"Ich glaube an das Potential, das in jedem einzelnen Menschen steckt"

Moderation: Dieter Kassel |
Der Tänzer und Choreograph Royston Maldoom erarbeitet mit Jugendlichen Bühnenchoreographien zu berühmter klassischer Musik. Dokumentiert wurde Maldooms Arbeit in dem Film "Rhythm is it", das ein Projekt mit den Berliner Philharmonikern zeigt. Maldoom ist überzeugt vom Potential der jungen Leute, warnt aber davor, den Tanz als Allheilmittel für die Defizite im Bildungswesen anzusehen.
Kassel: Royston Maldoom ist Engländer, er ist Tänzer und Choreograph und ist in Deutschland bekannt geworden durch den Kinofilm "Rhythm is it". Da ist zu sehen, wie er mit Jugendlichen, die vorher wenig mit Musik und gar nichts mit klassischer Musik zu tun hatten, Tänze einstudiert für - in dem Fall - eine Aufführung der "Sacre du Printemps". Er arbeitet sei insgesamt 30 Jahren zusammen mit Jugendlichen, die viele Menschen am liebsten nirgendwo sehen würden und schon gar nicht auf einer Bühne zusammen mit den Berliner Philharmonikern. Genau mit denen hat er jetzt aber schon das vierte so genannte education project entwickelt. Diesmal wird es eine Aufführung der "Carmina Burana" sein, die Ende der Woche in Berlin Premiere hat.

Ich habe mich vor der Sendung mit Royston Maldoom unterhalten, und ihn gefragt, ob es eigentlich auch für ihn Jugendliche gibt, vor denen er regelrecht Angst hat und die er am liebsten nicht in seinen Projekten hätte.

Maldoom: Tja, ich habe vor den meisten Angst, ich habe mich aber an sie gewöhnt. Ich würde schon sagen, meine Projekte richten sich an alle die, die sie brauchen, und ich möchte eigentlich niemanden ausschließen.

Kassel: Wie merkt man denn, dass man eines Ihrer Projekte braucht?

Maldoom: Na ja, es gibt viele, die wollen das, die machen sich aktiv auf die Suche nach einem solchen Projekt. Sehr oft sind es aber auch die Lehrer, Eltern oder irgendwelche Organisationen, die sich an mich wenden und die dann sagen, dieser junge Mensch braucht das. Ich halte aber nie irgendwelches Vortanzen ab, sondern ich sage den Leuten stets, bringt die Leute zu mir, ich mache dann die Entscheidungen auf Grund des Bedarfs, nicht auf Grund von Fähigkeiten, die die Leute mitbringen.

Kassel: Seit dem Film "Rhythm is it" sind Sie vor allem in Deutschland ein sehr berühmter Mensch. Menschen vergessen auch gerne, dass Sie ungefähr das, was Sie damals auch gemacht haben, seit 30 Jahren überall auf der Welt machen, viele sagen, ein neuer Mensch, und Sie sind inzwischen sehr beliebt in Schulen, bei Lehrern, bei Bildungspolitikern, und die Leute wollen eigentlich nicht mehr, dass Sie tanzen, dass Sie Musik machen, sondern dass Sie die deutschen Schulen reformieren. Ist Ihnen das angenehm oder ist das inzwischen eine Art Fluch?

Maldoom: Ja, das ist zweifellos richtig, dass die Leute mich jetzt so wahrnehmen. Wie Sie richtig gesagt haben, mache ich das auch schon seit Jahren, aber eines muss ich gleich zu Beginn klarstellen, um Ihre Fragen von hinten her aufzurollen: Der Tanz ist nicht das Alleinige, kann nicht die Rettung für das sein, was im Bildungswesen schief läuft, das gilt für Tanz, für Kultur ganz allgemein. Unsere heilsame Wirkung auf das Bildungswesen oder auch auf einzelne Menschen, die ich ja gar nicht abstreite, ist mehr oder minder ein Nebenerzeugnis unserer Arbeit.

Ich bin Tänzer, und ich habe das schon viele Jahre so gemacht. Meine Freunde haben mich in Großbritannien gefragt, als sie den Film sahen: Hey, was ist da eigentlich so Besonderes daran, was ist da Neues dran, dieses Herumschreien und das Stampfen, das hast du doch immer schon gemacht. Also dieser neue Status, den ich da erreicht habe, war ganz und gar durch die Medien ausgelöst - eine sehr merkwürdige Erfahrung für mich. Ich habe es ja nie darauf angelegt, irgendwie als Star herauszukommen. Ich sehe mich als Künstler für die Gemeinschaft, als Community Artist. Ich musste mich erst allmählich an diesen neuen Status einer Berühmtheit gewöhnen.

Ich glaube ja, dass unser Hauptzweck als Künstler in dieser Gemeinschaft nicht die Bildung ist. Das ist nur ein Teil unserer Anstrengungen, die wir auf die Schule richten, und wir müssen auch berücksichtigen, dass die Kinder vielleicht maximal sechs Stunden und fünf Tage die Woche in der Schule verbringen, und dort haben sie vielleicht nicht so viele Schwierigkeiten. Die Hauptschwierigkeiten treten außerhalb der Schule auf, und dort müsste man eigentlich ansetzen.

Kassel: Ich habe natürlich auch den Film unter anderem gesehen, "Rhythm is it", und was ich da interessant fand, Sie sind natürlich auch Lehrer, sind zumindest Tanzlehrer, aber was ich interessant fand, dass Sie mit den Jugendlichen ja nicht einfach etwas einstudieren und sagen, stell dich da hin, beweg dich nach links, nach rechts, sondern so lange das Projekt dauert, war mein Eindruck, leben Sie ja mit ihnen, Sie bauen Beziehungen zu ihnen auf. Kann man denn trotzdem aus der Art, wie Sie auf einer Bühne, in einem Probesaal mit jungen Menschen aller Arten umgehen, etwas lernen für die Schule?

Maldoom: Ja, ich denke, das Wichtigste ist, dass man den jungen Leuten zeigt, dass man sie nicht zu irgendetwas erzieht, sondern dass man in diesem Lernprozess etwas mit ihnen teilt, eine Leidenschaft, eine Hingabe, dass man mit ihnen bereit ist, mitzugehen, dass man mit ihnen kommuniziert. Ich hoffe, dass durch meine Arbeit auch so etwas von der Ethik, von der Philosophie durchdringt, die dahinter steckt. Was in meinen Augen ganz wichtig ist, ist: Ich habe einen unerschütterlichen Glauben an das Potential, das in jedem einzelnen Menschen steckt, auch wenn man selbst davon nicht überzeugt ist, wird mir das doch immer klarer.

Ich bin ja jetzt schon etwas älter, ich habe in vielen Situationen gearbeitet, und es ist meine Überzeugung, dass in jedem Menschen etwas Außergewöhnliches steckt, etwas, vor dem man keine Angst haben sollte, das irgendwie schon herauskommen wird, und ich versuche ihnen zweitens zu zeigen, dass ich selbst auch als Künstler Teil dieses ganzen Prozesses bin. Ich kann ja von den jungen Leuten nicht erwarten, dass sie sich aussetzen, dass sie sich verletzbar machen und Risiken eingehen, wenn ich selbst nicht mich auch als verletzlich und risikofreudig zeige. Ich gehe als Künstler diese Risiken ein, und ich hoffe, dass ich dadurch auch die anderen bewegen kann, dasselbe zu machen.


Kassel: Nun gibt es eine Menge Menschen, die ihr großes Potential nutzen. Es gibt eine Menge Dirigenten, Musiker, Tänzer, Menschen im Bereich, bleiben wir dabei jetzt, der klassischen Musik, die genau das, was Sie tun, nicht tun. Das ist dieser geschlossene Kreis, den man da aufzieht, das sind Menschen, die gut bezahlt werden, meistens auch aus Steuergeldern, und die eine Kunst machen für, na ja, so die obere Mittelklasse, und dieser Zirkel ist geschlossen. Es wird ein bisschen darüber gejammert, dass immer weniger Menschen sich dafür interessieren, aber es funktioniert ja. Sind das Leute, denen Sie das übel nehmen, gibt es eine Art Pflicht eines Künstlers, mehr zu tun als einfach nur auf der Bühne perfekte Musik oder perfekten Tanz zu machen?

Maldoom: Na ja, ich würde nicht sagen, dass die Künstler die Verpflichtung haben, hinauszugehen, aber ich finde es merkwürdig, dass man als Künstler nicht mindestens den Wunsch verspürt, so etwas zu versuchen, etwas zu teilen, denn, wenn man etwas wirklich liebt, dann möchte man es doch nicht für sich behalten, sondern man möchte es mit anderen teilen, also nicht bloß zeigen, sondern teilen. Ich glaube, viele Künstler begnügen sich damit, etwas einfach nur vorzuführen, anstatt es wirklich mitzuteilen. Es macht natürlich Angst, wenn man das versucht. Es wird von dem Publikum normalerweise nicht erwartet. Viele denken nicht daran. Ich meine halt, es gibt nicht die Verpflichtung, aber mindestens sollte man sich als Künstler die Frage vorlegen, ob man das nicht machen sollte.

Andernfalls beschränkt man sich eben doch auf das recht kleine Tanzpublikum, das in unsere Vorstellungen wieder und wieder kommt. Man muss sich fragen, ist man damit zufrieden, genügt einem das, und man muss sich auch fragen, wer ist eigentlich das Publikum der Zukunft, wer wird in 50 oder 60 Jahren unsere Vorstellungen besuchen, und mehr noch, wer sind diejenigen, die aus Liebe zum Tanz dann die Produktionen auf die Beine stellen werden.

Auch hat sich ja unser ganzes Umfeld sehr verändert. Die ethnische Vielfalt ist größer geworden. Nehmen wir Deutschland zum Beispiel, da sehen wir doch jetzt eine viel größere Vielfalt an ethnischen Hintergründen, und viele dieser Randgruppen, wie man so sagt, werden in der Tat nach außen gedrängt. Man beraubt sich eines großen Erfahrungspotentials, wenn man diese Menschen mit all ihren Erfahrungen nicht einbezieht. Wir brauchen diese anderen Menschen, wir brauchen diese anderen Stimmen, und wenn wir das versäumen, sie einzubeziehen, dann, ich argumentiere jetzt ganz egoistisch, dann berauben wir unsere Kunst von einer ganzen Fülle von Möglichkeiten.

Kassel: Wir können natürlich dieses Gespräch nicht beenden, Herr Maldoom, ohne über das neue Projekt nun wirklich auch zu sprechen. Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, dass die meisten Menschen in Deutschland die "Carmina Burana" aus dem Werbefernsehen kennen. Da gab es vor ein paar Jahre gleich zwei Spots, einer für ein Auto, einer für Schokolade, und daraufhin wurden die Läden leer gekauft mit den Carmina-Burana-CDs. Ich glaube aber, die Leute, die es aus dem Werbefernsehen kennen, können sich wirklich nicht vorstellen, wie man dazu tanzt. Was erwartet uns denn in Ihrer Carmina Burana?

Maldoom: Tja, das Erste, was mir dazu einfällt, ist, dass diese beiden Firmen doch bitteschön ihr Geld mir auch zur Verfügung stellen sollen und dass ich vielleicht von dem Profit davon auch etwas abbekomme, aber Spaß beiseite, das ist ja doch ein sehr viel älteres Stück. Ich selbst habe mit Carmina Burana zum ersten Mal bereits im Jahr 1989 eine Aufführung vorgelegt, dann auch mit etwa 100 jungen Leuten im Jahr 1989/90 im Rahmen eines Projekts des deutsch-britischen Jugendaustausches, und etwa zur selben Zeit auch in Duisburg.

Das Thema ist hier das Schicksal, das Glück mit all seinen Fährnissen und Wechselfällen, und mein Thema ist, wie schaffen wir es, das widrige Glück, das Unglück, das über uns kommt, irgendwie abzumildern, wie schaffen wir es, trotz aller Schwierigkeiten, trotz aller Klippen, die uns in den Weg gestellt werden, Glück zu erleben. Und mein großes Thema dabei ist Liebe, Liebe in allen ihren Spielarten, vom ganz Banalen und Alltäglichen, Stereotypen angefangen bis hin zu einer endgültigen Lösung, die vielleicht so etwas sein könnte wie universelle Liebe, die dann die einzige Waffe ist, die wir in der Hand haben, um das Übel in der Welt zu bekämpfen. Ich versuche also die ganze lange Geschichte der Carmina Burana zu erzählen, hoffentlich auf eine Weise, die für die Betrachter nicht allzu langweilig ist.