Hunger und Armut in den USA

Jeder achte Amerikaner hat nicht genug zu essen

06:23 Minuten
Freiwillige sortieren Lebensmittelspenden in Florida vor ihrer Verteilung.
Lebensmittelspenden in Florida: Die Zahl der Bedürftigen hat in der Pandemie drastisch zugenommen. © picture alliance / NurPhoto | Paul Hennessy
Von Doris Simon · 11.12.2020
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Die USA sind ein reiches Land in einer schweren sozialen Krise. Und Corona macht alles noch schlimmer. Tafeln und Suppenküchen im ganzen Land melden einen Zulauf wie nie.
Jibolah überlegt nicht lange und lädt sich die Kiste mit Obst, Gemüse, Fleisch- und Milchprodukten auf die Schulter: Das reicht für zwei bis drei Tage Essen für seine sechsköpfige Familie.
Der gebürtige Nigerianer hat studiert, jetzt fährt er für Uber und arbeitet zwei Tage die Woche in einem Restaurant. Mehr Arbeit gibt es nicht, aber zum Leben reicht es auch nicht. Die Lebensmittel von Martha´s Table sind für den 42-jährigen überlebenswichtig.
Hunger und Ernährungsarmut gab es schon lange vor Corona, mit der Pandemie ist alles nur schlimmer geworden: 54 Millionen US-Bürger waren im November auf Unterstützung angewiesen, 45 Prozent mehr als im letzten Jahr, Tendenz weiter steigend.
Tafeln und Suppenküchen im ganzen Land melden einen Zulauf wie noch nie. Jeder siebte, achte Amerikaner hat nicht genug zu essen. Bei Martha´s im Washingtoner Norden haben sie vor Corona 1200 Lebensmitteltüten am Tag ausgegeben, inzwischen sind es 2400. Das sei möglich, erklärt Mitarbeiter Antoine, weil es so viele großzügige Leute gebe.
Gerade fährt ein Wagen in die enge Hofeinfahrt: Ob sie Sandwiches abgeben könne, fragt die ältere Frau. Großartig, sagt Antoine, und hilft der Frau beim Ausladen. Alles, was diese Tafel an Bedürftige weitergibt, ist gespendet oder wird mithilfe von Spenden bezahlt.

500 Sandwiches mit Erdnussbutter und Marmelade

Carol kommt aus einem Vorort von Washington. Sie und andere Bewohner des Apartmentgebäudes, in dem Carol lebt, haben die 500 Sandwiches mit Erdnussbutter und Marmelade geschmiert. Sie wollten nicht nur Geld spenden, erzählt die 65-jährige, sondern praktisch etwas gegen hungrige Mägen machen.
Kein Geld für Essen, dieses Schicksal droht in den Vereinigten Staaten keineswegs nur Menschen am unteren Rand der Gesellschaft. Arbeitslosenhilfe gibt es nur ein halbes Jahr, bei Mietrückstand verliert man oft rasch die Wohnung.
Präsident Trump hat per Dekret durchgesetzt, dass food benefits, früher Lebensmittelmarken, nicht mehr an alle Bedürftigen ausgegeben werden. Sozialexperten warnen, keine noch so engagierte private Wohlfahrt könne Bedürftige auffangen, wenn sich der Staat nicht kümmere. Schon gar nicht in der schlimmsten Wirtschaftskrise seit der Großen Depression in den 1930er-Jahren.
Nicht alle Bedürftigen bei Martha´s sehen auch bedürftig aus: Viele sind zum ersten Mal in ihrem Leben auf Lebensmittelhilfe angewiesen. Mit der Krise war auf einmal der Job weg, dann ging es bergab, erst schrittweise, dann immer schneller.
Wie bei Isaak, schlank, gepflegt, gediegene Kleidung. So tolle Leute, lobt er die Tafel überschwänglich und zeigt seine volle Tüte. Aber dann bricht es aus ihm heraus: Er habe sein Leben lang gearbeitet, als Verkäufer und in der Verwaltung als Sachbearbeiter, immer Steuern gezahlt.

Für Telefonate fehlt Isaak das Geld

Isaak ist seit acht Monaten arbeitslos. Er werde von einer Behörde an die andere verwiesen, alles online, keiner ansprechbar, fürs Telefonieren fehle ihm das Geld. Ihm sei nichts geblieben. Manchmal, sagt Isaak, "denke ich: Lass mich doch an Covid erkranken und sterben."
Hunger und Armut treffen alle Bevölkerungsgruppen in den Vereinigten Staaten. An diesem Mittag kommen viele Schwarze und Menschen mit migrantischen Wurzeln zur Tafel in den Washingtoner Norden. Aber Hunger und Ernährungsarmut betreffen nicht nur Minderheiten: US-weit sind die meisten Armen weiß.
Die Washington Post berichtete diese Woche, in den letzten Monaten hätten Ladendiebstähle deutlich zugenommen. Nicht Teures, sondern Brot, Nudeln, Reis. Babynahrung hätten viele Läden in abschließbare Schränke gepackt, weil sie so oft verschwinde.
In der kurzen Schlange vor Martha´s Table mögen nicht alle Betroffenen ins Mikrofon sprechen. Sie schämen sich, sagt Kevin, er kenne das gut. Vor einigen Jahren wurde der 55-jährige krank. Er verlor erst seinen Job, dann war die Wohnung weg.
"Als ich im Obdachlosenheim war", erzählt Kevin, "da konnte ich nicht aufsehen, nicht in den Spiegel schauen, ich habe mich so geschämt." Wegen des Klischees.
In den calvinistisch geprägten USA schwingt immer noch ein Hauch von "selber Schuld" mit, wenn es um Armut, Obdachlosigkeit und Hunger geht. Kevin hat heute wieder eine Wohnung. Er arbeitet ehrenamtlich in einer Suppenküche und macht Lobbyarbeit für Obdachlose. In diesem Jahr sind die Zahlen in Washington stark angestiegen, so wie überall in den USA.

Tina hat noch eine Wohnung: "Thank God"

Tina hat noch eine Wohnung. "Thank God", sagt die zierliche, fröhliche Frau mit den langen Haaren. Aber die 51-jährige hat kein Geld und nichts zu essen. Und 15 Kinder und 32 Enkel, viele von ihnen betreut sie tagsüber.
Bekommt sie Sozialhilfe? Tina schüttelt den Kopf. Ihre Mutter helfe ihr, aber die sei auch schon älter. Mit zwei Tüten mit Gemüse, Bananen und Milch für die Kinder, eingedostem Hühnchen und Thunfisch verlässt sie die Tafel. Ihr gehe es gut, sagt sie und bedankt sich nochmal bei den Leuten von der Tafel.
Wenn da nicht die Angst wäre, auf der Straße zu landen: Tina hat Mietschulden, wie jeder vierte Mieter in den Vereinigten Staaten. "Hoffentlich treibe ich bis zum Monatsende Geld auf." Sonst, sagt Tina, "sitze ich bald in der Kälte".
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