"Ich bin der, dem alle Reißverschlüsse reißen"

31.10.2007
Der 1970 in Berlin geborene Jochen Schmidt gehört zum festen Kern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", an dessen Gründung er 1999 beteiligt war. Im gleichen Jahr gewann er den Open-Mike-Wettbewerb und debütierte 2000 mit dem Erzählungsband "Triumphgemüse".
Dass Schmidt 2004 der Förderpreis für Komische Literatur zuerkannt wurde, ist kein Versehen. Denn obwohl er zu jenen Autoren gehört, die wie Wladimir Kaminer, Jakob Hein oder Robert Naumann von den dunkel eingefärbten Rändern idealisierten Großstadtlebens her schreiben, zeugen sein schwarzer Humor und die brillant ausgestellten rhetorischen Depressionen von einer singulären Begabung.

Seine mit mindestens 50 Prozent realem Schmidt-Anteil ausgestatteten Ich-Erzähler stolpern durchs Leben ohne zu verstehen, wer da stolpert. Sie verpassen nicht nur die besten Gelegenheiten, intelligente Fragen im richtigen Moment zu stellen oder sich zu verlieben, sondern sich selbst.
Für eine Fehleranalyse war es also höchste Zeit. Die liegt nun unter dem Titel "Meine wichtigsten Körperfunktionen" vor. Mit einem gut ausgebildeten Spürsinn fürs Pathologische, erkundet Schmidt den dunklen Kontinent Körper. Sein anachronistischer Trotz, alles zu ignorieren, was Medizin, Psychoanalyse oder alternative Heilmethoden empfehlen, zahlt sich literarisch aus.

Unter "Meine Grübelei" werden die Traumata der Kindheit enthüllt und der Abschnitt "Mein schlechtes Gewissen" beginnt mit der erschütternden Erkenntnis: "Wie soll man den Schmerz wieder gutmachen, den man der Mutter bei der Geburt bereitet?". Inkompetenz, Unflexibilität, Vergesslichkeit, sogar Todessehnsucht werden diagnostiziert. Selbst unter dem hoffnungsfroh stimmenden Motto "Meine Vielschichtigkeit" sind nur Negativbefunde á la Woody Allen zu registrieren: "Ich bin der, dem alle Reißverschlüsse reißen" und "Ich bin der, der im Vorbeigehen an einem Blatt zupft, und dann fällt der Baum um". Dass kein Mitleid mit dieser Figur aufkommt, liegt daran, dass Schmidt die Partitur des Komischen beherrscht.

So verbirgt sich hinter seiner literarischen Checkliste eine Idee, der es an theoretischem Basisdenken nicht mangelt. Die Leichtigkeit, mit der er die Palette aller möglichen Katastrophen aufruft, ist die des Nihilisten. Indem Schmidt das Nichts hinter jedem und allem verkündet, sucht er nach der Würde des Kreatürlichen und einem gesunden Menschenverstand. Seine nihilistischen Pamphlete werden von der egozentrischen, fast egomanischen Schrumpfung des Blickwinkels bestimmt, in dem das Ich zu verschwinden droht.

Rezensiert von Michael Opitz

Jochen Schmidt: Meine wichtigsten Körperfunktionen
C.H. Beck 2007. 144 Seiten. 16 Euro.