Humorvoll gegen unmenschliche Lebensbedingungen

Dai Sijie schildert die Lebenswege dreier chinesischer Kinder, geboren als Ärmste der Armen neben einer riesigen Müllkippe. Doch trotz all des Elends in ihrem Leben verfallen sie nicht in Resignation. Dem Autor gelingt es, in seinen Geschichten Leichtigkeit zu vermitteln, sprachlich brillant - und immer überraschend.
Drei Geschichten aus dem heutigen China verbergen sich hinter dem Titel "Der kleine Trommler". Die erste mit dem Titel "Ho Chi Minh" handelt von einem 12-jährigen Jungen, der an Progerie erkrankt ist und somit wie ein alter Mann aussieht. Eines Tages wird er von seiner stummen Tante an den Gefängnisdirektor verkauft.

Der Junge glaubt, dass man ihn wegen seines Talents, auf der Trommel zu spielen, mitgenommen hat. Er übt fleißig und ist bereit, auf alle Forderungen, die man an ihn stellt, einzugehen, damit er eines Tages vor einem großen Publikum auftreten kann. Doch die Aufgaben sind seltsam. Er muss Häftlingskleidung tragen, lernen Handschellen und eine Eisenkette am Fuß zu tragen und den Lebenslauf des Häftlings 9413 auswendig lernen – bis er eines Tages seinen Auftritt als Ho Chi Minh hat.

In der zweiten Geschichte "Der Bogart vom Wasserreservoir" glaubt eine kleine Eisläuferin, dass ihr Vater Bogart Schuld hat am Verschwinden ihrer Mutter. Diese hat auf einem Schrottplatz gearbeitet, wo Elektromüll teilweise recycelt wird. Auf Grund der Arbeit hat sie eine Bleivergiftung, die zur Demenz führt. Ihr Verhalten wird unberechenbar und zur Belastung für die Familie. Die Tochter "beweist", dass Bogart die Mutter erschossen hat und löst so eine weitere Tragödie aus.

In "Der Gepanzerte, der Berge durchquert" schürt eine alte Schmiedin noch einmal das Feuer, um eine Eisenkette zu schmieden, mit der sie ihren behinderten Sohn anketten will.

Alle drei Geschichten spielen auf der "Insel der Edlen". Hier leben die ärmsten der Armen neben einer riesigen Müllhalde. Ihre Arbeit ist "Wertstoffgewinnung" aus allem Schrott, den die moderne Industriewelt hierher liefert. Die Folgen sind Blei- Cadmium- und Quecksilbervergiftungen.

In kurzen, prägnanten Bilder schildert Dai Sijie dieses Horrorszenarium. Doch er beschreibt die Lebenswege der Kinder, die seine drei Geschichten bestimmen, auch mit viel Humor und einer Leichtigkeit, die den Leser oft verblüfft und das Elend der ganzen Geschichte erst auf den zweiten Blick wirklich zum Tragen kommen lässt. Die Protagonisten fügen sich in ihre Lebensumstände mit stoischer Gelassenheit, ohne das Elend wirklich zu akzeptieren und in Resignation zu verfallen.

International wurde Dai Sijie bekannt mit dem auf Französisch geschriebenen Bestseller "Balzac und die kleine chinesische Schneiderin". Seit 1984 lebt er als Autor und Regisseur in Frankreich, nachdem er als Jugendlicher in China zur kulturellen Umerziehung auf dem Lande gezwungen worden war.

Von diesen Erfahrungen speisen sich seine Gratwanderungen zwischen surrealen und tragikomischen Lebensläufen. Sprachlich brillant entwickelt er seine Geschichten mit einem jeweils überraschenden Ende. Sie sind kurzweilig und berührend. Selten ist eine Anklage gegen unmenschliche Lebensbedingungen so fein und humorvoll geschrieben worden.

Besprochen von Birgit Koß

Dai Sijie: Der kleine Trommler
Aus dem Französischen von Eike Findeisen
Piper Verlag, München 2012
151 Seiten, 16,99 Euro