"Ich bin nicht so weit, dass ich jetzt eine Schuldfrage schon beantworten könnte"

Gerhart Baum im Gespräch mit Ute Welty · 02.09.2010
Gerhart Baum, Anwalt der Opfer, kritisiert den Umgang mit der Loveparade-Katastrophe. "Menschen, die betroffen sind, sind geradezu angewidert von dem Versuch der Beteiligten, jegliche Verantwortung vornherein von sich zu weisen", sagt Baum.
Ute Welty: Das wird einmal mehr ein harter Tag für den Duisburger Oberbürgermeister. Im Innenausschuss des Landtages wird Adolf Sauerland Stellung beziehen müssen zur Massenpanik bei der Loveparade, die 21 Menschen das Leben kostete. Inzwischen entlastet ein Gutachten der Stadt die Verwaltung, während ein Gutachten des Innenministeriums in Nordrhein-Westfalen die Polizei entlastet. Was das alles für die Opfer von Duisburg bedeutet, das bespreche ich jetzt mit ihrem Anwalt, dem früheren Bundesinnenminister Gerhart Baum. Guten Morgen, Herr Baum!

Gerhart Baum: Guten Morgen!

Welty: Was lesen Sie denn aus diesen beiden Gutachten heraus?

Baum: Na ja, das ist der Versuch, sich gegenüber Angriffen zu rechtfertigen. Es soll festgestellt werden, wer letztlich verantwortlich war, unabhängig davon, ob die Verantwortung dann auch wirklich wahrgenommen worden ist. Also, das ist alles gekennzeichnet von Vorläufigkeit. Im Grunde kann heute keine Entscheidung getroffen werden. Das Gutachten des Landes hat Argumente, das Gutachten der Stadt hat Argumente, der Veranstalter bringt Argumente. In unserem Rechtsstaat ist in so einem Fall Obergutachter die Justiz, und die ist noch lange nicht dran.

Welty: Wenn man ein bisschen zwischen den Zeilen liest, dann scheint die Schuldfrage sich zu fokussieren auf den Veranstalter, auf Rainer Schaller. Was würde das bedeuten für Ihr Mandat und für Ihr weiteres Vorgehen?

Baum: Also, ich bin nicht so weit, dass ich jetzt eine Schuldfrage schon beantworten könnte. Ich könnte mir zum Beispiel auch vorstellen, dass es überschneidende Verantwortungsbereiche gegeben hat, dass also nicht nur ein Verantwortlicher da war und ein Schuldiger. Wir müssen ja hier auch fragen, die strafrechtliche Schuld, wer trägt sie, wer wird möglicherweise angeklagt – das wäre dann die weitgehendste Verantwortung – und wer ist zivilrechtlich verantwortlich, das ist eine niedrigere Schwelle, die hier zu erfüllen ist.

Alles das wird man sehen, wenn die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen geführt hat, und sie ist ja mit etwa 100 Beamten dabei, alle Informationen auszuwerten. Ich schätze, dass sie einige Monate dazu braucht. Wenn wir dann Akteneinsicht haben, dann können wir entscheiden, gegen wen wir vorgehen. Vorübergehend und jetzt haben wir Überbrückungszahlungen des Landes, der Versicherung und der Stadt Duisburg, die die Geschädigten in die Lage versetzen, das Notwendigste an Ausgaben zu bestreiten.

Welty: Was erhoffen Sie sich darüber hinaus für Ihre Mandanten? Sie haben es ja eben schon beschrieben, noch ist überhaupt nicht klar, ob überhaupt je geklagt werden kann und schon gar nicht gegen wen.

Baum: Also die Menschen – ich habe ja Erfahrungen in solchen Situationen –, die Menschen, die betroffen sind, sind geradezu angewidert von dem Versuch der Beteiligten, jegliche Verantwortung von vornherein von sich zu weisen. Sie stehen fassungslos vor der Tatsache, dass offenbar für den Tod von 21 Menschen und vielen Verletzten niemand verantwortlich ist. Das begreifen sie nicht.

Also ich kann nur dringend davor warnen, jetzt abschließende Stellungnahmen abzugeben und dann die Schuld immer beim anderen zu suchen. Man muss ja auch berücksichtigen, wer bezahlt eigentlich die Gutachten, die Gutachter. Das Landesgutachten ist vom Land bezahlt worden, das Gutachten der Stadt von der Stadt. Also viele Fragen sind unbeantwortet geblieben bisher. Und die Opfer möchten, dass diese Fragen beantwortet werden, damit künftig solche Dinge nicht mehr passieren.

Welty: Neben den Gutachten des Landes und der Stadt sucht der Veranstalter einen anderen Weg, er sucht den Weg in die Öffentlichkeit, er hat Videos der Überwachungskameras ins Netz gestellt, er äußert sich heute Abend in einer Talkshow im Privatfernsehen. Ist das Ihrer Meinung nach ein legitimer Weg?

Baum: Ja, ja, er hat seine Argumente – er fürchtet Ansprüche, er fürchtet um seine Existenz. Irgendwo kann ich das verstehen, aber ob er nun auf dem richtigen Wege ist, ob seine Argumente wirklich zutreffend sind, das kann heute niemand abschließend beantworten, dafür sind viel zu viele Fragen bisher unbeantwortet geblieben.

Welty: Ihre Mandanten können der öffentlichen Diskussion ja auch kaum ausweichen. Was bekommen Sie als Ihr Anwalt an Reaktionen widergespiegelt auf diese Diskussionen?

Baum: Also, die Menschen sind verstört und verwirrt. Man muss ja in solchen Situationen berücksichtigen, dass es erhebliche psychische Traumatas gibt. Also wenn die Menschen schildern, was ihnen passiert ist, dass sie Todesangst gehabt haben, dass sie möglicherweise, ohne irgendwie das zu wollen, Menschen mit totgetrampelt haben, dass sie keinen Ausweg wussten und die Besinnung verloren haben, also die psychischen Folgen, die muss man wirklich sehr ernst nehmen. Und das sind Folgen, die noch lange bleiben werden. Sie brauchen eine Behandlung und mit ihnen muss behutsam umgegangen werden. Jetzt hat man so das Gefühl, dass mit Gutachtern über sie hinweg diskutiert wird.

Welty: Herr Baum, Sie vertreten ja nicht nur die Opfer der Loveparade, sondern Sie haben auch vertreten die Opfer nach dem Unglück von Ramstein oder dem Absturz der Concorde. Wie gehen Sie selbst damit um, dass andere ihr Leid an Sie herantragen?

Baum: Ja, ich versuche einzufühlen in die Situation eines Angehörigen, der einen lieben Menschen verloren hat, und das Wichtigste ist, dass ich mich bemühe, ihm zuzuhören, mich eben in seine Lage zu versetzen und ihm dann Ratschläge geben zu können, soweit das in einer solchen Situation überhaupt möglich ist. Es ist keine nur juristische Beratung. In solchen Fällen geht es darum, Menschen aufzufangen und ihnen irgendwo auch Lebenshilfe zu geben.

Welty: Der Anwalt und frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum im Deutschlandradio Kultur. Er vertritt die Interessen der Opfer nach der Massenpanik bei der Loveparade in Duisburg. Danke fürs Gespräch!

Baum: Wiederhören!