Hymnische Ode an das Meer

Rezensiert von Lutz Bunk |
"Gefährliche Gezeiten" ist der deutsche Titel des Debütromans des US-Amerikaners Jim Lynch. Der Originaltitel ist präziser: "The highest tide". Die höchste Flutwelle seit 55 Jahren brandet am Ende des Romans an die Ufer jener pazifischen Bucht in der Nähe von Seattle, wo Autor Lynch und sein Ich-Erzähler leben.
Miles O'Mailey ist 13 Jahre alt, rothaarig, weitaus intelligenter als alle seine Klassen- und Spielkameraden, aber zu seinem Leidwesen auch einen Kopf kleiner als sie. Miles' große Leidenschaft gilt dem Meer.

Anders als seine pubertierenden Freunde ist er ein Romantiker. Während sie Sex-Magazine studieren, liest er Biologie-Bücher und bessert mit dem, was er in der Bucht bei Ebbe an Getier aufsammelt, das Taschengeld auf. Meist nachts ohne Wissen der Eltern unterwegs, macht Miles einige Entdeckungen: Er findet den größten je entdeckten Kalmar, einen Tintenfisch, prophezeit die Monsterflut am Ende des Romans und wird wider Willen zu einem Medien- und Esoterik-Star.

Ironisch und maliziös beschreibt Lynch die Massenhysterie, die im Lande ausbricht, als die Medien Miles zum Messias ernennen. Er lässt Miles und sein Kumpel Kenny Phelps, ein Sexbesessener, dessen einziges Hobby das Spielen der Luft-Gitarre ist, wie Mark Twains Freundespaar "Tom Sawyer und Huckleberry Finn" auftreten. Man darf herzlich lachen bei der Lektüre.

Wie bei Twain ist die Welt nicht heil. Miles' Eltern denken an Scheidung, Kenny hat seinen Vater noch nie gesehen. Die Tochter des Nachbarn, in die sich Miles verliebt, spielt in einer Punk-Band und hat beste Chancen, ein Junkie zu werden. Zudem bedrohen biologische wie Klimaveränderungen die Umwelt.

Dennoch steuert der Roman auf ein Happy-End zu. Die Leser der angelsächsischen Literatur glauben daran, dass Einzelne, insbesondere Jugendliche, in der Lage sind, die Realität zu durchschauen und zu verändern. So gelingt es dem kleinwüchsigen 13-Jährigen, Biologen zu alarmieren, seine Eltern ihre Scheidungsabsichten überdenken zu lassen und Zugang zu der drogengefährdeten Nachbarin zu finden.

Von Menschen erzählt Lynch im typisch trocken-ironischen Stil angelsächsischer Literatur. Ein großer Teil des Romans besteht aber aus der Beschreibung des Meeres und seiner Lebewesen, und hier läuft Lynch zu großer Form auf. Ein amerikanischer Kritiker nannte das Buch eine hymnische Ode an das Meer.

Ich konnte mich nicht satt daran lesen, wie Lynch pfirsichfarbene Jakobsmuscheln beschreibt oder dicke Purpurquallen, die rhythmisch wie blutige Herzen pulsieren. Damit kontrastiert die Sprache der Teenager, für die ein "Riesentintenfisch (...) Augen so groß wie Radkappen" hat. "Gefährliche Zeiten" ist ein Biologie-Buch, das plötzlich zum Thriller wird, und eine Liebeserklärung an das Meer. Entertainment at its best.


Jim Lynch: Gefährliche Gezeiten
Aus dem Amerikanischen von Anne Spielmann.
Bloomsbury Verlag. Berlin 2005.
228 Seiten, 18 Euro