Hunger nach Leben

Die amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag stirbt nach langem, unerbitterlichem Kampf 2004 an Blutkrebs. In "Tod einer Untröstlichen" erinnert sich ihr Sohn David Rieff an das letzte Lebensjahr seiner Mutter, an ihren Lebenswillen und seine Lebenslügen.
Weder Susan Sontag noch ihr Sohn David Rieff wissen, was sich hinter der Diagnose "Myelodysplastisches Syndrom" verbirgt, die ihnen der Arzt an einem Nachmittag Ende März 2004 mitteilt. Dass dahinter der Schrecken, die Todesbedrohung lauert, begreifen sie jedoch schnell, zumal dieser Mediziner keinen Zweifel daran lässt, dass hier nur mit finalem Ausgang zu rechnen ist. Wie schnell man zu "Dorftrotteln" wird angesichts eines zum Mitgefühl unfähigen Arztes, davon erzählt David Rieff eindrucksvoll auf den ersten Seiten seines Erinnerungsbuchs.

Susan Sontag ist 71 Jahre alt, als sie – die zweimalige Krebsbezwingerin – die neue Krankheitsdiagnose bekommt. Sie fragt nach Behandlungsmöglichkeiten, nach Überlebenschancen – und wird ungetröstet und ohne Hoffnung entlassen. Seine Mutter – schreibt der Autor – sei eine Kämpferin gewesen, eine, die sich vom Glück begünstigt sah, die den Tod nicht nur fürchtete, wie wohl die meisten Menschen das tun, sondern die ihn grundsätzlich ablehnte und verabscheute, ihn – wie der von ihr bewunderte Schriftsteller Elias Canetti – als Todfeind bekämpfte. Sie zieht die Möglichkeit zu sterben deswegen nicht wirklich in Erwägung, unterzieht sich stattdessen furchtbarer Torturen und wenig aussichtsreicher Behandlungen, vor allem aber will sie, die Intellektuelle mit dem "unstillbaren Hunger nach Wahrheit", nur noch Mitteilungen, die ihren Hunger nach Leben stillen, die sie bestärken in ihrem Willen um Aufschub.

Der Sohn erinnert sich voller Liebe und voller Zweifel an das letzte Lebensjahr seiner Mutter und an die Rolle, die er spielte. Er log und verdrängte, verfälschte Informationen, um ihr die Hoffnung zu geben, die sie wollte. Kann man das Richtige tun angesichts des Leidens und des drohenden Todes eines geliebten Menschen? Kann man ihm helfen, sich als guter Begleiter und Tröster verhalten? Das sind die Fragen, die dieses schmerzhafte und kluge Buch durchziehen, in dem es immer wieder um die Angst geht, die der Kranken und die derjenigen, die weiterleben müssen.

David Rieff zitiert ein jüdisches Sprichwort: "Es gibt nicht nur die Pflicht, dem anderen alles zu sagen, was er verkraften kann, sondern auch die Pflicht, das nicht zu sagen, was er nicht verkraften kann." Während der Krankheit seiner Mutter ist er sich dieser Haltung sicher. Er weiß, dass sie nicht vom Tod reden, ihn nicht an sich herankommen lassen will. Die Zweifel beginnen später. Von ihnen handelt dieses besondere Buch eines Sohnes, der – und das ist kein geringer Verdienst – immer diskret bleibt, weder den eigenen Schmerz noch den seiner berühmten Mutter voyeuristisch ausstellt.

Besprochen von Manuela Reichart

David Rieff: Tod einer Untröstlichen – Die letzten Tage von Susan Sontag
Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser
Hanser Verlag, München 2009
160 Seiten, 17,90 Euro