"Ich gebe die Verfassung noch nicht verloren"

Moderation: Hanns Ostermann |
Der Europaabgeordnete und ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments, Klaus Hänsch, SPD, rechnet weiterhin mit einer Einigung auf die EU-Verfassung. Er gebe die Verfassung noch nicht verloren, sagte Hänsch mit Blick auf den EU-Gipfel am Donnerstag in Brüssel. Es werde, falls es zu einem Ergebnis komme, aber weniger als das Europäische Parlament und der EU-Konvent ursprünglich wollten, betonte er.
Hanns Ostermann: Es ist ein ganz besonders dickes Brett, das Angela Merkel derzeit zu durchbohren versucht. In 14 Tagen endet die deutsche EU-Ratspräsidentschaft, und die Kanzlerin will nichts unversucht lassen, in der Verfassungsfrage weiterzukommen. Die liegt seit zwei Jahren nach dem Nein der Franzosen und Niederländer auf Eis.

Sechs Monate lang wurde fieberhaft daran gearbeitet, wenigstens die wesentliche Substanz der Verfassung zu retten, aber gelingt das auf dem EU-Gipfel Mitte der Woche? Ein Scheitern der Verfassung wäre der Rückfall in ein Europa der Ränke und Rankünen, das meinte vor zweieinhalb Jahren der frühere Präsident des Europäischen Parlaments Klaus Hänsch von der SPD. Mit ihm sind wir jetzt im Deutschlandradio Kultur verbunden. Guten Morgen, Herr Hänsch.

Klaus Hänsch: Guten Morgen, Herr Ostermann.

Ostermann: Sie haben an entscheidenden Stellen die Verfassung mit geschrieben. Was bleibt übrig von dem, was Sie und andere damals entwickelt haben?

Hänsch: Es wird übrig bleiben, wenn es überhaupt zu einem Ergebnis kommt, und es kann auch übrig bleiben die Substanz dessen, was wir vor vier Jahren aufgeschrieben haben, was übrigens 27 Regierungschefs unterzeichnet haben. Ich bin immer noch zuversichtlich, dass es gelingen kann, die Substanz des Verfassungsvertrages, das heißt die Vorschläge über neue Entscheidungsverfahren und über neue Institutionen, verbesserte Institutionen, größere Handlungsfähigkeit und breitere demokratische Grundlage zu erhalten.

Ostermann: Wir brauchen eine klare Abgrenzung der Kompetenzen zwischen Brüssel und den 27 Mitgliedstaaten, das ist klar, denn sonst ist das Projekt uns Bürgern auch nicht vermittelbar. Aber ist ausreichend geklärt, wo die Gemeinschaft Aufgaben besser gerecht wird und wo nicht?

Hänsch: Ich glaube, dass das ausreichend und deutlich geklärt wird. Es kann in dem einen oder anderen Punkt, was die Kompetenzübertragungen betrifft, noch Feinabstimmungen geben. Vielleicht kann man den einen oder anderen Punkt zum Beispiel bei Tourismus oder anderen Fragen auch ein Stück zurücknehmen. Aber klar ist auch, dass die Europäische Union in zwei großen neuen und wichtigen Fragen stärker als bisher gemeinsam handeln muss. Das ist einmal die Bewältigung des Klimawandels und das ist zweitens eine größere Solidarität in der Energieversorgung der Europäischen Union.

Ostermann: Das sind ja auch Dinge, mit denen man Polen ködern will, denn Polen wehrt sich mit Händen und Füßen gegen den Abstimmungsmodus. Kleinere Staaten würden benachteiligt, so sagt Warschau. Wir lernen plötzlich, was eine Quadratwurzel ist. Ein Land pocht also vehement auf seine Interessen. Wie hoch ist da der Preis?

Hänsch: Natürlich blicken alle irgendwo auf ihre Interessen, ja übrigens auch Deutschland. Aber in dieser Frage sehe ich Polen völlig isoliert. Es hat bisher keinen Mitgliedstaat gegeben, der an der Substanz, an dem Gleichgewicht der Institutionen und an den Entscheidungsverfahren einschließlich der Stimmengewichtung im Ministerrat etwas ändern will. Da ist Polen allein mit einer schwachen Unterstützung durch Tschechien. Ich gehe davon aus, dass es der Bundeskanzlerin gelingt, deutlich zu machen, dass die Polen an dieser Frage die ganze Sache, übrigens die ganze Europäische Union, nicht scheitern lassen können und auch nicht scheitern lassen werden.

Ostermann: Aber nehmen wir mal an, Warschau bliebe bei seiner harten Ablehnung, bei seiner harten Haltung, was bedeutete das?

Hänsch: Zunächst mal geht es ja nur darum, der Regierungskonferenz, die im Herbst zusammentreten will, ein möglichst genaues, möglichst präzises und umfassendes Mandat zu erteilen. Dazu gehört übrigens nicht dazu, dass die Substanz des Verfassungsvertrages neu verhandelt wird. Also wird man sehen müssen, ob Polen in der Regierungskonferenz diese Frage noch einmal aufwirft. Verhindern kann Polen die Regierungskonferenz nicht. Die Entscheidung darüber wird mit Mehrheit getroffen. Und die Einberufung ist eine Sache der künftigen Ratspräsidentschaft, das heißt also Portugals.

Ostermann: Aber warum wäre nicht möglicherweise auch, das wird ja immer wieder diskutiert, ein Europa der zwei Geschwindigkeiten durchaus eine Chance, so wie es knapp vor 50 Jahren Frankreich und Deutschland vorgemacht haben?

Hänsch: Ich denke, wir haben alle ein Interesse daran, dass es zu einer Einigung zwischen 27 kommt, also unter Einschluss Polens. Allerdings ist eines klar, und das muss auch den Polen klar sein: Wenn es nicht gelingt, wenn es am Ende 26 oder 25 gegen 1 oder 2 steht und dadurch eine umfassende Reform der Europäischen Union, wie es im Verfassungsvertrag vorgesehen ist, scheitert, dann gehe ich davon aus, dass sich die großen Probleme der Union ihre Lösung in einer kleineren Union suchen werden.

Ostermann: Scharfer Gegenwind kommt ja auch aus Großbritannien. Warum will man dort nicht die Grundrechte-Charta zum Beispiel akzeptieren? Warum gehört die nicht in die Verfassung, sondern in ein zusätzliches Papier?

Hänsch: Das hat etwas mit dem britischen Rechtssystem zu tun, das ja nicht wie das römische Recht behandelt wird, sondern ein Fallrecht ist, aus Tradition. Die Briten haben Schwierigkeiten, das zu verstehen. Wir verstehen allerdings auch nicht, dass die Briten mit den Sicherungen, die wir schon im Verfassungsvertrag eingebaut haben, dass die Grundrechte-Charta gilt für nur die Fragen, die das Rechtssystem der Europäischen Union, die Rechtssetzung der Europäischen Union betreffen und nicht die innerstaatliche Rechtssetzung, dass sie das nicht verstehen. Ich gehe mal davon aus, dass es möglich ist, sie zu überzeugen, die Grundrechte-Charta aus dem Vertrag herauszunehmen, aber durch einen Sonderartikel darauf hinzuweisen, dass sie für die Mitgliedstaaten und die Anwendung des EU-Rechts, darum geht es ja, gilt.

Ostermann: Herr Hänsch, ich habe Sie richtig verstanden, Sie geben also die Europäische Union und die Verfassung noch nicht verloren, Sie sind durchaus optimistisch, dass Angela Merkel jetzt Mitte der Woche noch der Wurf gelingt, den Zeitplan nämlich vorzugeben.

Hänsch: Ich gebe sie nicht verloren, aber ich bin mir klar darüber, dass wenn es ein Ergebnis gibt, das weniger sein wird als das Europäische Parlament und der EU-Konvent es wollte, aber dennoch kann das die Europäische Union voranbringen. Allerdings ist auf dem Gipfel dieser Woche und dann auch in der Regierungskonferenz nicht nur Vermittlung, sondern auch Führung erforderlich.