Hühnerfleisch in Zeiten der Vogelgrippe

Seit die gefürchtete Vogelgrippe von Ostasien bis zum Ural nach Russland gewandert ist und dort ganze Hühnerbestände getötet werden mussten, ist auch bei uns in Deutschland die Furcht vor einer Übertragung auf Hühnerfarmen akut gestiegen. Obwohl wir bisher davon gekommen sind, fragen sich immer mehr Verbraucher, was eigentlich passiert, falls infiziertes Geflügelfleisch aus fernen Beständen in ihren persönlichen Magen gelangen.
"Sie glaubten sich frei, und keiner wird je frei sein, solange es Geißeln der Menschheit gibt.” Dieses Zitat stammt aus dem 1947 erschienenen Roman Die Pest von Albert Camus. Die Pest ist die Zoonose, die in der Vergangenheit am spektakulärsten in die europäische Geschichte eingegriffen hat und der ein Großteil der mittelalterlichen Bevölkerung zum Opfer fiel. Trotz des Ausmaßes der Seuche blieb ihre Ursache lange unklar. Heute wissen wir, dass das im Blut von Ratten und anderen Nagern lebende Bakterium Yersinia pestis von Flöhen auf den Menschen übertragen wird und die gefürchtete Erkrankung auslöst. Für uns ist die Pest nur noch eine historische Erinnerung, aber Ausbrüche in anderen Teilen der Welt, wie 1994 in der westindischen Stadt Surat, zeigen, dass diese Geißel der Menschheit noch lange nicht besiegt ist.

Seit dem Erscheinen von Camus´ Roman ist mehr als ein halbes Jahrhundert verstrichen und Infektionskrankheiten stellen nach Ansicht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) – weltweit gesehen – immer noch mit Abstand die häufigste Todesursache dar. Ähnlich wie William H. Stewart, der ehemalige Vorsitzende des amerikanischen Ärzteverbandes, haben sich viele Wissenschaftler geirrt: 1967 hatte Stewart enthusiastisch verkündet, es sei nun an der Zeit, das Buch der Infektionskrankheiten zu schließen. Heute schreiben wir das Jahr 2003. Mehr als 30 Jahre nach Stewarts optimistischer Einschätzung müssen wir feststellen, dass im Buch der Infektionskrankheiten seitdem neue Kapitel geschrieben und alte überarbeitet werden mussten. Und noch immer ist kein Ende abzusehen.

Undokumentiert und fehlgedeutet

Das Artenspektrum der Erreger von Zoonosen, also Krankheiten, die vom Tier direkt oder indirekt auf den Menschen übertragen werden, reicht von Prionen über Viren, Bakterien, parasitischen Einzellern und Pilzen bis hin zum mehr als zehn Meter langen Bandwurm. Nach Schätzungen der WHO erkranken Jahr für Jahr bis zu 30 Prozent der Bevölkerung industrialisierter Staaten an Zoonosen, die durch Lebensmittel übertragen werden. Allein in Deutschland belaufen sich die Behandlungskosten für diese Erkrankungen auf 125-250 Millionen Euro jährlich. Eine Spitzenstellung nehmen durch Bakterien verursachte Magen-Darm-Erkrankungen ein. An erster Stelle standen auch im Jahre 2002 erneut die Salmonellosen mit über 72.000 gemeldeten Fällen, gefolgt von ungefähr 56.000 Campylobacter-Infektionen.

Bei diesen Zahlen muss man sich jedoch vor Augen halten, dass die dokumentierten Fälle nur einen Bruchteil der Erkrankungen aufzeigen. Die Mehrzahl der Infizierten sucht keinen Arzt auf und behandelt sich selbst. Außerdem gibt es Fälle, die weder von den Betroffenen noch vom medizinischen Personal als Zoonose erkannt werden, da eine akute Erkrankung ausbleibt oder ihre Spätfolgen nicht im Zusammenhang mit einer Lebensmittelinfektion gesehen werden. So kann sich nach einer von Campylobacter-Arten verursachten Diarrhö das so genannte Guillain-Barré-Syndrom entwickeln, bei dem es durch Myelinabbau an den peripheren Nerven zu einer schlaffen Lähmung der Gliedmaßen kommt. Nach überstandener Salmonellose hingegen ist das Auftreten von chronischen Arthritiden mit Gelenkschmerzen selbst nach mehreren Wochen oder sogar Jahren möglich. Wenn der Arzt dann die Diagnose "Arthritis” stellt, wird oft nicht an daran gedacht, dass die Ursache für die Symptome in einer überstandenen Salmonellose liegen könnte.

Nipah, Hendra und BSE

Das Ausmerzen der früher weit verbreiteten Tuberkulose gilt als größter Triumph im Kampf gegen die Zoonosen. Während sich die Menschen vor 50 Jahren noch direkt über die Kuhmilch infizierten, geht die Erkrankung heutzutage in aller Regel vom Landwirt aus: Durch den Kontakt mit dem Tier kann er den Erreger übertragen und damit für die Rückkehr der Tuberkulose auf dem landwirtschaftlichen Betrieb sorgen.

Gegenwärtig stellen uns Epidemien wie BSE in Großbritannien und die möglicherweise damit verbundenen neuartigen Creutzfeldt-Jakob-Fälle vor neue Herausforderungen. Zu einer solchen könnte sich auch das Nipahvirus entwickeln, das derzeit die Hygieniker in Asien beschäftigt. Schon 1998 trat in zahlreichen malaysischen Schweinefarmen eine mysteriöse Infektion auf. Kurz darauf erkrankten über 200 Menschen an Enzephalitis, rund ein Drittel der Patienten verstarb. Ein Jahr später kam es unter Schlachthofarbeitern in Singapur zu elf Krankheitsfällen mit einem Toten: Die Arbeiter hatten mit Schweinen aus den malaysischen Epidemiegebieten Kontakt. Beide Ereignisse wurden vom gleichen und damals noch unbekannten Erreger verursacht, den man später nach einem der Dörfer benannte, in denen die Krankheit erstmals aufgetreten war.

Als Reservoir des Erregers werden Fledermauskolonien angesehen, die in der Nähe der Ställe siedelten. Außer in Schweinen wurden Antikörper gegen das Nipahvirus auch in anderen Haus- und Wildtieren nachgewiesen wie beispielsweise in Hunden, Katzen und Pferden. Nachdem die gesamten Schweinebestände in den betroffenen Gebieten gekeult waren, traten keine neuen Krankheitsfälle mehr auf. Da sich nur Landwirte, Veterinäre und das Personal, das mit der Keulung der Schweine betraut war, infizierten, gelten diese Tiere als wahrscheinlichste Quelle der Humaninfektionen. Eine Übertragung durch tierische Lebensmittel auf Menschen oder von Mensch zu Mensch konnte bisher nicht beobachtet werden.

Das Hendravirus, im Jahre 1994 in der gleichnamigen australischen Stadt entdeckt, ist ein naher Verwandter des Nipahvirus. Zunächst erkrankten und starben nur Pferde an der neuartigen Infektion. Mit zeitlicher Verzögerung traten auch bei den Tierpflegern ähnliche Symptome auf. In schweren Fällen entwickelte sich eine Enzephalitis, die zum Tode führte. Als natürliches Reservoir der Hendraviren nimmt man ebenfalls Fledermäuse an, die in Australien, Südostasien und einigen Pazifikinseln verbreitet sind. Die Erkrankung könnte über ihre Fäkalien weitergegeben werden, die entweder Weiden oder Stallfutter kontaminieren. Mit der Tatsache, dass Fledermäuse oftmals enorme Strecken zurücklegen, glaubt man die sehr weit auseinander liegenden Infektionsherde erklären zu können. Obwohl Mitglieder dieser Virus-Gruppe bislang nur wenige lokale Ausbrüche verursacht haben, ist ihre biologische Potenz nicht zu unterschätzen, da sie viele Wirte befallen können und beim Menschen zu einer hohen Mortalität führen.

Verhängnisvoller Katzenbraten

Während die Todesfälle durch Nipah- und Hendra-Viren von unseren Medien weitgehend unbeachtet blieben, fand eine andere Zoonose aus China ungeteilte Aufmerksamkeit: SARS (Severe Acute Respiratory Syndrome, deutsch: schweres akutes Atemwegssyndrom). Sie ist ein Beispiel dafür, wie schnell sich Seuchen im Rahmen des globalen Austausches auf andere Kontinente ausbreiten können, insbesondere wenn sie auch von Mensch zu Mensch übertragen werden. Bislang erkrankten an SARS nahezu 10 000 Personen. Als Ursache wurde eine teure chinesische Delikatesse vermutet: Zibetkatzen-Schmorbraten. Den entscheidenden Tipp erhielten die Experten vom ersten SARS-Patienten, dem Chefkoch eines Spezialitäten-Restaurants in Shenzhen. Später ließ sich der Erreger in den Fäzes jener Zibetkatzen nachweisen, die in der betroffenen Region Guandong gemästet werden. Die Katzen schätzt man nicht nur wegen ihres Fleisches, sondern auch wegen ihres Fells und insbesondere wegen ihrer Analdrüsen. Letztere enthalten ein fettiges gelbliches Sekret, das einen wichtigen Rohstoff für die Parfümherstellung darstellt. Die Tiere scheiden das Virus zwar aus, erkranken aber nicht selbst.

Parasitenparadies durch Agrarwende

Doch nicht nur im fernen Asien erwarten den kulinarischen Globetrotter neue Gefahren: Auch hierzulande gedeihen viele Erreger, die sich zu einem ernsthaften Risiko entwickeln können. Einen wichtigen Faktor bei der Verbreitung von Krankheiten stellt die Art dar, wie Nutztiere gehalten werden. Schon lange ist bekannt, dass sich in der Massentierhaltung Erreger schnell ausbreiten können, was eine intensive tiermedinzinische Überwachung der Bestände erforderlich macht. Deshalb gilt vielen Verbrauchern die Agrarwende als Lösung: Sie glauben, dass die Tiere dank Freilandhaltung nicht nur aus ihren "Gefängnissen” befreit werden, sondern auch gesünder aufwachsen können. Doch Krankheitserreger beschränken sich keineswegs auf Schweine- und Hühnerställe, sondern finden überall Wege zur Verbreitung – insbesondere in freier Wildbahn, dem ursprünglichen Habitat aller Keime und Parasiten.

In der Tat wechseln die Erregerspektren je nach Haltungssystem. Während bei der Käfighaltung von Geflügel ein Fließband den Kot kontinuierlich abtransportiert, bringt es die Freilandhaltung mit sich, dass die Hennen bei der Futtersuche in den eigenen Fäkalien scharren – ideale Verbreitungsbedingungen für Parasiten. Bakterien und Viren wiederum haben es schwerer, weil sie zum Teil durch die UV-Strahlung der Sonne abgetötet werden. Insofern hat die Agrarwende in der Geflügelhaltung zum Wiederaufflackern mehrerer Seuchen (zum Beispiel der Geflügelpest), die zu Zeiten der Stallhaltung so gut wie ausgemerzt galten. Besonders problematisch ist es, dass sich Seuchen im Freiland kaum kontrollieren lassen. Einmal eingeschleppt, pendeln sie zwischen Tauben, Krähen, Spatzen und Hühnern. Das Futterangebot außerhalb des Stalles lockt darüber hinaus Ratten und Mäuse an, die weiteren Krankheitserregern als Vehikel dienen können.

In China bemühen sich Hygieniker darum, der kleinbäuerlichen Landwirtschaft ein wenig von jener Vielfalt zu nehmen, die in Deutschland seit der Agrarwende als ökologisches Ideal gehandelt wird. Damit wollen sie die Gefahr globaler Grippeepidemien bannen. Influenza-Viren gelangen von ihrem natürlichen Reservoir, den Wasservögeln, leicht auf Hausgeflügel und von dort auf Schweine. Im Gegensatz zu den klassischen Zoonosen müssen sie ihre genetischen Merkmale verändern, um sich neuen Wirten anzupassen. Das geschieht, indem zwei verschiedene Grippeviren gleichzeitig eine Zelle infizieren und bei ihrer Vermehrung in der Zelle hybridisieren, das heißt Mischformen bilden. Der Austausch zwischen Vogelgrippe-Viren und menschlichen Grippeviren findet in Schweinen statt. So entstehen nicht nur die alljährlichen lokalen Grippeepidemien, sondern auch die Seuchenzüge besonders pathogener Stämme. Eine solche Grippeepidemie forderte 1918 mehr Todesopfer als der 1. Weltkrieg. Fachleute empfehlen deshalb zur Unterbrechung der Infektionskette bei der Tierproduktion, Schweine nicht zusammen mit Geflügel zu halten.

Auszug aus: Ruhe vor dem Sturm, von Anna Lam. Erschienen im EU.L.E.n-Spiegel, Wissenschaftlicher Informationsdienst des Europäischen Institutes für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften e.V.