Humboldts Erbe

Wie der gläserne Mensch geschaffen wurde

04:02 Minuten
Collage von Männern und Daten verbunden mit Pfeilen und einer Platine
Die Digitalisierung führe dazu, dass man fast nichts mehr tun könne, ohne eine Datenspur zu hinterlassen, meint Roberto Simanowski. © imago/ Ikon Images/ Stuart Kinlough
Überlegungen von Roberto Simanowski · 29.08.2019
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Die Vermessung des Sozialen und der Verlust der Privatsphäre scheinen Resultate der neuen Medien zu sein. Der Medienwissenschaftler Roberto Simanowski erinnert zum 250. Geburtstag von Alexander von Humboldt daran, dass der Vermessungshype ein Erbe der Aufklärung ist.
"Ein Hügel, dessen Höhe nicht bekannt ist, beleidigt die Vernunft": Diesen Satz soll der Naturwissenschaftler und Weltreisende Alexander von Humboldt einmal gesagt haben - und nichts symbolisiert wohl besser als dieser Satz den Wissensdrang der Aufklärung, der im 19. Jahrhundert zur Blüte der Naturwissenschaften führte.
Rund hundert Jahre später, 1907, preist der deutsche Soziologe Georg Simmel das Geheimnis als "eine der größten geistigen Errungenschaften der Menschheit." Solch ein Lob aus dem Munde eines Soziologen ist bemerkenswert – immerhin ist es dessen Zunft, die der Gesellschaft ihre Geheimnisse entlocken will. Aber vielleicht dachte Simmel ja an seine Kollegen von der Psychologie und Psychoanalyse, die zeitgleich schon die Vermessung der Seele betrieben.

Der Virus des Humboldtschen Vermessungsdrangs

Ein Jahrhundert später, heute, spricht man vom "metrischen Ich" und vom "gläsernen Menschen". Der Virus des Humboldtschen Vermessungsdrangs hat sich in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ausgebreitet, wobei die Soziologie sich mit der Naturwissenschaft nun auch begrifflich verbündet, wenn der neue Forschungszweig für die Vermessung des Gesellschaftlichen "Social physics" genannt wird.
Die Digitalisierung führt dazu, dass man fast nichts mehr tun kann, ohne eine Datenspur zu hinterlassen. Jede Suchanfrage ist eine Aussage über unsere Interessen, jedes Foto, das wir von einem Hügel in unserem sozialen Netzwerk posten, verrät, wo wir uns befinden. Google prahlte daher schon 2010, nicht nur zu wissen, wo wir sind und waren, sondern auch, was wir denken. Und jüngste Forschungen ergeben, dass 150 Likes, die ein Mensch im Internet vergibt, mehr über ihn verraten als seine Eltern wissen, 300 Likes sogar mehr als die Partnerin weiß.

Wir vermessen uns selbst

Wer jetzt an George Orwell denkt, liegt jedoch falsch. Richtig wäre Alexander von Humboldt. Denn wir sind nicht die Opfer der Überwachung, sondern ihre treibende Kraft. Wir posten Updates zu unserem Leben, wir posten Likes, wir vermessen sogar unsere Schritte, unsere Speisen, unseren Schlaf. Die Fan-Gruppe dazu heißt "Quantified Self", ihr Motto: "self knowledge through numbers".
Klar, wir machen das nicht von allein und nicht nur für uns. Es gibt viele Serviceanbieter, die mit ihren Apps die Vermessung des Sozialen vorantreiben. Der Taxi-Dienst Uber hatte vor fünf Jahren sogar Karten der One-Night-Stands erstellt, indem er die Fahrten in Beziehung setzte, die an einem Wochenende zwischen zehn Uhr abends und vier Uhr morgens erst zu und dann von einer bestimmten Adresse erfolgten.

Es unvernünftig, alles wissen zu wollen

In diesem Falle darf man durchaus an Orwell denken. Aber mit Humboldt im Hinterkopf! Denn auch hier geht es weniger ums Überwachen zum Zweck der Disziplinierung als ums Vermessen zum Zweck.
Ja, zu welchem Zweck eigentlich? Uber konnte das nicht so genau sagen. Es sprach von einem "analytischen Spielchen". Es hätte auch sagen können: Daten, die man sammelt, aber nicht in Beziehung miteinander setzt, sind eine Beleidigung der Vernunft.
Ist der Mensch das Opfer seiner Neugier geworden? Und seiner Fähigkeit, diese in fast jeder Hinsicht zu befriedigen? In einigen Tagen, am 28. September, ist Simmels 101. Todestag. Anlass genug, sein Lob auf das Geheimnis Humboldts Lob der Vermessung zur Seite zu stellen. Denn manchmal ist es einfach unvernünftig, alles wissen zu wollen. Diplomatinnen und Diplomaten sowie Eltern verstehen das, erfolgreiche Ehepaare auch – die Erkenntnis-Euphoriker der Data Science müssen es noch lernen.

Roberto Simanowski ist Kultur- und Medienwissenschaftler und lebt nach Professuren an der Brown University in Providence, der Universität Basel und der City University of Hong Kong als Medienberater und Buchautor in Berlin und Rio de Janeiro. Zu seinen Veröffentlichungen zum Digitalisierungsprozess gehören "Facebook-Gesellschaft" (Matthes & Seitz 2016) und "The Death Algorithm and Other Digital Dilemmas" (MIT Press 2018).

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