in seiner Studentenzeit so botmäßig war, das lag in der Natur der Sache, das war ja auch Luther gewesen in seinen frühen Jahren. Also die Revolution wurde ja erst angezettelt, als sie das Handeln des Papstes missbilligten.
Und da waren sich ja beide einig. Sie haben ja im Wesentlichen gegen die katholische Kirche die Freiheit des Gewissens verteidigt. Da waren sie beide gleich, und da sind sie gegen die Obrigkeit vorgegangen, weil sie glaubten, dass die Obrigkeit nicht mehr übereinstimmt mit dem Willen Gottes – das war ihre Rechtfertigung. Sie haben also nicht an sich Obrigkeit infrage gestellt, sondern nur die Legitimation dieser bestimmten katholischen Obrigkeit.
Bei der Kellen: An einer Stelle von Calvins Hauptwerken, der "Institutio", schreibt er: "Er – also Gott – schickt uns die Trübsal nicht, um uns zu verderben oder zugrunde zu richten, sondern vielmehr, um uns von der Verdammnis der Welt frei zu machen." Und später im Text schreibt er dann: "Wenn wir die Rute unseres Vaters verspüren, ist es dann nicht unsere Aufgabe, uns als gehorsame, gelehrige Kinder zu erzeigen, statt es in Halsstarrigkeit so zu machen wie verlorene Leute, die sich in ihren Übeltaten verhärtet haben?" Herr Dr. Bueb, ist es christlich, alle Erscheinungen des Lebens als Strafe oder Belohnung zu deuten?
Bueb: Es ist traditionell immer so gewesen, es war ja schon beim Buch Hiob so, dass die Priester, die mit Hiob gesprochen haben, als Gott ihn mit Krankheit geschlagen hatte, die Priester ihm sagten, du musst wohl gesündigt haben, es kann nicht sein, dass Gott eine solche Strafe schickt ohne eine gute Absicht. Und jetzt forsche doch mal in deinem Gewissen, ob du nicht tatsächlich gesündigt hast. Hiob hat das ja abgestritten.
Und es war eigentlich die ganz normale Interpretation, der Sinn des Leidens ist entweder Prüfung, wie bei Hiob, oder es ist Strafe. Und ein Drittes kann es gar nicht geben, denn Gott wird nie ein Leiden schicken, ohne einen Zweck damit zu verfolgen. Also insofern hat er ganz konsequent in der Logik des Christentums gedacht.
Bei der Kellen: Aber da frage ich Sie jetzt noch mal als Pädagogen, nicht als Theologe, der Sie ja auch sind: Wie soll bei solchen Anweisungen eigentlich so etwas wie ein normales Selbstbewusstsein entstehen?
Bueb: Wenn Sie im Glauben leben, dass Gott Sie geschaffen hat und mit Ihnen etwas Gutes vorhat und Sie zum Heil führen will, dann werden Sie seinen Anweisungen folgen, dann werden Sie keinen Grund haben, ihm zu widersprechen. Sie werden erst dann der Obrigkeit widersprechen, wenn Sie glauben, dass Sie nicht zum Heile der Menschen und zu Ihrem eigenen Heile handeln.
Aber es gab damals keinen Grund, Gottes Willen und Gottes guten Willen infrage zu stellen. Das ist für einen modernen Menschen völlig undenkbar. Und Leute wie Luther – der übrigens auch unglaublich geprügelt worden war in seiner Jugendzeit und Kindheit, schon manchmal deswegen, weil er die Lateinwörter nicht genügend auswendig gelernt hatte –, dem mangelte es ja nicht an Selbstwertgefühl.
Man kann ja nicht sagen, dass das gebrochene Naturen waren. Sie waren unglaublich starke Naturen und sind es geworden trotz dieser Obrigkeitshörigkeit. Also, das hängt nun wiederum mit dem Geist der Zeiten zusammen. Im 16. Jahrhundert aufzuwachsen und dort sein Selbstwertgefühl zu entwickeln, brauchte andere Bedingungen als im 20. Jahrhundert, wo in der Regel jemand gebrochen wird, wenn er so behandelt werden würde, wie Luther oder Calvin behandelt worden sind - von ihren Eltern, aber auch natürlich von ihren Lehrern.
Bei der Kellen: Calvin propagierte ja das Prinzip der doppelten Prädestination, also Gott hat die Menschen in zwei Gruppen aufgeteilt: die Auserwählten und die nicht Auserwählten, und das schon vor der Geburt eines jeden einzelnen Menschen. Und wer zu welcher Gruppe gehört, bleibt den Menschen allerdings verborgen.
Die Calvinisten versuchten später, sich selbst durch ihre Tugendhaftigkeit Gewissheit darüber zu verschaffen, dass sie eben zu den Auserwählten gehören müssen. In der daraus erwachsenen Arbeits- und Wirtschaftsethik wurden die Menschen häufig ja sich selbst die Nächsten zwangsläufig und gerieten somit auch nicht selten eben in Widerspruch mit dem christlichen Grundsatz von der Nächstenliebe. Ist diese Form der Disziplin von den Interpreten der Lehre Calvins grundsätzlich missverstanden worden?
Bueb: Calvin hat ja ganz klar gesagt, dass man nicht erkennen kann, ob man auserwählt ist. Das wurde später anders gesehen, wie Sie schon angedeutet haben. Später hat man propagiert, dass man die Auserwähltheit daran erkennen kann, dass Gott einen durch Wohlstand in diesem Leben auszeichnet.
Das ist aber nicht im Sinne von Calvin gewesen. Calvin hat allerdings gesagt: Da ich ja nicht weiß, ob ich auserwählt bin oder nicht, muss ich immer so handeln, als ob ich auserwählt wäre. Und deswegen muss jeder sich gut verhalten und tugendhaft verhalten, denn er muss annehmen, er könnte auserwählt sein. Und dieses Privileg darf er sich nicht verscherzen, indem er sündigt. Deswegen hat er von allen gefordert, dass sie sich gut verhalten.
Bei der Kellen: Was denken Sie, wenn Calvin das sehen könnte, was heute aus seiner Lehre geworden ist, was würde er dann sagen?
Bueb: Er würde vermutlich sagen, dass Satan endgültig Besitz ergriffen hat von dieser Welt und dass die Verderbtheit der Menschen, die er ja angenommen hat, die totale Verderbtheit der Menschen, dazu geführt hat, dass sie sich selbst verderben werden. Ich vermute mal, dass er das als eine Folge des kaputten Zustandes der menschlichen Moral angesehen hätte und vermutlich gesagt hätte: Ihr habt’s auch nicht anders verdient. Ihr habt Gott verraten, ihr habt nicht mehr gewirtschaftet und euch diszipliniert verhalten, um Gott die Ehre zu geben, sondern um eure Gier zu befriedigen. Und da hat er in gewisser Weise auch recht – oder hätte er auch recht.
Bei der Kellen: Obwohl ihm ja dieser Tage gerade auch wieder in den Medien häufig ganz gerne mal eine Mitschuld an der Finanzkrise angelastet wird.
Bueb: Diese Mitschuld an der Finanzkrise kann ich nicht sehen, denn er hätte ja die Art von Geldvermehrung, die in den letzten Jahrzehnten betrieben wurde, verurteilt, weil der Zweck, den hätte er nicht gebilligt, nämlich einfach sein Geld zu vermehren. Das war für ihn ja ein unmenschlicher und insbesondere nicht gottgewollter Zweck, sondern ich sollte arbeiten und ein geordnetes Leben führen, um Gottes Ruhm zu mehren. Dass ich dabei dann auch reich wurde, das war ein zufälliges Nebenprodukt, das ihm aber unwichtig war.
Das Gleiche galt ja schon für die Klöster. Die Klöster haben ja auch Armut, die Mönche Armut gelobt, sind aber dabei reich geworden, weil sie immer gearbeitet haben, wenig verbraucht haben, und am Ende hat es ja auch zur Korruption geführt. Die meisten Klöster sind so reich geworden, dass es dann wieder Reformbewegungen gab, die diesen Reichtum verurteilt haben: Franziskus, Cluny, Bernhard von Clairvaux und so weiter.
Das heißt, es ist ein immer wiederkehrendes Muster: Die Menschen arbeiten heftig – nicht um sich selbst zu bereichern, sondern um dem Gemeinwohl zu dienen oder Gott zu dienen oder einer höheren Idee –, werden dabei reich, dann werden sie korrumpiert durch diesen Reichtum, verlieren die ursprüngliche Idee, der sie mal gedient haben, und dann muss wieder jemand auftreten und sie zur Ordnung rufen. Und Calvin war ja in gewisser Weise auch ein solcher Reformator, der den Missbrauch des Reichtums in der katholischen Kirche damals bekämpft hat.
Er hat das ja auch immer wieder zum Ausdruck gebracht, dass er dies Wohlleben der Mönche und der Bischöfe und so weiter missbilligt hat. Das hat ja auch zur Folge gehabt, dass die katholische Kirche sich dann zusammengenommen hat. Luther und Calvin war ja ein Glücksfall für die katholische Kirche, weil sie dadurch gezwungen war, sich wieder auf ihre wahren Werte zu besinnen, das dann auch getan hat: Ignatius von Loyola, Jesuiten – die waren ja alles Erfindungen der damaligen Zeit, um auf die Vorwürfe der Reformatoren zu antworten.
Bei der Kellen: Nehmen wir jetzt mal den unwahrscheinlichen Fall an, dass Calvin Ihnen jetzt heute noch mal begegnen würde nach all dieser Zeit – was denken Sie, wäre er Ihnen sympathisch oder wäre er jemand, wo Sie sagen, mit dem kann ich nichts anfangen?
Bueb: Nach allem, was ich von Calvin gelesen habe, wäre er mir nicht sympathisch, weil er entscheidende menschliche Tugenden nicht besessen hat. Er war meiner Ansicht nach nicht gütig, er hatte keinen Humor, er hatte keinen Sinn für das sinnliche Leben, das vollkommen zum Menschen gehört, also er war zu abgehoben, zu geistig. Ich glaube nicht, dass er mir sympathisch gewesen wäre.
Bei der Kellen: Vielen Dank, Dr. Bernhard Bueb, für dieses Gespräch!
Aus diesem Grund wollen wir uns in Religionen auch 2010 noch einmal mit dem Reformator beschäftigen: "Was tun, Herr Calvin?" - so lautete der Titel einer Reihe von Streitgesprächen, die die Evangelische Kirche in Deutschland im letzten Jahr im Deutschen Historischen Museum in Berlin veranstaltete. Einer der Diskutanten war der Theologe und Pädagoge Bernhard Bueb. In seinem 2006 veröffentlichten Buch "Lob der Disziplin" plädiert er für einen stärkeren Fokus auf Autorität und Disziplin in der pädagogischen Kultur. Dieses eher konservativ anmutende Modell wurde in den Medien so breit wie kontrovers diskutiert. In unserem Gespräch wollte ich aber zuerst wissen, warum der Reformator eigentlich hierzulande so unbekannt geblieben ist.
Bernhard Bueb: Das ist eine schwierige Frage, warum Calvin so unbekannt ist. Er ist mindestens in Deutschland unbekannt, weil Luther sehr viel lebensvoller war und präsenter, auch sympathischer, und Calvin ja ein kühler Asket war und man auch sehr wenig über seine Person weiß. Er hat ja auch drauf geachtet, dass man wenig über ihn weiß, weil er ja zurücktreten wollte als Person hinter der Sache. Und das mögen mit Gründe sein, warum zwar seine Sache sehr dominant gewesen ist, aber seine Person so wenig bekannt geblieben ist.
Bei der Kellen: Ist das eigentlich auch ein Ausdruck von Disziplin, die Person zurückzunehmen hinter der Sache?
Bueb: Das ist sicher ein Ausdruck von Disziplin, wobei es ja bei Disziplin immer drauf ankommt, wozu diszipliniere ich mich. Und er disziplinierte sich ja zur höheren Ehre Gottes. Und da war es natürlich geboten, sich selbst vollkommen zurückzunehmen. Das hat er auch konsequent getan, hat ja auch keinerlei Kulte zugelassen, er hat nicht mal sein Grab kenntlich machen lassen. Man weiß ja gar nicht, wo er begraben ist, weil man nicht wollte, dass irgendein Kult entsteht.
Bei der Kellen: War das denn bei Calvin nur die höhere Ehre Gottes, zu der er sich diszipliniert hat?
Bueb: So hat er es wollen, ich vermute, dass es auch eine Mischung war, er war ein sehr machtbewusster Mann, er hat ja auch entsprechend gehandelt. Zwar immer unter dem Aspekt, die Ehre Gottes zu vermehren, aber da waren doch auch eine Reihe von Ereignissen, wo er auch sehr menschlich vorgegangen ist. Aber im Großen und Ganzen glaube ich schon, dass er dieses einzige Lebensziel verfolgt hat, Gott zu dienen.
Bei der Kellen: Können Sie mal ein Beispiel geben, wo er sehr menschlich vorgegangen ist, weil vielen Leuten ist ja vor allen Dingen diese schreckliche Episode in Erinnerung, wo er seinen Widersacher Michael Servet hat verbrennen lassen bei lebendigem Leibe. Das ist ja eigentlich eher so ein Schreckbild an Disziplin.
Bueb: Also zunächst muss man richtigstellen, er hat ihn nicht verbrennen lassen, sondern er hat gebilligt, dass die staatliche Instanz ihn verbrannte, und er hat auch gebilligt, dass er besonders grausam verbrannt wurde. Man hat ihn ja noch mit Schwefel bestrichen, damit die Verbrennung qualvoller wird. Und da hat er nicht Einspruch erhoben, das ist ihm zum Vorwurf gemacht worden. Und da kann man natürlich sagen, das kann nicht zur höheren Ehre Gottes gewesen sein, sondern da waren vielleicht auch persönliche Ressentiments im Spiel, die man bei keinem Menschen ausschließen darf.
Also es gibt meiner Ansicht nach kaum einen Menschen, auch die ganz großen in der Geschichte waren alle insofern menschlich, als sie immer wieder bestimmte Schwächen deutlich machten, insbesondere wenn es um die Behandlung ihrer Feinde ging. Es gibt Ausnahmen, auch moderne, Mandela zum Beispiel, aber das ist ungewöhnlich. Ja, insofern glaube ich, dass er doch am Ende da in manchen Zügen ganz normal menschlich war.
Bei der Kellen: An den Schulen und Akademien, die Calvin besuchte, herrschte ja damals noch relativ rigides Zucht- und Prügelregiment. Calvin selber scheint das nicht so viel ausgemacht zu haben. So beschreibt zum Beispiel sein Biograf Klaas Huizing: Er hat Sitzfleisch und unterstellt sich offensichtlich ohne große Anstrengung einer autoritären Obrigkeit. Wie passt denn diese Obrigkeitshörigkeit für Sie mit dem Willen zur Reformation zusammen?
Bueb: Das ist eine gute Frage, weil er in der Tat ja die Autorität der Obrigkeit in keinem Augenblick angezweifelt hat, er hat sie ja dann selber auch ausgeübt. Dass er in seiner Jugendzeit und in seiner Studentenzeit so botmäßig war, das lag in der Natur der Sache, das war ja auch Luther gewesen in seinen frühen Jahren. Also die Revolution wurde ja erst angezettelt, als sie das Handeln des Papstes missbilligten.
Und da waren sich ja beide einig. Sie haben ja im Wesentlichen gegen die katholische Kirche die Freiheit des Gewissens verteidigt. Da waren sie beide gleich, und da sind sie gegen die Obrigkeit vorgegangen, weil sie glaubten, dass die Obrigkeit nicht mehr übereinstimmt mit dem Willen Gottes – das war ihre Rechtfertigung. Sie haben also nicht an sich Obrigkeit infrage gestellt, sondern nur die Legitimation dieser bestimmten katholischen Obrigkeit.
Bei der Kellen: An einer Stelle von Calvins Hauptwerken, der "Institutio", schreibt er: "Er – also Gott – schickt uns die Trübsal nicht, um uns zu verderben oder zugrunde zu richten, sondern vielmehr, um uns von der Verdammnis der Welt frei zu machen." Und später im Text schreibt er dann: "Wenn wir die Rute unseres Vaters verspüren, ist es dann nicht unsere Aufgabe, uns als gehorsame, gelehrige Kinder zu erzeigen, statt es in Halsstarrigkeit so zu machen wie verlorene Leute, die sich in ihren Übeltaten verhärtet haben?" Herr Dr. Bueb, ist es christlich, alle Erscheinungen des Lebens als Strafe oder Belohnung zu deuten?
Bueb: Es ist traditionell immer so gewesen, es war ja schon beim Buch Hiob so, dass die Priester, die mit Hiob gesprochen haben, als Gott ihn mit Krankheit geschlagen hatte, die Priester ihm sagten, du musst wohl gesündigt haben, es kann nicht sein, dass Gott eine solche Strafe schickt ohne eine gute Absicht. Und jetzt forsche doch mal in deinem Gewissen, ob du nicht tatsächlich gesündigt hast. Hiob hat das ja abgestritten.
Und es war eigentlich die ganz normale Interpretation, der Sinn des Leidens ist entweder Prüfung, wie bei Hiob, oder es ist Strafe. Und ein Drittes kann es gar nicht geben, denn Gott wird nie ein Leiden schicken, ohne einen Zweck damit zu verfolgen. Also insofern hat er ganz konsequent in der Logik des Christentums gedacht.
Bei der Kellen: Aber da frage ich Sie jetzt noch mal als Pädagogen, nicht als Theologe, der Sie ja auch sind: Wie soll bei solchen Anweisungen eigentlich so etwas wie ein normales Selbstbewusstsein entstehen?
Bueb: Wenn Sie im Glauben leben, dass Gott Sie geschaffen hat und mit Ihnen etwas Gutes vorhat und Sie zum Heil führen will, dann werden Sie seinen Anweisungen folgen, dann werden Sie keinen Grund haben, ihm zu widersprechen. Sie werden erst dann der Obrigkeit widersprechen, wenn Sie glauben, dass Sie nicht zum Heile der Menschen und zu Ihrem eigenen Heile handeln.
Aber es gab damals keinen Grund, Gottes Willen und Gottes guten Willen infrage zu stellen. Das ist für einen modernen Menschen völlig undenkbar. Und Leute wie Luther – der übrigens auch unglaublich geprügelt worden war in seiner Jugendzeit und Kindheit, schon manchmal deswegen, weil er die Lateinwörter nicht genügend auswendig gelernt hatte –, dem mangelte es ja nicht an Selbstwertgefühl.
Man kann ja nicht sagen, dass das gebrochene Naturen waren. Sie waren unglaublich starke Naturen und sind es geworden trotz dieser Obrigkeitshörigkeit. Also, das hängt nun wiederum mit dem Geist der Zeiten zusammen. Im 16. Jahrhundert aufzuwachsen und dort sein Selbstwertgefühl zu entwickeln, brauchte andere Bedingungen als im 20. Jahrhundert, wo in der Regel jemand gebrochen wird, wenn er so behandelt werden würde, wie Luther oder Calvin behandelt worden sind - von ihren Eltern, aber auch natürlich von ihren Lehrern.
Bei der Kellen: Calvin propagierte ja das Prinzip der doppelten Prädestination, also Gott hat die Menschen in zwei Gruppen aufgeteilt: die Auserwählten und die nicht Auserwählten, und das schon vor der Geburt eines jeden einzelnen Menschen. Und wer zu welcher Gruppe gehört, bleibt den Menschen allerdings verborgen.
Die Calvinisten versuchten später, sich selbst durch ihre Tugendhaftigkeit Gewissheit darüber zu verschaffen, dass sie eben zu den Auserwählten gehören müssen. In der daraus erwachsenen Arbeits- und Wirtschaftsethik wurden die Menschen häufig ja sich selbst die Nächsten zwangsläufig und gerieten somit auch nicht selten eben in Widerspruch mit dem christlichen Grundsatz von der Nächstenliebe. Ist diese Form der Disziplin von den Interpreten der Lehre Calvins grundsätzlich missverstanden worden?
Bueb: Calvin hat ja ganz klar gesagt, dass man nicht erkennen kann, ob man auserwählt ist. Das wurde später anders gesehen, wie Sie schon angedeutet haben. Später hat man propagiert, dass man die Auserwähltheit daran erkennen kann, dass Gott einen durch Wohlstand in diesem Leben auszeichnet.
Das ist aber nicht im Sinne von Calvin gewesen. Calvin hat allerdings gesagt: Da ich ja nicht weiß, ob ich auserwählt bin oder nicht, muss ich immer so handeln, als ob ich auserwählt wäre. Und deswegen muss jeder sich gut verhalten und tugendhaft verhalten, denn er muss annehmen, er könnte auserwählt sein. Und dieses Privileg darf er sich nicht verscherzen, indem er sündigt. Deswegen hat er von allen gefordert, dass sie sich gut verhalten.
Bei der Kellen: Was denken Sie, wenn Calvin das sehen könnte, was heute aus seiner Lehre geworden ist, was würde er dann sagen?
Bueb: Er würde vermutlich sagen, dass Satan endgültig Besitz ergriffen hat von dieser Welt und dass die Verderbtheit der Menschen, die er ja angenommen hat, die totale Verderbtheit der Menschen, dazu geführt hat, dass sie sich selbst verderben werden. Ich vermute mal, dass er das als eine Folge des kaputten Zustandes der menschlichen Moral angesehen hätte und vermutlich gesagt hätte: Ihr habt’s auch nicht anders verdient. Ihr habt Gott verraten, ihr habt nicht mehr gewirtschaftet und euch diszipliniert verhalten, um Gott die Ehre zu geben, sondern um eure Gier zu befriedigen. Und da hat er in gewisser Weise auch recht – oder hätte er auch recht.
Bei der Kellen: Obwohl ihm ja dieser Tage gerade auch wieder in den Medien häufig ganz gerne mal eine Mitschuld an der Finanzkrise angelastet wird.
Bueb: Diese Mitschuld an der Finanzkrise kann ich nicht sehen, denn er hätte ja die Art von Geldvermehrung, die in den letzten Jahrzehnten betrieben wurde, verurteilt, weil der Zweck, den hätte er nicht gebilligt, nämlich einfach sein Geld zu vermehren. Das war für ihn ja ein unmenschlicher und insbesondere nicht gottgewollter Zweck, sondern ich sollte arbeiten und ein geordnetes Leben führen, um Gottes Ruhm zu mehren. Dass ich dabei dann auch reich wurde, das war ein zufälliges Nebenprodukt, das ihm aber unwichtig war.
Das Gleiche galt ja schon für die Klöster. Die Klöster haben ja auch Armut, die Mönche Armut gelobt, sind aber dabei reich geworden, weil sie immer gearbeitet haben, wenig verbraucht haben, und am Ende hat es ja auch zur Korruption geführt. Die meisten Klöster sind so reich geworden, dass es dann wieder Reformbewegungen gab, die diesen Reichtum verurteilt haben: Franziskus, Cluny, Bernhard von Clairvaux und so weiter.
Das heißt, es ist ein immer wiederkehrendes Muster: Die Menschen arbeiten heftig – nicht um sich selbst zu bereichern, sondern um dem Gemeinwohl zu dienen oder Gott zu dienen oder einer höheren Idee –, werden dabei reich, dann werden sie korrumpiert durch diesen Reichtum, verlieren die ursprüngliche Idee, der sie mal gedient haben, und dann muss wieder jemand auftreten und sie zur Ordnung rufen. Und Calvin war ja in gewisser Weise auch ein solcher Reformator, der den Missbrauch des Reichtums in der katholischen Kirche damals bekämpft hat.
Er hat das ja auch immer wieder zum Ausdruck gebracht, dass er dies Wohlleben der Mönche und der Bischöfe und so weiter missbilligt hat. Das hat ja auch zur Folge gehabt, dass die katholische Kirche sich dann zusammengenommen hat. Luther und Calvin war ja ein Glücksfall für die katholische Kirche, weil sie dadurch gezwungen war, sich wieder auf ihre wahren Werte zu besinnen, das dann auch getan hat: Ignatius von Loyola, Jesuiten – die waren ja alles Erfindungen der damaligen Zeit, um auf die Vorwürfe der Reformatoren zu antworten.
Bei der Kellen: Nehmen wir jetzt mal den unwahrscheinlichen Fall an, dass Calvin Ihnen jetzt heute noch mal begegnen würde nach all dieser Zeit – was denken Sie, wäre er Ihnen sympathisch oder wäre er jemand, wo Sie sagen, mit dem kann ich nichts anfangen?
Bueb: Nach allem, was ich von Calvin gelesen habe, wäre er mir nicht sympathisch, weil er entscheidende menschliche Tugenden nicht besessen hat. Er war meiner Ansicht nach nicht gütig, er hatte keinen Humor, er hatte keinen Sinn für das sinnliche Leben, das vollkommen zum Menschen gehört, also er war zu abgehoben, zu geistig. Ich glaube nicht, dass er mir sympathisch gewesen wäre.
Bei der Kellen: Vielen Dank, Dr. Bernhard Bueb, für dieses Gespräch!