"Ich glaube nicht, dass das Label christliches Land sinnvoll wäre"

Antje Schrupp und Hilal Sezgin im Gespräch mit Stephan Karkowsky |
Die Politologin Antje Schrupp spricht mit der Muslimin Hilal Szegin über die Vergleiche zwischen Christentum und Islam sowie über die Bedeutung der Religion in Deutschland. Unterschiede oder Konflikte würden oft auf eine religiöse Wurzel zurückgeführt, sagt Schrupp.
Stephan Karkowsky: Obwohl Religion Privatsache der Gläubigen ist, scheinen wir alle in jüngster Zeit wieder einer Religion zugeordnet zu werden, ob wir gläubig sind oder nicht. In Deutschland gelten die mit den komplizierten Namen automatisch als Muslime, die anderen sind demnach Christen.

Und wenn Kanzlerin und Bundespräsident uns zur Solidarität auffordern mit den Christen in Ägypten, dann meinen sie Solidarität mit unseren Leuten. Wie problematisch das sein kann, möchte ich mit Hilal Sezgin und Antje Schrupp diskutieren. Frau Sezgin ist eine deutsche Philosophin und Journalistin, als Muslima wird sie von den Medien am liebsten zu Themen des Islam befragt. Guten Morgen!

Hilal Sezgin: Guten Morgen!

Karkowsky: Dr. Antje Schrupp ist eine deutsche Politologin, Bloggerin und Redakteurin der Zeitschrift "Evangelisches Frankfurt". Als bekennende Christin soll sie uns verraten, ob denn die ständigen Vergleiche zwischen Christen und Muslimen die Bedeutung der Religion auch in den sogenannten christlichen Kulturkreisen verstärkt haben. Guten Morgen, Frau Schrupp!

Antje Schrupp: Guten Morgen!

Karkowsky: Frau Sezgin, Sie haben sich ja schon in der Sarrazin-Debatte beschwert darüber, dass Sie muslimifiziert werden, also dass Migranten nun automatisch zu Muslimen erklärt werden, dass in dieser Debatte viel zu wenig differenziert wird. Was ist denn eigentlich so schlimm daran, dass jemand bei einer Deutschtürkin automatisch davon ausgeht, dass sie eine Muslima ist?

Sezgin: Das fängt eigentlich schon bei dem Label Deutschtürkin an. Also ich frage mich manchmal, wie lange muss man hier leben, wie deutsch muss man sein, um einfach mal deutsch zu sein, Sie haben mich eigentlich vorhin ...

Karkowsky: ... Sie haben ja beide Staatsbürgerschaften.

Sezgin: Ja, das ist richtig, aber ich schreibe ja jetzt immer auf deutsch, ich schreibe nie über Angelegenheiten in der Türkei, ich schreibe immer, ich kommentiere nur den Islam in Deutschland, also als Teil von Deutschland. Gut, aber das ist schon so ein bisschen, womit man markiert wird als jemand, der von woanders gekommen ist, oder die Eltern sind von woanders gekommen. Mit dem Türkischen und dem Muslimischen speziell, das ist ja einfach nicht dasselbe.

Es gibt ganz viele Leuten unter anderem aus dem Iran, auch aus der Türkei, die gar nicht sich als muslimisch verstehen, es gibt umgekehrt auch deutsche Muslime. Und das Muslimische wird zunehmend als eine, wie eine ethnische Kategorie verwendet. Es werden sozusagen, soziale Fragen und Herkunftsfragen werden mit so pseudo ... , so kulturellen und religiösen Fragen vermischt, und es wird so eine Masse aufgemacht, ein Etikett aufgedrückt, das einfach überhaupt nicht stimmt zunächst mal. Abgesehen davon, dass sich viele Leute damit einfach unwohl fühlen, weil sie so nicht empfinden und sich selber nicht so sehen.

Karkowsky: Stimmt es denn nicht, dass 99 Prozent der Türkei in der Türkei muslimisch sind und viele ihrer Nachkommen, wenn sie Migranten sind, ebenfalls?

Sezgin: Also es gibt Umfragen, also wenn man die Leute befragt, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat ja Leute befragt nach ihrem Selbstverständnis in Deutschland. Da gibt es durchaus große Diskrepanzen zwischen den Menschen, die aus einem bestimmten Land eingewandert sind, das man als muslimisch kennt, und den Nachkommen, wie die sich verstehen.

Das war eigentlich eine der interessantesten Befunde selbst des Bundesamtes, die gesagt haben, interessant, in unserer Studie kommt heraus, das ist nicht identisch. Und das muss man eben ernst nehmen. Wie es in den Ländern dort ist, da kenne ich mich mit Studien nicht aus, aber in Deutschland gibt es da große Diskrepanzen.

Karkowsky: Antje Schrupp, in Deutschland gibt es genau so viele Atheisten, wie es Mitglieder der katholischen Kirche gibt oder auch der evangelischen, und selbst viele dieser Mitglieder stehen ihrer Kirche indifferent gegenüber, sie sind inaktiv oder sogar vom Glauben abgefallen. Sollte man Deutschland dennoch als christliches Land bezeichnen?

Schrupp: Also ich glaube nicht, dass das Label christliches Land sinnvoll wäre, aber es stimmt natürlich, dass die größte Religionszugehörigkeit immer noch christlich ist. Evangelisch und katholisch sind dabei ja auch nur ein Teil der Christen, man muss ja auch sehen, dass von den Migrantinnen und Migranten auch viele christlich sind und oft – also zumindest wenn sie nicht katholisch sind, sondern irgendeiner protestantischen Kirche angehören – auch gar nicht offiziell gezählt werden. Die zählen dann in den Statistiken nämlich auch als atheistisch, als nicht religiös.

Abgesehen davon, dass natürlich tatsächlich, man sagt, etwa zehn Prozent der Kirchenmitglieder sich auch wirklich als fromm oder religiös bezeichnen würden in dem Sinne, dass sie regelmäßig in die Kirche gehen oder so, stimmt es aber doch, dass die deutsche Kultur historisch christlich geprägt war. Das heißt, auch vieles, was nicht mehr mit dem christlichen Label daherkommt, hat diese Wurzeln. Welche Rolle das weiterhin spielen soll, das ist natürlich eine Sache, die man heute neu diskutieren müsste.

Karkowsky: Frau Schrupp, halten Sie denn die wachsende Betonung des Religiösen im Sprachgebrauch überhaupt für ein Problem?

Schrupp: Ja und nein. Es ist natürlich ein Problem, einfach weil sehr oft Unterschiede oder Konflikte auf eine religiöse Wurzel zurückgeführt werden, obwohl sie in Wirklichkeit ganz andere Gründe haben. Also man kann überhaupt nicht sagen, dass es einen kulturellen Unterschied zum Beispiel zwischen Muslimen und Christen in Deutschland gebe, die Unterschiede laufen da entlang von sozialen Schichten, darüber wird ja auch in letzter Zeit öfter mal gesprochen. Aber sie laufen – und das finde ich fast noch wichtiger – auch entlang von kulturellen Milieus und von Lebensstilen.

Also ist man freiheitlich eingestellt, ist man für zum Beispiel Gleichberechtigung der Frauen, sexuelle Selbstbestimmung, akzeptiert man Homosexualität ... Und da entlang gehen die Konfliktlinien, und die gehen eben quer durch alle Religionen. Also es gibt sowohl im Islam als auch im Christentum als auch unter den Atheisten übrigens jeweils solche und solche, und die sind untereinander sehr viel unterschiedlicher, als die Religionen als Gruppen voneinander unterschiedlich sind.

Sezgin: Ja, darf ich zwar kurz die Frage aufgreifen, die Sie eben an Frau Schrupp gestellt haben, und die auch noch mit beantworten? Weil Sie haben gefragt, fühlt man sich wohl damit oder findet man das gut: Ich finde es in der Tat total verhängnisvoll, diese religiöse Durchetikettierung von allen möglichen Menschen. Zum einen bedauere ich dabei, dass man überhaupt von dieser komischen Art von Identität ausgeht. Als ob Menschen eine Identität hätten, die ihnen so anklebt wie ein Etikett! Tatsächlich ist Identität etwas Relationales.

Man kann gegenüber einem anderen eher fromm sein, in einem anderen Kontext argumentiert man eher weltlich und politisch. Mal ist man Mutter, mal ist man Tochter, mal fühlt man sich fremd, mal fühlt man sich auf sicherem Boden – je nachdem, wo der gegenüber ist und wo man selber sich befindet. Und diese Idee, man habe so religiöse Identitäten – also Frau Schrupp wäre jetzt zum Beispiel evangelisch und ich wäre jetzt Muslimin –, das ist einfach, das verkürzt einfach die menschliche Vielfalt schon des Individuums. Auf ein Label!

Karkowsky: Frau Sezgin, was vermuten Sie denn als Grund dahinter, warum nun dieses Label der Religion so leicht an bestimmte Gruppen drangeklebt wird an die Muslime, an die Christen, unter denen es wiederum ganz viele Ungläubige und Atheisten gibt?

Sezgin: Ich denke eigentlich, dieses Label Muslim hat etwas ersetzt, was man früher mal Ausländer genannt hat. Danach hat man Migrationshintergrund gesagt, das hat mich vor ein paar Jahren auch schon irritiert, dass plötzlich immer dieser Migrationshintergrund überall dabei klebte, egal, was man gesagt hat. Und jetzt heißt es einfach Muslim oder Islam.

Und ich finde, das markiert so was, einfach den Fremden. Indem man aber die Muslime so bezeichnet hat, geriet man glaube ich auch ein bisschen unter Zugzwang: Ja, was ist denn dann das Eigene? Also mit Identifizierung des Fremden taucht dann eben auch das Eigene auf, das soll einerseits bestärkt werden, und dann merkt man: Oh, so christlich sind wir ja gar nicht mehr!

Also muss man das Christliche ein bisschen puschen und muss man das beschwören, wir haben viele Beschwörungsgesten in letzter Zeit erlebt: Ja, christliches Abendland, wir müssen Christen, und wir müssen das christliche Weltbild und ... So viel Christentum, ich finde, so viel Religion – ob es nun Islam ist oder Christentum – tut der Öffentlichkeit dieses Landes auch nicht gut. Es scheint mir auch teilweise künstlich und aufgesetzt.

Karkowsky: Frau Schrupp, stimmen Sie da zu? Wir werden erst zu Christen, indem wir uns von den Muslimen absetzen?

Schrupp: Also ich persönlich finde das völlig falsch, weil als religiöser Mensch, wie ich bin, geht es mir um Gott, und da habe ich mit gläubigen Muslimen mehr zu reden als mit ungläubigen Christen, sag ich jetzt mal, also mit Christen, die sich für Gott eigentlich nicht interessieren. Jetzt ...

Karkowsky: ... und all die, die jetzt dieses Wort vom Christentum im Mund führen, ohne vielleicht so gläubig und aktiv zu sein wie Sie?

Schrupp: Na ja, das ist ja leider kein neues Phänomen, dass christliche Label oder religiöse Label überhaupt verwendet werden, um instrumentelle Zwecke zu erreichen, also um bestimmte soziale Unterschiede zu markieren oder um sich selbst besser zu fühlen. Ich glaube, jeder wirklich religiöse Mensch würde das auch ablehnen, egal, zu welcher Religion er jeweils gehört.

Karkowsky: Wie bewerten Sie denn nun die Aussagen von Angela Merkel und Christian Wulff zu den Christenmorden in Ägypten? Haben hier unsere Staats- und Regierungschefs schon das Neutralitätsverbot verletzt oder hätten die sich genau so solidarisiert mit den von Saddam Hussein massakrierten Schiiten im Irak?

Sezgin: Das hätten sie wahrscheinlich nicht gemacht, aber meiner Meinung nach hätten sie das genau so gut tun können. Also mitzufühlen und Solidarität zu begründen mit Menschen, die irgendwo Opfer von Anschlägen werden, kann ja eigentlich nie falsch sein. Die Frage ist, ob es an einem bestimmten Punkt instrumentell eingesetzt wird oder dazu eingesetzt wird, eine angebliche Identität zu stiften, die vielleicht gar nicht dahintersteckt.

Und da könnte man bei diesem Punkt, jetzt bei den koptischen Christen natürlich schon fragen – wenn man sich zum Beispiel überlegt, dass erst seit etwa 20 Jahren die westlichen und die koptischen Christen sich gegenseitig als Christen überhaupt anerkennen, nachdem sie vorher anderthalb Jahrtausende sich gegenseitig vorgeworfen haben, jeweils gar keine richtigen Christen zu sein –, also da kann man dann natürlich schon fragen, aber man kann das natürlich dann auch zum Anlass nehmen, so einen Fall dieser eigenen Geschichte mal wieder anzuschauen und aufzugreifen.

Karkowsky: Frau Sezgin, haben Sie denn in diesem Fall Solidarität mit Christen erlebt oder mit Menschen, die unterdrückt und verfolgt werden?

Sezgin: Ja in der Tat, also das Wort Solidarität ist ambivalent, man kann das nicht genau sagen. Wie Frau Schrupp sagt, man kann sich und sollte sich prinzipiell bei allen Kämpfen von Leuten gegen Unterdrückung oder so was solidarisieren, aber in diesem Fall hat das natürlich wirklich so einen Zungenschlag gehabt von wegen, also unsere Leute, die woanders unterdrückt werden ... Das ist wirklich sehr problematisch.

Ich kenne diese Argumentation auch aus anderen Kontexten, wo es immer heißt, ja ihr Muslime wollt ja so viel hier in Deutschland, aber wie ist es denn mit den Christen dort und dort? Und da kann ich nur sagen: Für die Christen dort und dort kann ich auch wiederum nur als Ausländerin etwas tun, ich lebe ja nicht da, ich bin ja nicht zuständig für alle Zustände in Ägypten, Saudi-Arabien, in der Türkei als Muslimin! Ich bin als Deutsche engagiert auf dem Gebiet der Gleichberechtigung der Religionen hier.

Und ich finde, dieses komische Denkmuster wird dann eben aufgegriffen, wenn man so ein bisschen sagt, ja Solidarität mit unseren Leuten in Ägypten. Man muss sich mit allen Leuten solidarisieren, auch mit denen in Tunesien, zum Beispiel auch im Iran, mit den Iranern, die aufbegehren und immer wieder aufbegehrt haben, kann man sich solidarisieren, egal ob sie Muslime sind oder ob sie auch nicht glauben, ist ja egal!

Karkowsky: Man kann trotzdem am Ende fragen, ist es nicht menschlich und allzu verständlich, dass Menschen plakative Zuordnungen wählen statt detaillierter Differenzierung. Frau Sezgin, sollten wir uns und unseren Mitmenschen wirklich zumuten, immer und überall auf den Einzelnen zu gucken und die Sprache damit doch wirklich sehr zu verkomplizieren?

Sezgin: Ja, ich denke schon, das können wir anderen und auch uns selber zumuten. Ich meine, dadurch wird doch die Sache spannend und da erst beginnen wir doch wirklich, mit dem anderen in Kontakt zu treten und in Dialog zu treten. Also indem wir irgendwie die Sache etikettieren und so komische Positionen aufmachen, die ja gar nicht entsprechen den wirklichen Positionen der Menschen, blockieren wir ja das Gespräch, damit ist überhaupt nichts gewonnen!

Das kann man sich zumuten, das sind gesellschaftliche Prozesse, das ist ja Politik und das ist ja Öffentlichkeit, dass man sich über Nuancen verständigt und wirklich herausfindet, wo sind die einzelnen Leute zu Hause oder wo, was wollen sie in dieser Gesellschaft? Da ist Vielfalt, also Vielfalt ist ein Faktum und Vielfalt ist auch ein Wert. Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft, das ist einerseits deskriptiv und aber auch normativ. Wir wollen ja eine freiheitliche, pluralistische Gesellschaft!

Karkowsky: Du Christ, ich Moslem - über den Wiedereinzug des Religiösen in die säkulare Sprachwelt in Deutschland diskutierten wir mit Hilal Sezgin und Antje Schrupp. Ihnen beiden dafür besten Dank!