Hustensaft zur Kälbermast

Von Mirko Smiljanic · 08.08.2013
Am 8. August 1988 erlebte die Bundesrepublik ihren bis dahin größten Landwirtschaftsskandal. Ein Züchter hatte Kälbern verbotene Hormone gespritzt, um das Schlachtgewicht der Tiere in die Höhe zu treiben. Als Konsequenz änderten sich die Bedingungen für die Kälbermast.
Am 8. August 1988 hängen im Schlachthof Bocholt wie jeden Tag Hunderte Kälber an den Haken. Auf den ersten Blick nichts Besonderes, doch was die von der Staatsanwaltschaft beauftragten Veterinärmediziner am Kalb mit der Nummer 713 entdecken, lässt sie aufhorchen: winzige Knötchen am Hals des Tieres, verursacht durch Spritzen, mit denen Mäster Medikamente verabreicht hatten. Damit bestätigte sich der Anfangsverdacht, dass zumindest ein Landwirt wachstumsfördernde Hormone in der Mast einsetzt. 14.000 Kälber beschlagnahmen die Behörden im Kreis Borken, bei 4.200 Tieren finden sie Spuren verbotener Hormone. Ein Skandal, wie ihn die bundesdeutsche Landwirtschaft noch nicht erlebt hat. Zwei Tage später, am 10. August 1988, tritt der damalige Landwirtschaftsminister Klaus Matthiesen vor die Presse.

"Deshalb wird die Landesregierung nach rechtlich notwendiger Anhörung des Betroffenen veranlassen, dass die Tötung dieser 4.200 Kälber in Tierkörperbeseitigungsanstalten angeordnet wird. Die Tiere werden nach der Tötung nicht mehr für den menschlichen Verzehr freigegeben."

Der Großmäster Felix Hying wird wegen Verdunklungsgefahr verhaftet, in der Gemeinde Südlohn-Oeding patrouillieren Tag und Nacht Polizisten. Viele Landwirte mästen hier im Auftrag Hyings Kälber, keines – so die Maßgabe der Behörden – darf den Stall verlassen.
Sexualhormone wie Östrogene und Androgene wurden schon vor dem 8. August 1988 in der Mästerszene hin und wieder eingesetzt. Neu aber waren sogenannte Beta-Agonisten, die nicht unbedingt gespritzt werden mussten, sondern auch unter das Futter gemischt wurden. Schon damals war ihr Einsatz in der Mast verboten, allerdings war der damalige Beta-Agonist Clenbuterol …

"... zugelassen als Anti-Asthma-Substanz, als Hustenmittel, und es war dann eben auffallend, dass davon plötzlich sehr viel verkauft wurde in die Kälbermast und um eine anabole Dosis zu kriegen, müssen Sie auch zehn Mal so viel dosieren als quasi bei einem Hustenfall notwendig wäre."

Helga Sauerwein ist heute Direktorin am Institut für Tierwissenschaft der Universität Bonn. 1988 schrieb sie an der Universität München ihre Doktorarbeit über den Nachweis von Hormonen in der Kälbermast. Eine Portion Kalbsleber, erinnert sie sich, hatte damals so viele Hormone wie eine Asthmatablette. Herzrasen und ein erhöhter Augeninnendruck waren die Folge, viele Patienten wurden in Krankenhäuser eingewiesen. Bei den Kälbern bewirkten die Hormone eine Umverteilung von Nährstoffen.

"Das heißt, sie bekommen einen höheren Anteil an Muskelfleisch und einen reduzierten Anteil an Fett."

Der Einsatz von Hormonen und Pharmazeutika in der Tiermast sei keineswegs auf die Kälbermast beschränkt, kritisierte damals der agrarpolitische Sprecher des Umweltschutzverbandes BUND, Hubert Weiger.

"Ob Schwein, Kalb oder Huhn, meist hat der Verbraucher statt des viel gepriesenen Qualitätsprodukts aus deutschen Landen einen Satansbraten auf dem Tisch."

Auch in Ulm und Kiel ermitteln die Behörden, in Baden-Württemberg kamen die Fahnder drei Unternehmern auf die Spur, die ihren Kälbern ebenfalls Hormone verabreicht hatten.
Der angeklagte Großmäster Felix Hying schwieg in der Öffentlichkeit beharrlich zu den Vorwürfen. Nur ein einziges Mal antwortet er auf Fragen eines Reporters.

Reporter: "Was sagen Sie zu dem Vorwurf, Sie hätten Tausende von Kälbern mit Hormonen gespritzt?"
Felix Hying: "Nun lassen Sie uns mal erst die Verhandlung führen."
Reporter: "Herr Hying, man wirft Ihnen vor, Sie hätten die ganze Branche in Verruf gebracht, müssen Sie da nicht doch jetzt endlich was sagen?"
Hying: "Fragen Sie doch im Kollegenkreis."
Reporter: "Was sagen die Kollegen?"
Hying: "Sie haben doch genügend recherchiert?!"

Im März 1991 legte Felix Hying ein Geständnis ab. Zwischen März und Juni 1988 habe er seinen Kälbern verbotene Hormone gespritzt, die Mittel flaschenweise von einem Händler an der deutsch-niederländischen Grenze bekommen. Hying erhält drei Jahre Haft und Berufsverbot, sein Futtermeister zwei Jahre auf Bewährung.

Als Konsequenz aus dem Hormon-Skandal änderte die Bundesregierung die Bedingungen für das Mästen von Kälbern: Sie dürfen nur noch maximal acht Wochen in Boxen gehalten werden. Das Platz- und Futterangebot wurde neu geregelt, außerdem sollten Veterinärmediziner strengere Kontrollen bei den Landwirten durchführen.
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