"Ich bin kein Reiseschriftsteller"

Von Moritz Behrendt · 19.09.2006
Nach Indien, dem Land seiner Vorfahren, ist der in London lebende VS Naipaul drei Mal gereist. In der Neuauflage seines Romans "Indien. Land des Aufruhrs" kommen vor allem die Menschen zu Wort, die er auf seiner letzten Reise getroffen hat. Ein Reiseschriftsteller sei er dennoch nicht, sagt Naipaul. Er stellte sein Buch im Literaturhaus Berlin vor.
Ein literarischer Weltenumsegler sei er, hieß es bei der Ankündigung, dass V.S. Naipaul im Jahr 2001 den Literaturnobelpreis erhalten würde. Sein schriftstellerisches Territorium reicht von der Karibik über England, Amerika bis nach Afrika, die islamischen Länder und Indien.

Seine Begeisterung für das Reisen begründet der 1932 auf der Karibikinsel Trinidad geborene Naipaul mit seiner Herkunft:

" Ich mag einfach Bewegung. Wenn man aus einem sehr kleinen Ort kommt, dann ist die Vorstellung einer langen Reise unwiderstehlich. Ich habe die ersten 18 Jahre meines Lebens an einem sehr kleinen Ort verbracht. Die Vorstellung, dann nach Europa zu kommen und eine lange Reise mit einem Nachtzug zu machen ist wunderbar … dramatisch. "

Naipaul verließ Trinidad im Jahr 1950. Die Insel und ihr Mangel an kulturellem Vermächtnis fand er beengend. Er ging nach England mit dem Entschluss, Schriftsteller zu werden. Seither ist er viel gereist und hat neben seinen Romanen wie "An der Biegung des großen Flusses" auch zahlreiche Reiseberichte verfasst.

Nach Indien, dem Land seiner Vorfahren, ist Naipaul drei Mal gereist. In "Indien. Land des Aufruhrs" kommen vor allem die Menschen zu Wort, die er auf seiner letzten Reise getroffen hat. Ein Reiseschriftsteller sei er dennoch nicht, sagt Naipaul:

" Ein Großteil der Reiseliteratur behandelt Äußerlichkeiten. Der Held ist der Reisende selbst. Eine wahrhaftigere Form des Schreibens ist, wenn die Helden die Mitreisenden sind und man etwas über sie herausfinden kann."

Der deutsche Schriftsteller Hans-Christoph Buch sagt, ihn hätten Naipauls Indien-Bücher so fasziniert, weil sämtliche "linke Klischees" fehlten, ja weil es überhaupt keine Klischees gebe. Naipaul hält sich zurück mit Wertungen, mit metaphorischen Kunststückchen. Viel lieber überlässt er seinen Protagonisten das Wort.

" Was ich mehr als einmal gemacht habe, ist Leute um Schilderungen zu bitten - sehr arme Leute. Ich kann schließlich nicht ihre Gedanken lesen, ich kann nur ihr Äußeres sehen. Aber ich weiß nicht, wie sie die Welt betrachten. Deshalb habe ich sie nach dem Kennenlernen oft gebeten: Beschreibe diese Stadt für mich, beschreibe dieses Haus, dieses Zimmer. Sie beschrieben, und ich begann, mit ihnen zu sehen."

So entstehen in dem Buch "Indien. Land des Aufruhrs" eindrückliche Schilderungen der Wohnsituation von Indern aus verschiedenen sozialen Klassen. Eindrücklich sind diese mehrseitigen Passagen nicht, weil der Autor Eindruck schindet, sondern weil Naipaul kühl und präzise beschreibt. Er beschönigt nichts, aber er beklagt sich auch nicht über eine floskelhafte "fürchterliche Armut" Indiens. Manchmal wertet er allerdings doch: Etwa, wenn er die koloniale Architektur Indiens und den Einfluss Großbritanniens lobt:

" Uns wurden Dinge gegeben, die wir zuvor niemals hatten: der Rechtsstaat, Gerichte, die Vorstellungen von dem Wert des einzelnen Menschen. Das hatten wir vorher nicht. Das ganze Menschenbild der Reformation und der Renaissance ist zu uns durch die Briten gekommen."

Für solche Aussagen wurde Naipaul immer wieder kritisiert. Er male die Gegenwart von Ländern in Afrika und Asien zu schwarz, die koloniale Vergangenheit dagegen zu rosig. Jüngst wurden seine Bücher über Reisen durch islamische Länder aus den 80er und 90er Jahren hervorgekramt. Naipaul wurde der Stempel "Islamkritiker" aufgedrückt. Solche Etikettierungen seien modischer Nonsens, sagt der Nobelpreisträger und beruft sich darauf, dass er immer nur verstehen wollte.

" Ich hatte großes Glück. Als ich mit meiner islamischen Reise begann, hatte ich nicht viel in den Zeitungen gelesen. Ich war ein Unschuldiger. Ich bin gereist, um zu wissen, um wahrhaftig zu wissen. Dabei habe ich herausgefunden: Wenn du extrem einfache Fragen stellst, bekommst du gute Antworten, aber Du musst sehr aufmerksam zuhören."

Den Leuten, die ihm ihre Geschichten anvertrauen, möchte Naipaul gerecht werden.

" In meinen Erkundungsbüchern – es ist keine Reiseliteratur im üblichen Sinn – möchte ich die Leute, die ich treffe, fair darstellen. Ich möchte, dass sie bei der Lektüre des Buches denken: Ja, so bin ich! "

Wenn ihn dann postkoloniale Theoretiker oder Schriftstellerkollegen kritisieren, weil seine Beschreibungen nicht in deren Weltsicht passen, sei ihm das völlig egal, behauptet Naipaul. Überhaupt legt er nicht besonderen Wert darauf, was andere von seinem Werk halten:

" Früher als ich jung war, hatte ich die Vorstellung eines Lesers, meistens jemand, den ich kannte. Mit den Jahren wurde ich jedoch mein eigener Leser. Ich habe für mich selbst geschrieben. Das bedeutete, dass ich über mein eigenes Schreiben gerichtet habe. Ich war ein scharfer Richter meines eigenen Tuns. "

So erübrigt sich dann auch die Frage nach Vorbildern. Dem Literaturnobelpreisträger genügen seine eigenen Beobachtungen und Einschätzungen.