"Ich esse, also bin ich"

Ob Kugelalge oder Fadenwurm, sie alle schlagen sich seit vielen Millionen Jahren ganz ohne Ernährungsberater erfolgreich durchs Leben. Wie konnte die gesamte belebte Natur überhaupt so lange ohne ständig aktualisierte Ernährungsempfehlungen existieren?
Bisher gedeiht sie damit jedenfalls vorzüglich. Jedes Lebewesen auf diesem Globus weiß auch ohne "Plattform" aus Berlin, welches Futter in welcher Menge gerade gut für seine Bedürfnisse ist – und zwar besser und effizienter als jeder Ökotrophologe. Aus der Auffassung, die Grundbedürfnisse und Ansprüche des Organismus besser zu verstehen als der Organismus selbst, spricht eine seltsame Anmaßung. Warum sollten für den Menschen andere Regeln gelten? Oder ist tatsächlich jemand der Meinung, dass wir uns so grundlegend vom Rest der Natur unterscheiden, dass wir nicht auch ohne Beratung essen und trinken können? In den letzten paar Millionen Jahren haben wir es jedenfalls ganz gut alleine geschafft.

Energieaufnahme und Stoffwechsel sind grundlegende Eigenschaften. Sie dienen als Kriterium dafür, ob wir einer Erscheinung in der Natur das Prädikat "Leben" verleihen. Egal, ob Bakterium oder Pilz, Farn oder Eiche, Maus oder Mensch: Für Wachstum und Vermehrung, Bewegung, Transport und Kommunikation, für alle Lebensprozesse werden Baumaterial und Energie gebraucht. Die Erschließung und Nutzung von Nährstoffquellen hat immer höchste Priorität, jeder Organismus verfügt deshalb über ein bewundernswertes Repertoire von Werkzeugen und Strategien, um seine Ernährung in optimaler Weise zu sichern und zu gestalten. Angesichts unserer bruchstückhaften Erkenntnisse sind wir weit davon entfernt, alle Komponenten und vor allem das erfolgreiche Zusammenspiel der beteiligten Moleküle, Zellen, Organe und Lebewesen zu verstehen. Wer mit diesem mangelhaften Wissen ständig wechselnde Ernährungsempfehlungen verbreitet, unterstützt nicht die Lebensfunktionen, sondern gefährdet sie.

Schon Bakterien können sich auf ein verändertes Nahrungsangebot einstellen. Insekten mit Hirnen, so groß wie ein Stecknadelkopf, bemerken in kürzester Zeit, wenn der Nährstoffgehalt ihrer Nahrung nicht ihrem Optimum entspricht und verändern sofort ihr Ernährungsverhalten. So mögen Heuschrecken sowohl Eiweiß als auch Kohlenhydrate, aber jede Art hat ihre eigenen Bedürfnisse. Die Wanderheuschrecke mag mehr Eiweiß, die Wüstenheuschrecke mehr Kohlenhydrate. Beide wählen ihre Nahrung immer so aus, dass das Verhältnis stimmt. Präsentiert man ihnen im Labor zwei "unausgewogene" Futterquellen, so wählen sie genau die richtige Menge von jeder einzelnen. Sie ernähren sich demnach also "gesund". Steht ihnen zeitweilig nur eine einseitige Quelle zur Verfügung, werden sie zum Ausgleich bei nächster Möglichkeit zuerst ausschließlich das fressen, was ihnen bei der letzten Mahlzeit gefehlt hat.

Der Ernährungsinstinkt von Wolfsspinnen ist ähnlich gut austariert: Sie bekamen in Experimenten Fruchtfliegen vorgesetzt, die über eine entsprechende Zwangsdiät besonders fett- beziehungsweise. proteinreich gemacht worden waren. Die Spinnen konnten den Nährstoffgehalt ihrer Beutetiere unterscheiden und "einseitige" Fliegendiäten kompensieren. Selbst Netzspinnen sind wählerisch: Sie saugen aus ihrer Beute mal mehr Fett und mal mehr Protein, ganz nach ihren aktuellen Bedürfnissen.

Woher kennen die Tiere den Fettgehalt ihrer Beutetiere, so ganz ohne Zutatenliste? Sie riechen es, schmecken es, nehmen es sogar mit Nervenzellen in ihrem Darm wahr. Natürlich stehen Säugetiere in dieser Hinsicht den Insekten nicht nach. Ratten haben in vielen Experimenten ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt, ihre Nahrungsbestandteile extrem fein auszuwählen und sich so immer mit einer "optimalen Diät" zu ernähren. Bei einer Mangeldiät finden Ratten sogar dann die richtigen Speisen heraus, wenn diese nur 0,1 Prozent mehr von einem einzigen Eiweißbaustein (in diesem Falle der Aminosäure Lysin) enthalten. Zwischen den Mahlzeiten findet ein steter Ausgleich statt. Ist die erste Mahlzeit kohlenhydratbetont, bevorzugen sie danach eher fett- oder eiweißreiches Futter usw.

Gleiches gilt natürlich erst recht für die Zufuhr an Kalorien. Wird der Nährstoffgehalt fester Nahrung mit unverdaulicher Zellulose um bis zu 75 Prozent verdünnt, behalten die Nager ihre Zufuhr bei, indem sie einfach mehr fressen. Süßt man das Futter mit Traubenzucker, fressen die Tiere entsprechend weniger. Fügt man flüssiger Nahrung Wasser hinzu, wird die Aufnahme bis zu einer Verdünnung der Nährstoffe auf zwei Prozent konstant gehalten. Die Korrektur setzt erst aus, wenn Magen oder Nieren überfordert werden.

Die Regulation der Nahrungsaufnahme funktioniert selbst dann, wenn die Versuchstiere weder riechen noch schmecken können. Nachdem man Ratten die Geschmacks- und Geruchsnerven chirurgisch durchtrennt hatte, stellte man erstaunt fest, dass sie sich trotzdem "vernünftig" ernährten. Es muss sich daher um eine Regulation handeln, die nicht über die bewussten Sinne, sondern unwillkürlich über den Körper vermittelt wird. Vermutlich funktioniert sie nur deshalb so perfekt.

Funktioniert diese intuitiv richtige Nahrungsauswahl auch beim Menschen? Vielleicht ist uns ja im Laufe der Zivilisierung der Instinkt abhanden gekommen? Keineswegs! Wer seine natürlichen Regelungsmechanismen nicht durch strenge Diäten und kontrolliertes Essen ruiniert hat, darf auch weiterhin auf seinen Körper vertrauen. Wir alle kennen Situationen, in denen uns der Sinn nach ganz bestimmten Lebensmitteln steht. Mal ist es die Lust auf Süßes, mal das Verlangen nach Saurem oder der Appetit auf Deftiges. Nach einer anstrengenden Wanderung zielt der Appetit meist eher auf ein kräftiges Mahl ab als auf süße Törtchen. "Le ventre emporte la tête«" (Der Bauch regiert den Kopf), sagt ein französisches Sprichwort.

Woher weiß der Körper – egal ob der einer Heuschrecke oder der eines Homo sapiens –, was in der Nahrung steckt, wenn es der Verstand nicht weiß? Gibt es noch andere Stellen als Zunge und Gaumen, die uns über die Zusammensetzung unserer Nahrung informieren? Lange bevor das Gehirn zur leistungsfähigen Steuer- und Verarbeitungszentrale ausgebaut war, mussten Lebewesen für die "richtige" Ernährung sorgen. Zu diesem Zweck entwickelte sich ein komplexes Nervensystem rund um den Verdauungstrakt. Dieses so genannte Darmhirn hat etwa genauso viele Nervenzellen wie das gesamte Rückenmark. Das "Kopf-Gehirn" ist eine relativ späte Erfindung, wenn man so will, eine Ausstülpung des Darmhirns, das hilft, die großen Datenmengen, die unsere Sinnesorgane liefern, effektiver zu verarbeiten. Wissenschaftlich wird das Darmhirn als ENS bezeichnet (Enteric Nervous System, enterales Nervensystem).

Der Neurogastroenterologe Peter Holzer von der Universität Graz: "Das ENS funktioniert wie ein Gehirn im Darm, da es unabhängig vom Zentralnervensystem die Verdauungsvorgänge programmiert..." Wie unsere Zunge enthält auch der Darm Sensoren, die die Zusammensetzung der Nahrung analysieren, um dann die erforderlichen Arbeitsschritte einzuleiten. Das ENS konzentriert sich nach den Worten von Holzer "auf die intelligente Verwertung der gefundenen Nahrung und auf die sichere Ausscheidung unbrauchbarer und toxischer Nahrungskomponenten". Zugleich gibt es einen regen Informationsaustausch zwischen Hirn und ENS, wovon natürlich auch der Appetit des Menschen profitiert.

Entnommen aus: Pollmer; Esst endlich normal! Wie die Schlankheitsdiktatur die Dünnen dick und die Dicken krank macht. München, Piper-Verlag 2005