Ian McEwan: „Die Kakerlake“

Kafka, Kakerlaken und der Brexit

03:20 Minuten
Eine amerikanische Großschabe in einer chinesischen Kakerlaken-Farm
Leben im Verborgenen und fressen Vorräte: Kakerlaken. © imago / Manngold
Von Jens-Peter Marquardt · 27.09.2019
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Vor über hundert Jahren verwandelte Franz Kafka den Reisenden Gregor Samsa literarisch in kriechendes Ungeziefer. Der britische Erfolgsautor Ian McEwan verwandelt in seiner Satire eine Kakerlake nun zurück – in den britischen Premierminister.
"Vor dieser Nacht war Jim Sams noch eine Kakerlake, die irgendwo im langsam verfallenden Gemäuer des britischen Parlaments, des Palace of Westminster, lebte. Jetzt ist er plötzlich Mensch geworden, wacht in Downing Street 10 auf und ist Premierminister."
Ian McEwan ist ein entschiedener Gegner des Brexit. Er hat lange darüber nachgedacht, wie er den Irrweg seines Landes literarisch verwandeln könnte. Herausgekommen ist eine Satire:
"Ich musste mich einfach damit auseinandersetzen und meine Sicht der Dinge niederschreiben. Eine Satire schien mir dazu der richtige Weg. Mehr oder weniger treffen hier Gelächter und Verzweiflung aufeinander."

Absurd wie der Brexit

Irgendwann in diesem Sommer hatte McEwan sich an Die Verwandlung von Franz Kafka erinnert. Danach ging alles ganz schnell, nur anders herum. Bei Kafka wird Gregor Samsa vom Menschen zum Käfer. McEwan macht eine Parlaments-Kakerlake zum britischen Regierungschef Jim Sams. Das Wort "Brexit" taucht in dieser Anti-Brexit-Satire allerdings gar nicht auf:
"Ich habe verzweifelt nach etwas gesucht, das ähnlich absurd wie der Brexit ist. Und bin darauf gekommen, einfach den Geldfluss umzukehren: Arbeitnehmer zahlen dafür, dass sie arbeiten. Kunden kaufen ein und bekommen dafür vom Ladenbesitzer Geld. Das führt zu ziemlich viel Ärger, wenn Sie das auch im internationalen Handel anwenden. Wenn Sie Waren exportieren, müssen Sie dafür dann auch das Geld mitschicken", sagt McEwan.
Und so kämpfen in dieser Erzählung die Reversalisten, die Umdreher, gegen die Clockwiser, die weiterhin im Uhrzeigersinn voran gehen wollen. Übersetzt in die Realität sind es Brexiters gegen Remainer. Warum wollen die Reversalisten alles umdrehen?
"Because", lässt Ian McEwan den Premierminister sagen. "Weil." Nicht mehr. Und wenn sie schon keine Begründung haben, so haben die Reversalisten doch immerhin eine Hymne: Walking Back to Happiness von Helen Shapiro aus dem Jahr 1961.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen: beabsichtigt

The Cockroach ist ein großer Spaß auf 100 Seiten. In den Nebenrollen ein seniler Oppositionschef und ein unterbelichteter US-Präsident, der hier Archie Tupper heißt. Eigentlich kann Literatur, können Phantasie und Fiktion, kaum noch die Absurdität übertreffen, die derzeit tatsächlich Großbritannien und die Politik in Westminster beherrscht.
Das schafft man nur, wenn man eine Kakerlake in einen Premierminister verwandelt – und den Reversalismus alias Brexit am Ende als Komplott der Kakerlaken gegen die Menschheit darstellt.
Irgendwie ist das befreiend, für kurze Zeit jedenfalls. Und auf jeden Fall lesenswert.
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