Ich denke, also schwimme ich

Von Michael Lange |
Es klingt wie aus dem Science-Fiction-Film „Matrix“: Kleine Einzeller und Zebrafische sind in amerikanischen Forscherlabors Teil einer virtuellen Welt geworden – ohne davon zu wissen. Sie leben gleichzeitig in der Realität und im Computer.
Je besser die Computerspiele, umso mehr vergessen die Spieler die Welt um sich herum. Sie tauchen ein in eine virtuelle Welt. Und mancher fühlt sich dort wohler als in der Realität. Aber nicht nur dem Menschen ist die Realitätsflucht vorbehalten.

Kleine Einzeller und Zebrafische in US-amerikanischen Forscherlabors sind noch weiter auf diesem Weg fortgeschritten. Sie sind selbst zum Teil einer virtuellen Welt geworden, ohne davon zu wissen. Sie leben gleichzeitig in der Realität und im Computer.

Pantoffeltierchen haben ein einfaches Leben. Den winzig kleinen Einzellern reicht ein Wassertropfen zum Glück. Mit den kleinen Härchen auf ihrer Zellhülle schwimmen sie darin herum. Dabei orientieren sie sich an schwachen elektrischen Feldern.

Was einige kleine Pantoffeltierchen in Kalifornien nicht wissen: Sie leben nicht nur in ihrem Wassertropfen, sondern sind gleichzeitig Teil eines Computerspiels. Über ein Mikroskop gelangt die Welt im Wassertropfen auf den Monitor.

Die Pantoffeltierchen sind fremdbestimmt. Ihr Herrscher heißt Ingmar Riedel-Kruse, Professor an der renommierten Stanford-Universität.

„Der Spieler hat eine fast konventionelle Spiele-Konsole in der Hand, mit vier Knöpfen, die die vier Richtungen angeben. Wenn er einen Knopf drückt, wird ein entsprechendes Feld angelegt, und dann bewegen sich die Pantoffeltierchen in die entsprechende Richtung.“

Daddeln im Dienste der Wissenschaft. Der aus Sachsen stammende Physiker blickt auf den Monitor. Dort bewegt sich ein Pantoffeltierchen von rechts nach links. Mit seiner Konsole ändert er die elektrischen Felder in einem Wassertropfen unter dem Mikroskop – gleich neben dem Computer. So steuert er die kleinen Lebewesen nach rechts, links, vor, zurück – oder er versucht es zumindest.

„Alle Pantoffeltierchen in dem Feld und in der Kammer reagieren, wobei man auch sagen muss, dass verschiedene Pantoffeltierchen unterschiedlich stark reagieren. Es ist schon eine gewisse Variabilität oder ein Eigenleben da.“

Das Design auf dem Monitor erinnert an Computer- oder Videospiele aus den 80er-Jahren, wie Pac Man. Unter den Entwicklern besonders beliebt ist Computer-Fußball mit Pantoffeltierchen als Stars.

„Wir sehen jetzt hier den virtuellen Ball auf dem Spielfeld. Wir steuern jetzt das Pantoffeltierchen zur Seite in Richtung Fußball. Wir treffen den Ball, und er schießt ins Tor. Noch mal Elfmeter und Schuss.“

In einem Museum sollen die Einzeller demnächst ihre Wettkämpfe ausführen. Den Spielern macht das Spaß, und den Pantoffeltierchen sei es egal, betont Ingmar Riedel-Kruse.

„Pantoffeltierchen sind Einzeller, die spüren nichts. Und die Felder, die wir anlegen, sind sehr schwach.“

Andere Lebewesen haben die Realität verlassen. Ihr Aquarium ist riesengroß. Viele Pflanzen, kleine Felsen und einige Artgenossen. Immer wieder gibt es Neues zu erkunden und zu erleben, fast wie in der Natur. Hier lässt es sich leben als heranwachsender Zebrafisch.

Objektiv ergibt sich ein anderes Bild. Die wenige Zentimeter großen Fische liegen gelähmt in kleinen Schalen. Sie können sich nicht bewegen, nur ihr Gehirn ist aktiv – im Dienste der Wissenschaft.

„Da kann man lernen, was die Rolle von einzelnen Nervenzellen ist bei der Kontrolle von Verhalten.“

An der Harvard-Universität in Boston hat Florian Engert eine Apparatur konstruiert, die das Gehirn der kleinen Zebrafische mit einer virtuellen Welt im Computer verbindet. Die Fachzeitschrift „Nature“ nennt das einen „Think Tank“, eine Denkfabrik für Fische.

Indem Florian Engert die Muskeln der Fische lähmt, verhindert er, dass sie sich bewegen. So kann er die Gehirn-Aktivität der Fische mit Bild gebenden Verfahren bestimmen. Das Fischgehirn steuert einen Computer. Es gibt das Kommando „Vorwärtsschwimmen“, und die Wissenschaftler erzeugen vor den Augen des Fisches genau diese Illusion.

„Wir stellen Computer Screens um den Fisch herum, und die spielen eine Fischwelt vor. Und immer, wenn der Fisch jetzt agiert, dann ändert sich die Welt. Also wenn der Fisch vorwärts schwimmt, strömt die Welt um ihn herum nach hinten. Wenn der Fisch nach links schwimmt, dreht sich die Welt nach rechts. Und wenn man sich das so anschaut, ist das tatsächlich wie in einem Computerspiel.“

Um beim Fisch das richtige Gefühl zu erzeugen, lassen die Forscher sogar etwas Wasser um den Fisch fließen. Schnell akzeptieren die Fische die Bilder auf dem Monitor als Lebensraum und beginnen, ihn mit dem Gehirn zu erkunden. Frei nach Descartes: Ich denke, also schwimme ich.

„Der Fisch benutzt im Endeffekt seine Muskelnervenzellen, um einen Joy-Stick zu bedienen, der ihm erlaubt in einer virtuellen Welt umher zu schwimmen.“

In der traurigen Realität liegt der Fisch nach wie vor gelähmt in seiner Schale. Doch davon weiß er nichts. Wie die Menschen im Kinofilm Matrix lebt er in einer irrealen Welt. Und wie im Film kann auch der Fisch im virtuellen Raum übernatürliche Fähigkeiten erhalten. Florian Engert macht das, indem er die Wirkung der Signale aus dem Gehirn auf die virtuelle Bewegung verdoppelt oder verdreifacht. Dazu muss er seinen Computer nur ein wenig umprogrammieren.

„Wenn man ihnen plötzlich Superkraft gibt, dann schwimmen sie am Anfang mit hundert Sachen. Aber innerhalb von wenigen Sekunden lernen sie dann, das herunter zu regulieren und ganz behutsam zu schwimmen.“

Ob der Fisch ahnt, dass die Welt, in der er zu schwimmen glaubt, nicht real ist, können die Forscher nicht sagen. Sie beobachten und erforschen nur sein Gehirn und das arbeitet, wie in einer realen Welt. Aber was ist schon real? Egal, ob Fisch oder Mensch: Unsere Welt ist die Welt im Kopf.
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