"Ich glaube, dass sich Ägypten im Bürgerkrieg befindet"
Die ägyptische Gesellschaft sei zwar zutiefst gespalten, in Mursi-Befürworter und das Militär, sagt der Schriftsteller Magdi Gohary. Doch es gebe ein drittes unbeteiligtes Lager, das immer größer werde. Er hoffe, dass dieses friedliche Lager weiteres Blutvergießen verhindern werde.
Susanne Führer: Magdi Gohary hat sein Heimatland Ägypten vor mehreren Jahrzehnten verlassen, der Kontakt aber ist nie abgerissen. Freunde und Familie leben dort, täglich spricht Magdi Gohary mit seinem Sohn in Kairo, er liest arabische Zeitungen, und mehrmals im Jahr reist er nach Ägypten – wie auch vor gut zwei Jahren, als er auf dem Tahrir-Platz an den Protesten gegen den damaligen Präsidenten Hosni Mubarak teilnahm. Nun ist uns Magdi Gohary aus München zugeschaltet. Grüß Gott, Herr Gohary, nach München!
Magdi Gohary: Ja, Grüß Gott, Frau Führer!
Führer: Ja, damals die Tage auf dem Tahrir-Platz, das haben Sie hier bei uns im Programm gesagt, das waren die schönsten Ihres Lebens. Revolutionen haben ja immer etwas Berauschendes für diejenigen, die dabei sind, und dass dieser Rausch nicht ewig anhalten kann, das ist auch klar. Aber jetzt scheint Ägypten ja am Rande eines Bürgerkriegs zu stehen. Heute gab es wieder Tote – wie erklären Sie sich das?
Gohary: Also ich glaube, dass Ägypten sich sogar im Bürgerkrieg befindet.
Führer: Schon befindet?
Gohary: Man versucht ja immer, sich diesen Begriff Bürgerkrieg zu umschiffen, aber es ist ein Bürgerkrieg, da machen wir uns nichts vor. Genau so, wie man versucht, auch in den Medien den Begriff Militärputsch zu umschiffen. Es ist ein Militärputsch, wie McCain vor einer Woche in Kairo gesagt hat, der republikanische Senator: Wenn ein Gegenstand wie eine Ente aussieht und sich verhält wie eine Ente, ist es eine Ente. So hat man den Begriff Militärputsch …
Führer: Sie meinen jetzt, die Absetzung Mursis war ein Militärputsch?
Gohary: Ja, natürlich, ja. Das ist generalstabsmäßig, und zwar wortwörtlich generalstabsmäßig durchgeführt worden. Das heißt, Militärs haben die Durchführung übernommen. Und wir wissen ja, dass Militärs können Kriege führen, können Schlachten gewinnen oder verlieren, aber Politik sollen sie einfach ihre Hand nicht im Spiel haben.
Und sogar Sir Winston Churchill hat einmal gesagt: Nicht einmal Krieg sollte man ihnen überlassen. Er sagte: Der Krieg ist eine viel zu ernste Angelegenheit, als dass man sie dem Militär überlässt. Das heißt, dieses ägyptische Militär, das jetzt die Sache in der Hand hat, und zwar ein Teil des Militärs – ich habe ja sogar Sympathien für das ägyptische Militär, noch empfinde ich das –, das hat zwar eine traditionsreiche Geschichte, ist eine national gesinnte Armee, es war nie eine Unterdrückungsarmee, es war nie eine interventionistische Armee. Trotz alledem haben wir es mit Militärdiktatur, Militärherrschaft zu tun.
Führer: Aber Herr Gohary, noch mal zu dem Punkt. Das Militär hat Mursi abgesetzt, und viele Millionen Ägypter haben das bejubelt – die Mursi-Anhänger natürlich nicht. Am Mittwoch wurden deren Lager geräumt, dabei sind Hunderte von ihnen getötet worden. Ihr Sohn lebt in Kairo, sie telefonieren täglich mit ihm. Was hören Sie denn von ihm über die Menschen in Ägypten heute, wie ist denn die Gefühlslage? Gibt es da Angst, Wut, Hass?
Gohary: Ja, ich würde sagen, also eher Angst, Wut und Verzweiflung. Also das Land ist zutiefst gespalten in zwei Lager. Wenn ich sage, das Land ist zutiefst gespalten in zwei Lager, dann gibt es ja immer ein drittes Lager, das zuschauen würde, das ist wahrscheinlich sogar die Mehrheit. Also die Akteure sind ja nicht, machen ja nicht 90 Prozent der Bevölkerung aus. Diese zwei Lager sind ja, die verändern sich täglich. Also deshalb, als es bei Ihnen jetzt in den Nachrichten war, hieß es: Mursi-Anhänger und das Militär. Das würde ich so nicht mehr nennen. Es gibt jetzt Legalitätsbefürworter, die werden immer mehr, das heißt, die Sache zu reduzieren auf Mursi-Anhänger und sozusagen die anderen, den Rest der Welt, das ist nicht gerecht.
Dieser Hass, diese Unversöhnlichkeit, dieses nicht Miteinander-Sprechen-Können, das dazu geführt hat sogar, dass alle Vermittlungsversuche, sei es arabisch, sei es amerikanisch, sei es deutsch, sei es französisch, gescheitert sind. Das ist eine schlimme Situation für das Land, das ist … - da gibt es mehr Fragen als Antworten drauf. Ich kann Ihnen nicht diese Frage so beantworten mit a, b, c, sondern da muss man ein bisschen zurückgehen. Man hat ja einen großen Sieg errungen damals, Januar, Februar 2011, wo ich dabei war.
Führer: Als Mubarak zurückgetreten ist.
Gohary: Ja, als Mubarak zurückgetreten ist. Dann hat das Land ein Militärrat übernommen, das heißt, dieselben Menschen, die heute das Land wieder innehaben, mit wechselnden Köpfen, und sie haben kein einziges Fettnäpfchen hinterlassen, wo sie nicht reingetreten sind. Und sie haben dann Wahlen abhalten lassen, faire Wahlen, demokratische Wahlen, und da ist ein Präsident anderer politischer Couleur daraus geworden. Also er hat einen desolaten Zustand übernommen, einen desolates Land übernommen. Und dann hat dieser Präsident und seine Muslimbrüder wiederum keinen einzigen politischen Fehler ausgelassen. Das ist also die politische Dummheit der Muslimbruderschaft.
So, und jetzt reagiert die andere Front hysterisch. Ich habe eine Metapher einmal verwendet, ich sagte: Zwei fahrende Züge, die aufeinander fahren, der eine vertritt die politische Dummheit, sagen wir, die Muslimbruderschaft, und der andere den Rest, Militär plus Liberale und so weiter, das ist die politische Verrücktheit. Und da ist kein Platz für Vernunft – momentan nicht. Ich vertraue aber auf die Sache, dass irgendwann, wenn beide merken, dass es so nicht geht, werden sie wieder Ruhe geben und irgendwie an den Verhandlungstisch kommen. Aber ein Preis …
Führer: Entschuldigen Sie, Herr Gohary, ich muss trotzdem noch mal kurz dazwischen fragen, noch mal kurz sagen, dass ich hier mit Magdi Gohary hier im Deutschlandradio Kultur über Ägypten spreche – trotzdem frage ich mich: Woher rührt dieser Hass und diese offensichtlich überhaupt nicht vorhandene Bereitschaft, irgendeinen Kompromiss einzugehen? Da denkt man ja, das kann doch nicht in den vergangenen zwei Jahren entstanden sein, das muss doch tiefere Ursachen haben. Die Spaltung in Ägypten geht doch sogar so weit, dass manche gebildeten Stände, sage ich mal, jetzt fordern, das Wahlrecht müsse an den Bildungsstand geknöpft werden.
Gohary: Ja, ja. Das ist schlimm genug, ja.
Führer: Das hat doch mit Demokratie alles nichts zu tun.
Gohary: Ja, man sollte vielleicht wissen, dass die Muslimbruderschaft und der politische Islam natürlich unter Mubarak unterdrückt worden war. Das heißt, sie hatten hier einen Bonus bei der Bevölkerung gehabt. Jetzt sind sie an der Macht, und jetzt, jetzt passiert etwas: Das Bürgertum, woher die meisten Liberalen herkommen – ich stamme ja selber aus diesem Kreis –, sie haben ja große Schwierigkeiten mit den sogenannten Zurückgebliebenen und Ungebildeten. Das Gros der Menschen, die die Muslimbruderschaft wählen, kommen vom Land, sind einfache Menschen, sind fromme Menschen, und sie haben mit diesem Bürgertum in der Stadt, in den Clubs mit den modernen Handys, modernen Autos und Shopping in Europa nichts zu tun, das sind zwei Welten.
Und jetzt kommt das, was Sie vorhin angedeutet haben, dass sogar einer der besten Intellektuellen des Landes, Ala al-Aswani vor allem, mehrere Male gesagt hat: Man darf ein Wahlrecht diesen Menschen nicht geben. Das ist für jemand wie mich, der jahrzehntelang Anti-Apartheid betrieben hat und wo man das Prinzip One Man, One Vote auf die Fahne gehoben hat, unglaublich. Aber das ist so in vielen Ländern der Dritten Welt, dass man sagt, wir sind die Leistungsträger, und die anderen sind Nutznießer, sind ungebildet, und deshalb, wie können wir in die gleiche Urne unseren Stimmzettel hineinwerfen. Das ist eine Diskrepanz, die man in Europa nicht kennt. Kein Mensch, weder Günter Grass noch Martin Walser noch Günter Wallraff würde jemals sagen, "Bild"-Zeitungsleser dürfen nicht wählen, weil sie seiner Meinung nach nicht alles kapieren oder alles verstehen.
Führer: Herr Gohary, kurz zum Schluss, welchen Ausblick wagen Sie? Manche sagen ja, das Militär sitzt jetzt wieder so fest im Sattel wie zu Zeiten Mubaraks, im Grunde genommen sind wir jetzt wieder zwei Jahre zurück, nur ohne Mubarak.
Gohary: Also das Militär sitzt überhaupt nicht fest im Sattel, das Militär befindet sich in einer Misere, das Land ist in einer Sackgasse, das Land ist noch nie so isoliert wie heute, der Sicherheitsrat … alle ägyptischen Botschafter in den EU-Ländern wurden zurück …
Führer: … einbestellt, ja.
Gohary: … wurden einbestellt, und, und, und, und. Das ist … die reagieren sehr hysterisch, weil sie so was nicht erlebt haben. Sie haben gemeint, am 30. Juli gehen ein paar Millionen Menschen auf die Straße und die Sache hat sich. Es bildet sich aber ein Widerstand.
Ich glaube aber, dass die Völker, und da bin ich jetzt etwas metaphysisch, über etwas verfügen, dass Katastrophen, große Katastrophen vermeidet, nämlich ein Korrektiv. Und ich glaube, dass die Ägypter werden dazu kommen, dieses Korrektiv anzuwenden. Es müssen vernünftige Menschen dazwischen kommen, die sagen: Moment mal, so viel Blut darf nicht fließen, Demokratie hat bestimmte Regeln, das müsst ihr alles üben, und, und, und, und. Ich glaube, dass auch eine Eigenschaft, die die Ägypter sich angeeignet haben während dieser Situation, seit Januar, Februar 2011, nämlich keine Angst zu haben, dass das ein Positivum darstellt. Die Menschen haben wirklich keine Angst, auch die Muslimbrüder und ihre Anhänger haben keine Angst vor den Panzern, das ist ja erstaunlich.
Führer: Ja, und keine Angst vor dem Tod.
Gohary: Keine Angst vor dem Tod. Das heißt, mit dieser Basis kann ich auch Demokratie schaffen, dass die Menschen sagen, ich bin mündig, niemand darf über mich so herrschen, despotisch herrschen.
Führer: Oder ich kann auch bis ans Ende gehen.
Gohary: Ich kann bis zum Ende gehen, und das ist das Problem, da wir nicht in Osttimor leben, sondern in Ägypten, darum geht es jetzt – Ägypten hat seine zentrale Bedeutung. Senator Graham hat es ja gesagt: Ihr habt eine erstrangige strategische Bedeutung in dieser Region, zwölf Prozent des Welthandels geht über den Sueskanal, das heißt, Ägypten gehört nicht nur euch, das heißt, hier und da spiele ich sogar ein Szenario, oder fürchte ich, befürchte ich ein Szenario, denn ich kenne mich ein bisschen aus, ich weiß, dass die NATO-Doktrin sagt, Sicherung der wirtschaftlichen Ressourcen und der Transportwege. Also wenn die Städte am Sueskanal – Ismailia, Port Said und Sues – abrennen, dann wird interveniert, das ist einfach eine NATO-Doktrin, und dann …
Führer: Herr Gohary, wir haben leider keine Zeit mehr, dieses große Problem auch noch zu besprechen. Ich danke Ihnen herzlich, dass Sie sich die Zeit für uns genommen haben, …
Gohary: Vielen Dank auch!
Führer: … und wünsche Ihnen alles Gute, und Ihrer Familie in Ägypten natürlich auch!
Gohary: Ja, danke, und das Land vor allen Dingen!
Führer: Und dem Land auch! Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Magdi Gohary: Ja, Grüß Gott, Frau Führer!
Führer: Ja, damals die Tage auf dem Tahrir-Platz, das haben Sie hier bei uns im Programm gesagt, das waren die schönsten Ihres Lebens. Revolutionen haben ja immer etwas Berauschendes für diejenigen, die dabei sind, und dass dieser Rausch nicht ewig anhalten kann, das ist auch klar. Aber jetzt scheint Ägypten ja am Rande eines Bürgerkriegs zu stehen. Heute gab es wieder Tote – wie erklären Sie sich das?
Gohary: Also ich glaube, dass Ägypten sich sogar im Bürgerkrieg befindet.
Führer: Schon befindet?
Gohary: Man versucht ja immer, sich diesen Begriff Bürgerkrieg zu umschiffen, aber es ist ein Bürgerkrieg, da machen wir uns nichts vor. Genau so, wie man versucht, auch in den Medien den Begriff Militärputsch zu umschiffen. Es ist ein Militärputsch, wie McCain vor einer Woche in Kairo gesagt hat, der republikanische Senator: Wenn ein Gegenstand wie eine Ente aussieht und sich verhält wie eine Ente, ist es eine Ente. So hat man den Begriff Militärputsch …
Führer: Sie meinen jetzt, die Absetzung Mursis war ein Militärputsch?
Gohary: Ja, natürlich, ja. Das ist generalstabsmäßig, und zwar wortwörtlich generalstabsmäßig durchgeführt worden. Das heißt, Militärs haben die Durchführung übernommen. Und wir wissen ja, dass Militärs können Kriege führen, können Schlachten gewinnen oder verlieren, aber Politik sollen sie einfach ihre Hand nicht im Spiel haben.
Und sogar Sir Winston Churchill hat einmal gesagt: Nicht einmal Krieg sollte man ihnen überlassen. Er sagte: Der Krieg ist eine viel zu ernste Angelegenheit, als dass man sie dem Militär überlässt. Das heißt, dieses ägyptische Militär, das jetzt die Sache in der Hand hat, und zwar ein Teil des Militärs – ich habe ja sogar Sympathien für das ägyptische Militär, noch empfinde ich das –, das hat zwar eine traditionsreiche Geschichte, ist eine national gesinnte Armee, es war nie eine Unterdrückungsarmee, es war nie eine interventionistische Armee. Trotz alledem haben wir es mit Militärdiktatur, Militärherrschaft zu tun.
Führer: Aber Herr Gohary, noch mal zu dem Punkt. Das Militär hat Mursi abgesetzt, und viele Millionen Ägypter haben das bejubelt – die Mursi-Anhänger natürlich nicht. Am Mittwoch wurden deren Lager geräumt, dabei sind Hunderte von ihnen getötet worden. Ihr Sohn lebt in Kairo, sie telefonieren täglich mit ihm. Was hören Sie denn von ihm über die Menschen in Ägypten heute, wie ist denn die Gefühlslage? Gibt es da Angst, Wut, Hass?
Gohary: Ja, ich würde sagen, also eher Angst, Wut und Verzweiflung. Also das Land ist zutiefst gespalten in zwei Lager. Wenn ich sage, das Land ist zutiefst gespalten in zwei Lager, dann gibt es ja immer ein drittes Lager, das zuschauen würde, das ist wahrscheinlich sogar die Mehrheit. Also die Akteure sind ja nicht, machen ja nicht 90 Prozent der Bevölkerung aus. Diese zwei Lager sind ja, die verändern sich täglich. Also deshalb, als es bei Ihnen jetzt in den Nachrichten war, hieß es: Mursi-Anhänger und das Militär. Das würde ich so nicht mehr nennen. Es gibt jetzt Legalitätsbefürworter, die werden immer mehr, das heißt, die Sache zu reduzieren auf Mursi-Anhänger und sozusagen die anderen, den Rest der Welt, das ist nicht gerecht.
Dieser Hass, diese Unversöhnlichkeit, dieses nicht Miteinander-Sprechen-Können, das dazu geführt hat sogar, dass alle Vermittlungsversuche, sei es arabisch, sei es amerikanisch, sei es deutsch, sei es französisch, gescheitert sind. Das ist eine schlimme Situation für das Land, das ist … - da gibt es mehr Fragen als Antworten drauf. Ich kann Ihnen nicht diese Frage so beantworten mit a, b, c, sondern da muss man ein bisschen zurückgehen. Man hat ja einen großen Sieg errungen damals, Januar, Februar 2011, wo ich dabei war.
Führer: Als Mubarak zurückgetreten ist.
Gohary: Ja, als Mubarak zurückgetreten ist. Dann hat das Land ein Militärrat übernommen, das heißt, dieselben Menschen, die heute das Land wieder innehaben, mit wechselnden Köpfen, und sie haben kein einziges Fettnäpfchen hinterlassen, wo sie nicht reingetreten sind. Und sie haben dann Wahlen abhalten lassen, faire Wahlen, demokratische Wahlen, und da ist ein Präsident anderer politischer Couleur daraus geworden. Also er hat einen desolaten Zustand übernommen, einen desolates Land übernommen. Und dann hat dieser Präsident und seine Muslimbrüder wiederum keinen einzigen politischen Fehler ausgelassen. Das ist also die politische Dummheit der Muslimbruderschaft.
So, und jetzt reagiert die andere Front hysterisch. Ich habe eine Metapher einmal verwendet, ich sagte: Zwei fahrende Züge, die aufeinander fahren, der eine vertritt die politische Dummheit, sagen wir, die Muslimbruderschaft, und der andere den Rest, Militär plus Liberale und so weiter, das ist die politische Verrücktheit. Und da ist kein Platz für Vernunft – momentan nicht. Ich vertraue aber auf die Sache, dass irgendwann, wenn beide merken, dass es so nicht geht, werden sie wieder Ruhe geben und irgendwie an den Verhandlungstisch kommen. Aber ein Preis …
Führer: Entschuldigen Sie, Herr Gohary, ich muss trotzdem noch mal kurz dazwischen fragen, noch mal kurz sagen, dass ich hier mit Magdi Gohary hier im Deutschlandradio Kultur über Ägypten spreche – trotzdem frage ich mich: Woher rührt dieser Hass und diese offensichtlich überhaupt nicht vorhandene Bereitschaft, irgendeinen Kompromiss einzugehen? Da denkt man ja, das kann doch nicht in den vergangenen zwei Jahren entstanden sein, das muss doch tiefere Ursachen haben. Die Spaltung in Ägypten geht doch sogar so weit, dass manche gebildeten Stände, sage ich mal, jetzt fordern, das Wahlrecht müsse an den Bildungsstand geknöpft werden.
Gohary: Ja, ja. Das ist schlimm genug, ja.
Führer: Das hat doch mit Demokratie alles nichts zu tun.
Gohary: Ja, man sollte vielleicht wissen, dass die Muslimbruderschaft und der politische Islam natürlich unter Mubarak unterdrückt worden war. Das heißt, sie hatten hier einen Bonus bei der Bevölkerung gehabt. Jetzt sind sie an der Macht, und jetzt, jetzt passiert etwas: Das Bürgertum, woher die meisten Liberalen herkommen – ich stamme ja selber aus diesem Kreis –, sie haben ja große Schwierigkeiten mit den sogenannten Zurückgebliebenen und Ungebildeten. Das Gros der Menschen, die die Muslimbruderschaft wählen, kommen vom Land, sind einfache Menschen, sind fromme Menschen, und sie haben mit diesem Bürgertum in der Stadt, in den Clubs mit den modernen Handys, modernen Autos und Shopping in Europa nichts zu tun, das sind zwei Welten.
Und jetzt kommt das, was Sie vorhin angedeutet haben, dass sogar einer der besten Intellektuellen des Landes, Ala al-Aswani vor allem, mehrere Male gesagt hat: Man darf ein Wahlrecht diesen Menschen nicht geben. Das ist für jemand wie mich, der jahrzehntelang Anti-Apartheid betrieben hat und wo man das Prinzip One Man, One Vote auf die Fahne gehoben hat, unglaublich. Aber das ist so in vielen Ländern der Dritten Welt, dass man sagt, wir sind die Leistungsträger, und die anderen sind Nutznießer, sind ungebildet, und deshalb, wie können wir in die gleiche Urne unseren Stimmzettel hineinwerfen. Das ist eine Diskrepanz, die man in Europa nicht kennt. Kein Mensch, weder Günter Grass noch Martin Walser noch Günter Wallraff würde jemals sagen, "Bild"-Zeitungsleser dürfen nicht wählen, weil sie seiner Meinung nach nicht alles kapieren oder alles verstehen.
Führer: Herr Gohary, kurz zum Schluss, welchen Ausblick wagen Sie? Manche sagen ja, das Militär sitzt jetzt wieder so fest im Sattel wie zu Zeiten Mubaraks, im Grunde genommen sind wir jetzt wieder zwei Jahre zurück, nur ohne Mubarak.
Gohary: Also das Militär sitzt überhaupt nicht fest im Sattel, das Militär befindet sich in einer Misere, das Land ist in einer Sackgasse, das Land ist noch nie so isoliert wie heute, der Sicherheitsrat … alle ägyptischen Botschafter in den EU-Ländern wurden zurück …
Führer: … einbestellt, ja.
Gohary: … wurden einbestellt, und, und, und, und. Das ist … die reagieren sehr hysterisch, weil sie so was nicht erlebt haben. Sie haben gemeint, am 30. Juli gehen ein paar Millionen Menschen auf die Straße und die Sache hat sich. Es bildet sich aber ein Widerstand.
Ich glaube aber, dass die Völker, und da bin ich jetzt etwas metaphysisch, über etwas verfügen, dass Katastrophen, große Katastrophen vermeidet, nämlich ein Korrektiv. Und ich glaube, dass die Ägypter werden dazu kommen, dieses Korrektiv anzuwenden. Es müssen vernünftige Menschen dazwischen kommen, die sagen: Moment mal, so viel Blut darf nicht fließen, Demokratie hat bestimmte Regeln, das müsst ihr alles üben, und, und, und, und. Ich glaube, dass auch eine Eigenschaft, die die Ägypter sich angeeignet haben während dieser Situation, seit Januar, Februar 2011, nämlich keine Angst zu haben, dass das ein Positivum darstellt. Die Menschen haben wirklich keine Angst, auch die Muslimbrüder und ihre Anhänger haben keine Angst vor den Panzern, das ist ja erstaunlich.
Führer: Ja, und keine Angst vor dem Tod.
Gohary: Keine Angst vor dem Tod. Das heißt, mit dieser Basis kann ich auch Demokratie schaffen, dass die Menschen sagen, ich bin mündig, niemand darf über mich so herrschen, despotisch herrschen.
Führer: Oder ich kann auch bis ans Ende gehen.
Gohary: Ich kann bis zum Ende gehen, und das ist das Problem, da wir nicht in Osttimor leben, sondern in Ägypten, darum geht es jetzt – Ägypten hat seine zentrale Bedeutung. Senator Graham hat es ja gesagt: Ihr habt eine erstrangige strategische Bedeutung in dieser Region, zwölf Prozent des Welthandels geht über den Sueskanal, das heißt, Ägypten gehört nicht nur euch, das heißt, hier und da spiele ich sogar ein Szenario, oder fürchte ich, befürchte ich ein Szenario, denn ich kenne mich ein bisschen aus, ich weiß, dass die NATO-Doktrin sagt, Sicherung der wirtschaftlichen Ressourcen und der Transportwege. Also wenn die Städte am Sueskanal – Ismailia, Port Said und Sues – abrennen, dann wird interveniert, das ist einfach eine NATO-Doktrin, und dann …
Führer: Herr Gohary, wir haben leider keine Zeit mehr, dieses große Problem auch noch zu besprechen. Ich danke Ihnen herzlich, dass Sie sich die Zeit für uns genommen haben, …
Gohary: Vielen Dank auch!
Führer: … und wünsche Ihnen alles Gute, und Ihrer Familie in Ägypten natürlich auch!
Gohary: Ja, danke, und das Land vor allen Dingen!
Führer: Und dem Land auch! Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.