"Ich bin eine regelmäßige Gefängnisbesucherin"

Moderation: Dieter Kassel |
Mit "Die Bildhauerin" und "Das Eishaus" ist die britische Kriminalautorin Minette Walters weltweit bekannt geworden. Ihr neuester Roman "Der Außenseiter" wird von vielen Kritikern als einer ihrer besten bezeichnet. Im Gespräch erzählt sie von ihren Gefängnisbesuchen und wie sie ihre Geschichten schreibt.
Kassel: Ein Mordfall, der sich vor über 30 Jahren zugetragen hat. Ein Täter, der damals schnell gefunden und verurteilt wurde und der inzwischen schon lange nicht mehr lebt. Davon handelt "Der Außenseiter", der neue Roman von Minette Walters. Aber es wäre kein echter Walters-Roman, wäre nicht die Wirklichkeit denn doch ganz anders und wäre nicht der wirkliche Mörder dann doch erst ganz am Schluss plötzlich gefunden, wenn überhaupt. Mit "Die Bildhauerin" und "Das Eishaus" ist Minette Walters weltweit bekannt geworden. Ihr neuester Roman wird aber von vielen Kritikern als einer ihrer besten bezeichnet. Jetzt ist Minette Walters bei uns zu Gast. Frau Walters, der neue Roman heißt auf Englisch "Disordered Minds", und er heißt auf Deutsch "Der Außenseiter". Ich finde den Titel zwar gut, aber ich finde ihn etwas ungerecht. Meiner Meinung nach gibt es mindestens drei Außenseiter in diesem Roman, man könnte aber auch sagen, noch viel mehr. Wie viel Außenseiter sehen Sie in dem Buch?

Walters: Das ist eine wirklich gute Frage. Ich habe nicht wirklich nachgezählt. In gewisser Weise sind sie alle Außenseiter. Sogar George, der immer als der Stabilste und geistig Gesündeste von allen erscheint, hat eine Krankheit, die ihn an den Rand der Gesellschaft drängt. Mir würden wohl sechs oder sieben Personen einfallen, die als Außenseiter in Frage kommen. Aber der Titel ist in der Tat interessant. Manche finden es sehr merkwürdig, dass er im Singular steht, wohin gegen mein Originaltitel im Plural steht und an mehrere marginalisierte oder psychisch gestörte Menschen denken lässt. Aber so bringt es einen am Ende auch vielleicht zum Nachdenken darüber, wer der richtige Außenseiter ist. Wir beide mögen an mehrere Charaktere denken, die als Außenseiter in Frage kommen, aber wer nun der wahre Außenseiter ist, die Frage bleibt dem Leser selber zu beantworten.

Kassel: In dem Buch geht es unter anderem, wie schon erwähnt, um einen Kriminalfall, der Jahrzehnte vorher schon aufgeklärt wurde. Ein Mann wurde dafür verurteilt, er lebt auch nicht mehr. Es gibt mehrere Bücher von Ihnen, wo es eigentlich um Kriminalfälle geht, die scheinbar schon abgeschlossen sind, zum Beispiel "Die Bildhauerin". Was interessiert Sie so sehr an Justizirrtümern?

Walters: Agatha Christie hat in ihren Büchern oft gesagt, es ist schlimmer für einen Unschuldigen für schuldig gehalten zu werden, als einen Schuldigen frei herumlaufen zu lassen. Ich habe ihre Bücher als Kind gelesen, so im Alter von zehn Jahren. Dieser Satz taucht öfter in ihren Büchern auf, und ich dachte immer, wie schrecklich es sein muss, für etwas angeklagt zu werden, das man gar nicht getan hat, umso mehr, seit ich ein Interesse für echte Verbrechen entwickelt habe, was ich schon ziemlich früh getan habe, und seit ich eine regelmäßige Gefängnisbesucherin bin - das bin ich seit 15 Jahren. Ich gehe in Gefängnisse und spreche mit Verurteilten. Das Interessante an den meisten Häftlingen ist, dass sie nicht auf ihrer Unschuld beharren. Das ist ein Mythos, dass sie alle sagen, sie seien unschuldig. Die meisten geben zu, dass sie das getan haben, für das sie verurteilt wurden. Aber ich habe mindestens drei Personen getroffen, die über Jahre steif und fest behaupten, unschuldig zu sein, und zwei von ihnen sind inzwischen entlassen worden, da sich herausgestellt hatte, dass sie Opfer eines Justizirrtums geworden waren. Mir geht das wirklich schreckliche Schicksal unschuldig Verurteilter einfach sehr nahe. Bedauerlicherweise hat Großbritannien diesbezüglich eine schockierende Geschichte, was wohl viel mit dem Terrorismus der IRA zu tun hat. Der Druck auf die Polizei, jemanden zu verhaften als Schuldigen für Bombenanschläge, führte zu schnellen Schritten und raschen Verhaftungen, nicht nur bei Bombenanschlägen, sondern auch allgemein. Die Fälle, die ich in "Der Außenseiter" zitiere, in Jonathan-Hughes-Kapitel, in dem über Justizirrtümer geschrieben wird, jeder dieser Fälle ist echt, außer Howard Stamps Geschichte, die meine Romanerfindung ist.

Kassel: Sie haben damit einen der weiteren Außenseiter, wie ich finde, erwähnt, Jonathan Hughes. Es ist ein Krimi, ich will nicht zu viel verraten, aber das ist ein Mann, er ist ein schwarzer Brite, der das aber nicht zugibt. Der erzählt recht verwirrende Geschichten über seine Herkunft. Der hat auch eine sehr helle Hautfarbe. Menschen, die schlichtweg schwarz sind, und es ihr Leben lang nicht zugeben. Glauben Sie, dass es so etwas in Großbritannien gibt?

Walters: Es gibt viele Schwarze, die ihren eigenen Leuten gegenüber rassistisch sind. Ich habe eine Freundin, die jahrelang geschickt ihre Herkunft versteckt hielt, und das macht ja auch nichts. Aber was ich mit Jonathan versucht habe, war etwas anderes: Er war immer glücklich damit, sich als Saudi zu beschreiben oder von seinem saudiarabischen Vater zu erzählen, und er denkt sich all diese interessanten Vorfahren aus, um sich dadurch, wie er hofft, mehr Anerkennung zu verschaffen. Er will also nicht bekannt sein als der Sohn eines jamaikanischen Straßenkehrers, sondern als der Sohn eines saudischen Arztes, und das funktioniert solange gut für ihn, bis sein Leben beginnt auseinander zu brechen.

Kassel: Sie haben, glaube ich, bei all ihren anderen Büchern gerne erzählt, dass, wenn Sie anfangen, einen Roman zu schreiben, noch nicht wissen wie er ausgeht, dass sie schlicht nicht wissen, wer ist es am Ende gewesen? War das wieder so?

Walters: Ich stelle meine Nachforschungen zusammen mit den Lesern an, und das ist schrecklich aufregend, viel aufregender, als eine Kernhandlung aufzuschreiben, eine Geschichte vorher zu kennen und nur noch die Lücken auszufüllen. Wenn ich so schreiben würde, würde ich immer wieder Geschichten aufgeben müssen, weil ich mich so langweilen würde. Ich möchte eben auch wissen, was als Nächstes passiert, und das heißt, dass ich morgens schon ganz aufgeregt aufwache und kaum erwarten kann, in mein Büro zur Arbeit zu gehen, weil ich alles so schnell herausfinde wie der Leser. Aber die Analogie, die ich aufzeigen wollte, indem ich sage, wie einfach es ist, nicht zu wissen, wer es denn getan hat, ist die: Das Erste, was ein echter Polizist bei einem Mordfall erfährt, ist, dass ihm am Telefon jemand sagt, ich habe einen Toten gefunden, der Tote kann in einem Park, Wald oder Haus liegen, alles, was der Polizist erfährt, ist der Ort, an dem die Leiche liegt. Wenn er Glück hat, sagt ihm noch jemand, wer der Tote ist. Wenn er noch mehr Glück hat, stehen drei oder vier Leute herum, die in irgendeiner Beziehung zum Toten standen, und er kann anfangen, Fragen zu stellen, und er kann dabei niemanden außer Acht lassen, nur weil er nett ist oder sympathisch aussieht. Jeder einzelne, den er mit dem Toten in Zusammenhang bringen kann, steht erst mal unter Verdacht, bis er genug Beweise hat, um zu sagen, wer der Täter war. Genau so schreibe ich meine Geschichten.

Kassel: In Deutschland - in England eigentlich wenige - gilt Kriminalliteratur immer noch ein bisschen als Literatur zweiter Klasse. Ärgert Sie das manchmal?

Walters: Nein, eigentlich überhaupt nicht. In England ist es genauso. Das ist schon ein gewisser Snobismus. Das Lustige ist ja, dass die Anzahl der Menschen, die Krimis lesen, darauf hindeutet, dass ziemlich viele von denen, die behaupten, nur anspruchsvoller Literatur zu lesen, auch Krimis lesen. Es amüsiert mich immer wieder, wie viele unserer literarischen Autoren schließlich auch Krimis schreiben, wie Martin Amis zum Beispiel, der das mit großem Vergnügen gemacht hat. Ich gebe Leuten, die anfangen wollen zu schreiben, immer den Tipp, bloß kein Buch zu schreiben, dass sie selber nicht kaufen würden. Viele neue Autoren machen genau das, heimlich lesen sie gerne Krimis, Thriller oder Liebesgeschichten, aber sie denken, sie sollten den nächsten Roman für den Booker-Preis schreiben, selber würden sie aber nicht mal Geld ausgeben, um ein Buch aus der Booker-Preis-Auswahl zu lesen, und sie werden auch nie in der Lage sein, so etwas zu schreiben. Ich sage also, das, wofür ihr selber euer sauerverdientes Geld ausgeben würdet, das solltet ihr auch schreiben, denn das werdet ihr auch gut kennen. Ich liebe Krimis und Thriller, das war schon immer mein geliebter Lesestoff, also bin ich jetzt auch nicht im Geringsten wütend, dass das, was ich schreibe, als zweitklassige Literatur betrachtet wird. Ich finde es fantastisch.

Link:

Minette Walters