"Ich bin der gleiche Mensch wie vor fünf oder sechs Jahren"

Moderation: Dieter Kassel · 23.04.2007
Der ehemalige Guantánamo-Häftling Murat Kurnaz hat seine Reise nach Pakistan kurz nach dem 11. September 2001 verteidigt. "Damals gab es noch keinen Krieg", sagte Kurnaz. "Es war die Rede davon, dass die Amerikaner Spezialgruppen auf bestimmte Berge in Afghanistan schicken werden. Und dabei hatte Pakistan nichts zu tun mit Afghanistan und Amerika. So hatte ich mir das vorgestellt. Und so ist es auch eigentlich gewesen", ergänzte er. Heute erscheint Kurnaz’ Buch "Fünf Jahre meines Lebens".
Dieter Kassel: Am 1. Dezember 2001 wurde der aus Bremen stammende Türke Murat Kurnaz in Pakistan verhaftet. Er kam zuerst für kurze Zeit in ein pakistanisches Gefängnis, dann in ein Lager in Kandahar in Afghanistan, und im Anschluss daran kam er dann im Februar 2002 nach Guantánamo Bay auf Kuba. Heute erscheint ein Buch, das Murat Kurnaz über seine Zeit in den verschiedenen Gefängnissen, vor allen Dingen natürlich in Guantánamo, geschrieben hat. "Fünf Jahre meines Lebens" heißt dieses Buch, und ich hatte Ende vergangener Woche Gelegenheit, mit Murat Kurnaz am Telephon, über dieses Buch und damit natürlich auch automatisch über seine Zeit, vor allem in Guantánamo, zu sprechen. Und habe ihn als erstes gefragt, ob eigentlich die Beschäftigung mit diesem Buch, die Arbeit daran, das Schreiben, ob das eher eine Erleichterung war, die Geschichte noch einmal los zu werden, oder ob’s ihm eher schwer gefallen ist.

Murat Kurnaz: Also wenn man jetzt das Erzählen vergleichen würde mit dem, was ich erlebt habe in Wirklichkeit, das ist ja dagegen nichts. Und all das, was ich im Buch geschrieben habe, ist das, was ich erlebt habe. Und das Schwierigere daran habe ich sozusagen hinter mir gehabt, und erzählen ist natürlich viel einfacher. Damit habe ich keine Probleme mehr.

Kassel: So ziemlich am Ende Ihres Buches gibt es eine Stelle, da sagen Sie, dass Sie zu dem Zeitpunkt da sogar schon Fernsehinterviews gegeben haben, mit der Zeitschrift "Stern" geredet. Aber es gebe eine Person, mit der Sie noch nicht gesprochen haben über das, was Sie zuerst in Kandahar und dann in Guantánamo erlebt haben, nämlich mit Ihrer Mutter. Ist das bis heute so, dass Sie mit der nicht drüber sprechen können?

Kurnaz: Meine Mutter, sie stellt mir keine Fragen über Guantánamo, und daher möchte ich sie auch nicht zwingen, jetzt drüber zu erzählen. Ich bin mir sicher, das fällt ihr schwer, drüber nachzudenken oder sich vorstellen zu können, was ich alles durchmachen musste und durchgemacht habe. Daher möchte ich auch meiner Mutter nicht schwierige Sachen – ich möchte sie nicht zwingen, halt was Schwieriges durchzumachen, indem ich ihr meine Geschichte erzähle. Wie gesagt, sie kann mein Buch lesen oder nicht, das ist ihre eigene Entscheidung. Und vielleicht ist es für sie besser, dass sie es nicht tut.

Kassel: Was ich interessant fand, Sie beschreiben ja in Ihrem Buch beginnend von der Abreise nach Pakistan bis dann zur Rückkehr nach Bremen und den Monaten da halbwegs chronologisch, aber es gibt einige Stellen, da weichen Sie ab und da schildern Sie Ihre Jugend und Ihr Aufwachsen in Bremen und die Zeit, bevor Sie dann nach Pakistan gingen und dort verhaftet wurden. Warum haben Sie das gemacht? Das Buch heißt ja auch "Fünf Jahre meines Lebens", und Sie beschreiben aber auch die anderen 18. Wollten Sie da so ein bisschen was klar rücken, was in den Zeitungen vielleicht zwischendurch mal falsch geschrieben wurde über Sie?

Kurnaz: Es ist einfach für die Leser wichtig gewesen, dass sie auch wissen, wer ich bin und was ich vorher getan habe, was für ein Mensch ich gewesen bin. Und halt für die Leser zeigen zu können, dass ich auch ein ganz normaler Mensch gewesen bin, und trotzdem all das durchmachen musste.

Kassel: Wie ist es heute? Sie sind ja jetzt seit einer Weile wieder zu Hause, Sie haben dieses Buch geschrieben, Sie haben sich auch den Medien gegenüber und den Untersuchungsausschüssen mit der Zeit in Guantánamo beschäftigt, aber Sie sind jetzt 25 Jahre alt, leben wieder in Bremen. Wie soll’s jetzt weitergehen? Haben Sie konkrete Pläne für Ihre Zukunft?

Kurnaz: Also mein Leben geht schon weiter wie vorher. Ich bin jetzt wieder zu Hause, habe jetzt wieder Arbeit und lebe wie viele andere Menschen in Deutschland halt.

Kassel: Ich wusste das gar nicht, was für eine Arbeit haben Sie denn inzwischen wieder?

Kurnaz: Ich arbeite im Stadtwerk Tenever an einem Projekt mit, und die Arbeit macht mir sehr Spaß. Und ich bin damit total zufrieden.

Kassel: Wie wichtig ist Ihnen denn für die Zukunft, um in Ruhe wieder ein normales Leben zu führen, dass ja Menschen, die etwas damit zu hatten, dass Sie in Haft geraten sind und auch, dass Sie dann so spät erst wieder freigekommen sind, dass diese Menschen – wir setzen immer voraus, Sie sind wirklich schuldig in einigen Fällen, das ist aber noch nicht untersucht –, dass diese Menschen bestraft werden. Spielt das für Sie eine Rolle?

Kurnaz: Ich wäre schon zufrieden, wenn sie ihre Schuld einsehen würden und anstatt dessen nicht versuchen, mich mit Vorurteilen schlecht darzustellen. Das würde mir schon genügen, wenn sie ihre Schuld einsehen würden. Aber das ist ja leider nicht der Fall. Ganz im Gegenteil, um ihre Schuld decken zu können, versuchen sie mich als schlecht noch darzustellen. Das finde ich natürlich beschämend. Aber da kann ich leider nichts ändern.

Kassel: Trotzdem, wenn Sie zurückblicken auf den Sommer 2001, als Sie irgendwann beschlossen haben, nach Pakistan zu fahren für mehrere Wochen, und alles das beschreiben Sie ja in Ihrem Buch. Sie wussten, Ihre eigenen Eltern würden das nicht erlauben, als Freunde, auch Freunde aus der Moschee gesagt haben, mach es nicht jetzt, das ist wirklich der blödeste Zeitpunkt. Sie haben es trotzdem gemacht. Sagen Sie trotzdem im Nachhinein, auch wenn ich nichts Böses gewollt habe, ich war damals ein bisschen naiv, in dieser gefährlichen Zeit, wenige Wochen nach dem 11. September, ausgerechnet nach Pakistan zu fahren?

Kurnaz: Na ja, es ging ja um Krieg zwischen Amerika und Afghanistan, und selbst dieser Krieg ist damals noch nicht da gewesen, wo ich meine Reise nach Pakistan gemacht habe. Damals gab es noch keinen Krieg. Es war die Rede, dass die Amerikaner Spezialgruppen schicken werden auf irgendwelche bestimmte Berge in Afghanistan. Und dabei hätte Pakistan nichts zu mit Afghanistan oder Amerika. So hatte ich mir das vorgestellt und so ist das auch eigentlich gewesen, außer dass ich für 3.000 Dollar später an die Amerikaner verkauft worden bin von ganz gewöhnlichen pakistanischen Polizisten.

Kassel: Ich habe vorhin, als wir über Ihre Mutter kurz gesprochen haben, gesagt, es gibt zwei Sachen in dem Buch, die mich erstaunt haben. Die stehen auch kurz hintereinander. Das eine war die Information, dass Sie nicht mit Ihrer Mutter drüber reden, das andere war, dass Sie sich selber fragen gegen Ende des Buches: Hat mich Guantánamo verändert? Und da sagen Sie selber, nein, eigentlich nicht. Ist das wirklich wahr? Sind Sie auf einer gewissen Art und Weise jetzt der gleiche Mensch wie vor sechs Jahren?

Kurnaz: Ich bin der gleiche Mensch wie vor fünf oder sechs Jahren, nur dass ich halt erfahrener geworden bin durch all das, was ich gesehen habe und erlebt habe.

Kassel: Zum Schluss, Sie haben ja selber schon erwähnt, dass es natürlich immer wieder auch nach Ihrer Rückkehr noch Kritik an Ihnen gegeben hat, jetzt, wo Sie dieses Buch geschrieben haben – in, ich glaube, drei oder vier Wochen erscheint ja auch noch eine Hörbuchausgabe –, sagen einige Leute, der Kurnaz ist zu sehr jetzt damit beschäftigt, seine eigene Geschichte zu vermarkten. Wenn Sie so was hören, was sagen Sie dann?

Kurnaz: Also hätte ich jetzt dieses Buch nicht geschrieben, wären viele Sachen einfach verschwunden. Niemand würde von jeweils was wissen können. Ich habe auch mit diesem Schreiben des Buches vielen Menschen sozusagen einen Gefallen getan, indem Sachen aufgedeckt werden durch dieses Buch halt.

Zum Beispiel, wo ich hier zurückgekommen bin, da wusste noch niemand in Deutschland, außer einige Politiker, dass die KSK damals in Afghanistan gewesen ist und patrouilliert haben. Heutzutage wissen ja alle, dass das so gewesen ist. Aber was ich sagen möchte, ist: Die Politiker, einige Politiker haben es geschafft, sehr große wichtige Sachen einfach vor den Menschen in Deutschland geheim halten zu können. So ähnliche Sachen werden auch mit diesem Buch halt auch aufgedeckt sozusagen.