Humboldt-Jahr 2019

"Weniger feiern, mehr lesen"

Der junge Alexander von Humboldt, gemalt von F. G. Weitsch
Der junge Alexander von Humboldt, gemalt von F. G. Weitsch © imago / United Archives
Oliver Lubrich im Gespräch mit Stephan Karkowsky  · 28.12.2018
2019 jährt sich der Geburtstag des berühmten Naturforschers Alexander von Humboldt zum 250. Mal. Wie modern er im Umgang mit Medien agierte und von seinen Reisen berichtete, ruft der Berner Literaturwissenschaftler Oliver Lubrich in Erinnerung.
"Humboldt ist jahrelang mehr gefeiert als gelesen worden, vielleicht sollte man das jetzt umkehren: weniger feiern mehr lesen", lautet die Empfehlung des Berner Literaturwissenschaftlers Oliver Lubrich für das kommende Jubiläumsjahr, in dem an den 250. Geburtstag des berühmten Gelehrten und Naturforschers Alexander von Humboldt (1769-1859) auf vielfältige Weise erinnert wird.

Immer noch unerforscht

Es sei merkwürdig, dass das Werk einer so prominenten Figur der Geistesgeschichte erst so spät erschlossen werde, sagte Lubrich im Deutschlandfunk Kultur. An der Berner Universität würden jetzt erstmals dessen Aufsätze, Artikel und Essays herausgegeben. "Dass das jetzt nach so langer Zeit zum ersten Mal geschieht, ist schon sonderbar", sagte der Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Bern, von dem im kommenden Jahr mehrere Bücher über Humboldt erscheinen.
Naturforscher Alexander von Humboldt (l)  und der Botaniker Aimé Bonpland
Der Naturforscher Alexander von Humboldt (l) mit dem französischen Botaniker Aimé Bonpland während einer Expedition in Südamerika.© imago/United Archives
Humboldt habe die Welt an seinen Erlebnissen immer teilhaben lassen und zahlreiche Artikel von seinen Reisen verfasst, sagte Lubrich. Während seiner Amerikareise 1799 habe er bereits von unterwegs Reportagen geschickt. "Er sendet Briefe in die Heimat, lanciert diese geschickt auch in verschiedenen Medien." Der Naturforscher habe live und unmittelbar von seiner Expedition berichtet, sich dabei immer aktueller Medien bedient. Heute wäre er vermutlich als Influencer und auf YouTube unterwegs. (gem)

Das Interview im Wortlaut:

Stephan Karkowsky: Nächstes Jahr ist richtig was für Entdecker. 2019 nämlich begeht die Republik das offizielle Humboldt-Jahr. Alexander von Humboldts Geburtstag jährt sich zum 250. Mal, weshalb wir uns heute Morgen eine kleine Einführung geben lassen wollen von einem ausgewiesenen Humboldt-Kenner, dem Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Bern, Oliver Lubrich. Guten Morgen, Herr Lubrich!
Oliver Lubrich: Guten Morgen!
Karkowsky: Schön, dass Sie bei uns sind. Ich glaube, ich habe im Onlinebuchhandel fünf Bücher über Humboldt gezählt, die allein Sie 2019 herausgeben, plus sämtliche Schriften Humboldts als Berner Ausgabe. Stimmt ungefähr wahrscheinlich, oder?
Lubrich: Und das ist nur die Spitze des Eisberges.
Karkowsky: Vermute ich richtig, dass das auch nur ein kleiner Teil des großen Büchertisches sein wird, den die Verlage 2019 mit Humboldt füllen werden?
Lubrich: Ja, ganz bestimmt. Humboldt ist ein eigener Kosmos, und da gibt es nicht nur für uns, sondern auch für die nächste und übernächste Generation noch reichlich zu erforschen und zu edieren.
Karkowsky: Entspricht denn die Menge der Veröffentlichungen über Humboldt auch der Menge, die Humboldt selbst zu seinen Lebzeiten veröffentlicht hat?
Lubrich: Merkwürdig ist eher, dass eine Person, eine Figur, die dermaßen prominent ist und deren Name überall gebraucht wird, erst so relativ spät, was ihr Werk betrifft, erschlossen wird. Was wir zum Beispiel in Bern machen, ist die Herausgabe von Humboldts Aufsätzen, Artikeln und Essays, die zeitlebens in Zeitungen und Zeitschriften erschienen, und dass das jetzt nach so langer Zeit zum ersten Mal geschieht, ist schon sonderbar.

Mehrere Schreibstile

Karkowsky: Humboldt war aufgeklärter Weltbürger, Universalgelehrter, Höhlenbotaniker, Entdecker, Mitbegründer der Geografie, ein Leben für die Wissenschaft – hat er denn die Welt immer auch teilhaben lassen an seinen Entdeckungen?
Lubrich: Ja, und genau das können wir an seinen Artikeln, die in Zeitungen erschienen, sehen, wie er schon während seiner amerikanischen Reise von unterwegs gewissermaßen Reportagen schickt, seine Briefe in die Heimat lanciert, diese geschickt auch in verschiedenen Medien und berichtet so mehr oder weniger live – so unmittelbar, wie es nur ging – von seiner Expedition.
Karkowsky: Nun sind Sie ja Literaturwissenschaftler, wie ist Humboldts Stil denn so, schreibt er literarisch?
Lubrich: Humboldt schreibt literarisch, er schreibt einen fiktionalen Text und ansonsten diverse literarische Reiseberichte. Man könnte sagen, Humboldt hat einen Stil, er hat aber auch mehrere Stile. Er ist allen möglichen Medien und Formen zu Hause, gerade in kleinen Formen, und das ist vielleicht neu. Wir kennen ihn bisher als den Autor groß angelegter Werke – "Kosmos" beispielsweise –, und jetzt entdecken wir ihn als Autor von Reportagen, Artikeln, Stellungnahmen, politischen Essays und vielen anderen Genres mehr.
Alexander von Humboldt auf Forschungsreise in Südamerika
Alexander von Humboldt auf Forschungsreise in Südamerika© imago
Karkowsky: Ich habe aber auch irgendwo anders gelesen, Humboldt habe im Prinzip auf dieser Amerikareise erst angefangen zu schreiben und sei weiß Gott noch nicht der Universalgelehrte in den frühen Texten, als der er heute gilt.
Lubrich: Also er hat schon durchaus vorher zu schreiben begonnen, seinen ersten Text publiziert er mit 19, 1789, im Jahr der Revolution. Zehn Jahre später, 1799, begibt er sich dann auf die amerikanische Reise. Sein Schreiben verändert sich aber, sowohl inhaltlich als auch formal. Inhaltlich, indem er merkt, dass er, um die Wirklichkeit der Tropen angemessen zu erfassen, er diverse Wissensformen zusammenführen muss. Das ist eine Art von Forschung, die uns heute sehr aktuell erscheint: problemorientiertes, fächerübergreifendes Denken.

Offen für neue Erfindungen

Karkowsky: Die vielen kleinen Veröffentlichungen, die Sie jetzt gesammelt haben und herausgeben werden, kann man dazu sagen, dass Humboldt im Prinzip so eine Art früher Influencer war, der vielleicht heute einen eigenen YouTube-Kanal betreiben und seine Entdeckungen via Instagram und Twitter in die Welt posten würde?
Lubrich: Ja, ganz unbedingt. Humboldt hat sich aktueller, diverser Medien bedient, er publiziert eben in unterschiedlichen Medien. Er interessiert sich auch sehr früh für die Fotografie, also für neue Erfindungen, und er entwickelt seinerseits medientheoretische Visionen: Wie lässt sich tropische Natur einem europäischen Publikum, das kaum reisen konnte, seinerzeit am besten vermitteln – durch so etwas wie einen Erlebnisraum, durch eine neue Konzeption von Landschaftsmalerei und dergleichen mehr. Er wäre sicherlich jemand, der sich stets der neuesten Medien bedient hätte.
Karkowsky: Er hat seine Texte auch illustriert?
Lubrich: Er hat sie selbst illustriert, er hatte Hunderte von Zeichnungen angefertigt, seine Werke enthalten 1.500 Abbildungen und mehr. Er war nicht nur Schriftsteller und Wissenschaftler, sondern auch Infografiker, Zeichner und sozusagen Landschaftsdarsteller.

Sympathisant der Revolution

Karkowsky: Natürlich tat er das, was er tat, nicht nur, weil er es wollte, sondern auch weil er es konnte: auf Schloss Tegel aufgewachsen in Berlin, finanziell unabhängig, spätestens seit dem Tod der Mutter, ein Spross der Oberklasse. Merkt man das seinen Texten an, also taucht da jemals so was wie Klassendünkel auf?
Lubrich: Klassendünkel würde ich nicht sagen, politisch war Humboldt ja eher ein Sympathisant der Revolution und jemand, der die Monarchie, den Kolonialismus kritisch sah. Sicherlich merkt man den Texten an, dass er sozusagen einen gebildeten Hintergrund hatte, also dass er über die Möglichkeiten verfügte, intellektuell wie finanziell seine Forschung unabhängig zu betreiben.
Farblithographie "Alexander von Humboldt in seinem Bibliothekszimmer in Berlin in der Oranienburger Straße 67". - Storch und Kramer nach dem Aquarell, 1856, von Eduard Hildebrandt (1818–1869)
Farblithographie "Alexander von Humboldt in seinem Bibliothekszimmer in Berlin © picture alliance / akg-images
Karkowsky: Könnte man denn Alexander von Humboldt auch sehen als quasi Vorform von Wikipedia, denn wie Wikipedia wollte er ja auch das Wissen der Welt in seinem "Kosmos" – Sie haben es erwähnt, das große Werk – zusammenfassen. Ich zitiere mal: "die ganze materielle Welt, alles, was wir heute von den Erscheinungen der Himmelsräume und des Erdenlebens wissen". Passt der Vergleich?
Lubrich: Der Vergleich passt durchaus, und zwar in mehreren Hinsichten: Zunächst, wie Sie sagen, der "Kosmos" ist, wie Humboldt selbst sagte, der tolle Einfall, eigentlich die verrückte Idee, die ganze Welt in einem Buch darzustellen. In seinen jetzt dann zugänglich werdenden diversen Schriften, den kleineren Essays und Artikeln, präsentiert Humboldt gewissermaßen einen anderen Kosmos, nämlich nicht die ganze Welt in einem Buch, sondern die ganze Welt in tausend Texten. Und dieses Projekt – und das ist vielleicht ähnlich wie bei Wikipedia, wenn man den Vergleich bemühen möchte – ist auch ein kollektives. Das heißt, Humboldt ist sehr kollaborativ, er kommuniziert mit diversen Kollegen in aller Welt und integriert deren Beiträge in seine eigenen Werke.

Internationaler Publizist

Karkowsky: Was ist denn für Sie das Spannende an den Texten, die Sie jetzt in diesen gesammelten Werken in Bern zusammenfassen wollen, was ist das Besondere daran?
Lubrich: Das wären mehrere Dinge, unter anderem, dass wir viel genauer und sozusagen in Echtzeit fast beobachten können, wie Humboldt sich entwickelt als Denker, als Schriftsteller, im Durchschnitt jeden Monat einen Text, der publiziert wird. Damit können wir auch seine Biografie, seine Publikationsbiografie viel genauer verfolgen. Dann, dass wir sehen, wie international er publizierte. Er war wahrscheinlich der internationalste Publizist seiner Zeit zwischen Bombay und Bogota, Sidney und New York.
Karkowsky: Auch sein Bruder war natürlich berühmt, Alexander von Humboldts Bruder Wilhelm von Humboldt. Für alle, die beide nicht auseinanderhalten können – wir haben jetzt schon von YouTube gesprochen, Instagram, Wikipedia –, wenn Sie einen Hashtag vergeben müssten für die beiden Brüder, wie würden die lauten?
Lubrich: Vielleicht Hashtag "zu Hause geblieben" und Hashtag "in die Welt gereist".
Karkowsky: In die Welt gereist war Alexander von Humboldt, dessen Geburtstag sich 2019 zum 250. Mal jährt. Wir sprachen darüber mit dem Berner Literaturprofessor Oliver Lubrich, der eine ganze Reihe von Veröffentlichungen zum Humboldt-Jahr vorbereitet hat. Herr Lubrich, Ihnen herzlichen Dank! Gibt es eine Veranstaltung, die Sie empfehlen würden fürs neue Jahr, oder gibt es da so viele, dass Sie sagen, ich möchte keine einzelne herauspicken?
Lubrich: Ich würde empfehlen, Humboldt ist jahrelang mehr gefeiert als gelesen worden, vielleicht sollte man das jetzt umkehren: weniger feiern, mehr lesen.
Karkowsky: Mehr lesen, und dafür gibt es eine Menge auf den Büchertischen im Jahr 2019, dem Humboldt-Jahr zum 250. Geburtstag. Ihnen herzlichen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Literaturhinweis:

Oliver Lubrich (Hrsg): "Alexander von Humboldt - Sämtliche Schriften (Studienausgabe)"
DTV-Verlag im Juli 2019
250 Euro.

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